L’évadé (1936; Paris 2005), Der Ausbrecher, ist einer jener Romane Simenons, die eine dramatische Struktur haben. Ein zufälliges Ereignis löst eine Folge von Ereignissen aus, die den Helden bedrohen, und es ist die Frage, ob und auf welche Weise er der sicheren Katastrophe entkommen kann. Es handelt sich um einen Helden, eine undurchsichtige Figur, der von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt wird, und die Geschichte wird in der Hauptsache aus seiner Perspektive erzählt, was der Erzählung eine etwas schleierhafte Atmosphäre gibt. In der Tat wird gelegentlich gefragt, was nun Wirklichkeit und wahr ist, die bürgerliche Gegenwart oder die bewegte Vergangenheit (S.51). Man möchte als Leser endlich klar sehen und ist gespannt, wie die Geschichte ausgeht.
J.P.G., Jean-Paul Guillaume, ist seit 18 Jahren Deutschlehrr an einem Gymnasium in La Rochelle. Er ist mit Jeanne verheiratet und hat zwei Kinder, Helene, die den Haushalt besorgt, und Antoine, ein Schuljunge.
Eines Morgens an einem Montag erscheint er etwas verspätet in der Schule und schüttelt einen Schüler kräftig, ihn bestrafend und seine Jacke aufreißend, eine gedankenlose Handlung. Als der Direktor ihn zur Rede stellt, zeigt er eine unerwartete Uninteressiertheit. Als er am Freitag den Unterricht wieder aufnimmt, steckt er in der Klasse gedankenlos eine Zigarette an. Der Direktor hat den Verdacht, daß er ein wenig verrückt sei (S.109). Das sonderbare Verhalten Guillaumes geht darauf zurück, daß er beim Gang zur Schule ein Schild gesehen hat, daß Mado als Maniküre angestellt sei.
Mado aber war seine Komplizin, die einst wie er mit einem Falschspieler zusammengearbeitet hat. Guillaume hieß eigentlich Georges Vaillant und hat als Zuhälter Mados einen ihrer Freier erschossen. Er wurde zu zehn Jahren Strafarbeit in Guyana verurteilt. Nach zwei Jahren konnte er Verbindung mit Mado aufnehmen, die ihm Geld schickte, um seine Flucht zu ermöglichen. Nach Frankreich zurückgekehrt, stiehlt er ihr zweitausend Francs. Er denkt jetzt daran, ihr die Summe zurückzugeben. Bei einer Begegnung erkennt Mado ihn nicht wieder und ihr jetziger Mann weist das Geld zurück.
Ein weiterer Zufall bringt es mit sich, daß bei einer Bridgepartie des Direktors mit dem Hauptmann der Gendarmerie und einem Sonderkommissar die Rede auf J.P.G. kommt, der angeblich aus Servans im Jura stammt. Der Kommissar kennt einen Inspektor, der ebenfalls aus Servans stammt. Als der Direktor mit dem Inspektor J.P.G. aufsucht, der gerade das Bett hütet, stellt sich heraus, daß er nicht der richtige Guillaume ist. Seine Frau weigert sich mit ihm zu sprechen, Helene verbindet zwar seine Fußwunde, sagt aber kein Wort über die Besucher. Nur Antoine teilt ihm brieflich mit, wer der unbekannte Mann war.
Am Sonntag, als alle in der Kirche sind, flüchtet J.P.G. per Bus und Bahn nach Paris. Er sucht Bébert den Italiener, der ihm seinerzeit die falschen Papiere besorgt hat. Er nennt sich nun M. Philippe und ist Direktor einer Tanzhalle. Als Guillaume ihn aufsucht, weigert er sich, ihm weiterzuhelfen, er läßt ihn vielmehr durch einen Polizisten überwachen. Der Direktor beobachtet Guillaume von der Galerie aus: „Dieser bemerkt ihn, zeigte ihm die Zunge und plötzlich, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, zog er seine Jacke aus, seine Weste, seine Hose, versuchte sein Hemd herunterzureißen.“ (S.197) Er wird überwältigt und nach draußen gebracht: „Er dachte an das lackierte Zimmer, das weiße Krankenhaus im großen Park, von Schatten und Sonne gesprengelt.“ (S.198) Er hat den ihm vielfach suggerierten Ausweg gewählt, den Verrückten zu spielen.
André Gide, Literaturkenner und Stilkritiker, schreibt über den Roman: „Seltsamer Versuch (aber dieses Mal nicht sehr geglückter) der Doppelbelichtung von Erinnerungen über den gegenwärtigen Zustand; das Vergangene siegt über das Gegenwärtige. Gehirn = Palimpsest.“ (zitiert bei Pierre Assouline, Simenon. 1992, 605)
Mit den beiden Metaphern der Doppelbelichtung und des Palimpsests hat Gide den Sinn des Romans genau getroffen. Denn die Erinnungen an die kriminelle Vergangenheit bestimmt das gegenwärtige Verhalten. Ein Palimpsest (wörtlich: das wieder Aufgekratzte) ist ein pergamentenes Schriftstück, in dem ein neuer Text über die Schicht eines abgekratzten Textes geschrieben ist. Das Gehirn als Palimpsest soll heißen, daß im Gehirn auf die Schicht der eingeschriebenen früheren Erlebnisse die Schicht der neuen Erlebnisse geschrieben wird – mit der Pointe, daß die früheren Informationen die neuen Informationen prägen und modellieren.
Insgesamt betrachtet, wird der Protagonist stärker durch sein früheres Leben bestimmt als durch seinen jetzigen Status als Familienvater, was für ihn keine große Bedeutung hat. Er und seine Frau haben sich nichts zu sