Kein regelmäßiger Spiegel-Leser, war ich überrascht, als mir die Nummer 45/2024 in die Hände fiel und ich feststellen konnte, daß der Spiegel endlich politisch korrekt geworden ist. Nun ist also die unselige Epoche des zu seinen Vätern versammelten Gründers und Leiters des Blattes, Rudolf Augstein, endgültig vorbei.
Man erinnere sich, ehedem war das Magazin wegen seiner notorischen Häme berühmt und berüchtigt. Das Blatt hat alle Personen und Ereignisse in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur mit größtem Mißtrauen betrachtet und manchen Skandal mit Spürsinn und Leidenschaft, ohne jeden Respekt aufgedeckt und angeprangert. Der Spiegel war das Leit- und Führungsblatt der damals noch vorhandenen Intellektuellen und der linksliberalen Wortführer der Öffentlichkeit, die alle aus Prinzip Nonkonformisten waren, d. h. entschiedene Kritiker der gemütlichen Gesellschaft der alten Bundesrepublik, die sich Abend für Abend vor dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu einer harmonischen Fernsehgemeinde zusammenfand. Der Spiegel war aus Prinzip radikal nonkonformistisch, eine Zeitschrift, der nichts und niemand heilig war.
Nun aber ist das Blatt konformistisch geworden, einverstanden und gleichgesinnt mit der Gemeinschaftsideologie der Politischen Korrektheit, einer unerbittlichen Doktrin der Sprachregelung und Sprachzensur, die keine Abweichung von den festgelegten Gesinnungsnormen duldet. Das aber ist der bedeutendste geistige Wandel, der hierzulande, in lobenswerter Nachahmung amerikanischer Sitten, fälschlich Servilität genannt, stattgefunden hat, daß sich alle Medienleute und auch der Restbestand der Intellektuellen diesem Konformismus unterworfen haben. Ehedem war die intellektuelle Abweichung Mode, heute ist Konsens zum Glück die geistige Einstellung der Publizisten, während das gemeine Volk auf die politische Korrektheit wohl pfeift.
Dazu bekennt sich nun auch der Spiegel in einem Leitartikel von Markus Feldenkirchen, leider aber mit Argumenten, die nicht stichhaltig und begründet sind. Es geht darum, ob man heute noch das Wort „Indianer“ verwenden darf. Die Stiftung Humboldt Forum hatte entschieden, das Wort „Oberindianer“ in einem Song von Udo Lindenberg zu streichen, mit folgender Begründung: „Das Wort werde heute von indigenen Menschen und von vielen Besuchern als diskriminierend und rassistisch wahrgenommen.“ Der Spiegel-Redakteur hat dieser Begründung zugestimmt und messerscharf geschlossen: „Es gibt kein Grundrecht aufs ‚Indianer‘-Sagen. Aber es gibt, im Idealfall, einen inneren Appell zur Mitmenschlichkeit und zum Respekt.“
Dazu muß man leider sagen, daß diese Statements mehrere Fehler und Falschinformationen enthalten. Falschinformationen aber sind kläglicherweise das neueste Merkmal des Spiegels.
1. Die Indianer sind keine „indigene Menschen“, sie sind nicht Ureinwohner Amerikas, sondern aus Asien über die Beringstraße eingewandert, viele Jahrhunderte vor den europäischen Einwanderern, und die verwandten Stämme nennen sich seit mindestens zwei Jahrhunderten selbst „Indianer“. Ihr politischer Verband heißt heute „american indians“.
2. Sie fühlen sich gewiß nicht diskriminiert, wenn man in old Germany von „Indianern“ spricht. Übrigens hat ihr deutscher Fürsprecher in der Literatur ihren Namen zu einem Ehrentitel gemacht und in Winnetou einen roten Gentleman voller Sympathie porträtiert. Aber die Lektüre Karl Mays scheint nicht mehr bei den Spiegel-Journalisten und jenen Stiftungsleuten in Übung zu sein.
3. Man kann den Widerspruch nicht verschweigen, daß die Stiftung, die den "Oberindianer" verbietet, nach Alexander von Humboldt genannt ist, der die indianische Bevölkerung Lateinamerikas erforscht und beschrieben hat. Wird man nun auch die indianischen Bezeichnungen in seinen Schriften streichen? Und wie soll man die „Indianersprachen“ nennen?
4. Leider herrscht bei diesen politisch Korrekten ein Mißverständnis, was die Selbstbezeichnung der farbigen Minderheiten in Amerika angeht. Sie wissen nicht, daß das Wort „Neger“ nicht an sich von den Schwarzen verpönt ist – Martin Luther King, der Sprecher der Bürgerrechtsbewegung, hat es noch als Selbstbezeichnung verwendet. Das Wort wird nur deshalb heute von ihnen vermieden, weil es nicht zum Ausdruck bringt, daß die Schwarzen gleichberechtigte amerikanische Bürger sind. Deshalb nennen sie sich "Afroamerikaner" und die Indianer „american indians“, Amerikanische Indianer, – der Ton liegt in beiden Fällen auf "Amerikaner", nicht auf der Tabuisierung der anderen Namen. Die politisch Korrekten würden an Ansehen und Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie diese Information zur Kenntnis nehmen würden.
5. Laut Spiegel gibt es "kein Grundrecht aufs 'Indianer'-Sagen" — was falsch ist. Denn natürlich haben die Indianer das Recht, sich so zu nennen.
6. Der Gipfel des Schwachsinns ist mit der Behauptung erreicht, daß das Wort "Oberindianer" von vielen Besuchern als diskriminierend wahrgenommen werde. Seit wann muß man denn auf die Empfindlichkeit und die zartbesaiteten Seelen von Dummköpfen Rücksicht nehmen? Das geht entschieden zu weit.
7. Kant – für Leute, die die Schule geschwänzt haben: Kant war ein deutscher Philosoph – Kant also schrieb einmal, die Leute, die nicht denken können, nehmen ihre Zuflucht zum Gefühl. Leider trifft das auch auf den Leitartikler des Spiegel zu, der von einem „inneren Appell zur Mitmenschlichkeit“ spricht, gemeint ist ein Mitgefühl mit den Menschen, die sich durch „Indianer“ angeblich diskriminiert fühlen. Wie gesagt, fühlen sich aber die Indianer nicht herabgesetzt, wenn man sie so nennt. Im übrigen dürfte es den indianischen Völkern und Stämmen beider Amerikas egal sein, wie sie hierzulande, in einem kleinen Fleck Alteuropas, genannt werden. Der Spiegel-Mann hat es sicher gut gemeint, wenn er sich auf sein Gewissen beruft. Freilich scheint es noch einigen Informationsbedarf zu haben. Das ist nämlich das Gute am Gewissen, daß es sich bilden und verbessern läßt.
8. Kant war übrigens kein Konformist. Er meinte vielmehr, der Mensch sollte es wagen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Hinter der Politischen Korrektheit aber steckt die Meinung, daß die Menschen in sprachlicher Hinsicht und gesinnungsmäßig bestimmter Anweisungen und Belehrungen bedürften und nicht selbst entscheiden könnten, wie sie sprechen sollen. Diese guten Leute wollen den Menschen die Mühe des Denkens abnehmen. Das verstehen sie unter Mitmenschlichkeit. Ich muß mit Büchner aber leider sagen, daß sich die Kategorien hier in schändlicher Verwirrung befinden. Was diese Zeitgenossen unter Mitmenschlichkeit verstehen, ist ja nichts anderes als Bevormundung.
9. Um das Thema abzuschließen, die unglaubliche Ignoranz der politisch-korrekten Stiftungsleuten und des ihnen beipflichtenden Spiegel-Mannes zeigt sich im folgenden: sie beachten nicht, daß die Amerikaner im Traum nicht daran denken, den Namen von "Indianapolis", deutsch: Indianische Stadt, oder von "Indiana", ein Bundesstaat, zu ändern. Diese Tatsache allein hätte doch diese Leute belehren können, daß der angeblich diskriminierende Wortgebrauch von "Indianer" ein von ihnen selbst erfundenes Scheinproblem ist. Das gleiche gilt von "indiansummer" und ähnlichen Wörtern.
Es bleibt ein Rätsel, wie Menschen so wenig Verstand haben können wie diese Zeitgenossen, und es ist einfach unerträglich, daß solche Geistesgrößen, Musterexemplare der Halbbildung, die öffentliche Meinung beherrschen können.
Im übrigen aber kann man den Spiegel nur loben, daß er seine alte zynische Schreibweise abgelegt hat und nun mit einiger Konsequenz, wo es möglich ist, die männlichen und die weiblichen Ausdrücke benutzt: Redakteure und Redakteurinnen, Spiegel-Journalistinnen und -Journalisten, Bürgerinnen und Bürger. Es ist sogar von einem „Ministerinnenamt“ die Rede. Dazu wäre zu sagen, daß dieser Wortgebrauch zwei altehrwürdigen Stilregeln oder Spracheinsichten souverän spottet.
Der Spiegel ignoriert, daß man sprachtheoretisch zwischen dem grammatischen und natürlichen Geschlecht eines Wortes unterscheiden muß. Demnach braucht man nur dann das natürliche Geschlecht anzugeben, wenn unklar ist, ob Frauen oder Männer gemeint sind. „Der Bürger“, männliches grammatisches Geschlecht, bezeichnet Männer und Frauen; „die Person“, weibliches grammatisches Geschlecht, bezeichnet sowohl Frauen wie Männer – worüber sich noch kein Mann aufgeregt hat.
Die politisch korrekten Wortbenutzer wollen von solchen sprachtheoretischen Spitzfindigkeiten nichts wissen. Sie sind schlichten Gemüts, sie lieben die Einfachheit des Denkens, sie kennen nur das natürliche Geschlecht, das sie immer genannt wissen wollen. Die geschlechtsbetonte Redeform erinnert übrigens an mythisches Denken ehrwürdigen Angedenkens – was wohl diese ausgezeichneten Leute gewiß nicht beachtet haben (cf. , Lesen um zu leben . S.158ff.). Sie machen es einem wahrlich schwer, mit ihnen zu sympathisieren.
Zweitens widerspricht die feministische Verdopplung der Personennamen der bekannten Redemaxime der Kürze - die Ausführlichkeit aber scheint die vulgäre Verdächtigung zu bestätigen, daß Frauen immer das letzte Wort haben müssen. Immerhin ist bedenkenswert, daß heute bei aller Hetze des modernen Lebens in Rede und Text die Kürze mißachtet und die sprachliche Länge gefordert werden konnte.
Freilich gibt es auch Beispiele, wo diese feministischen Sprecher die Maxime der Kürze zu beachten scheinen. So bei der kuriosen Wortbildung "Parteivizinnen", die jedoch klingt wie geformt, um sich über die feministische Redemode lustig zu machen (Nr. 46/2024; S.22). Korrekt wäre "Vizevorsitzende der Partei". Richtig heißt es auf der gleichen Seite "die stellvertretende Fraktionsvorsitzende".
Kein Zweifel, der Spiegel ist brav und bieder geworden. Wer hätte das gedacht?
P.S.
Inzwischen habe ich herausgefunden, daß Rudolf Augstein schon 1953 den heutigen ideologischen Wandel des Spiegel vorausgesehen hat. Damals galt der Spiegel als das "Blatt des militanten Nonkonformismus". Dazu bemerkte Augstein, das könne sich ändern, wenn sich die Weltlage ändere: "Im Fall einer deutschen Wiedervereinigng beispielsweise, würde aus einem militanten Nonkonformismus bei uns wahrscheinlich zwangsläufig ein militanter Konformismus werden." (Augstein, Schreiben, was ist. Stuttgart 2003, 77) Doch ist schwer vorstellbar, daß Augstein sich dem Diktat der politischen Korrektheit gefügt hätte.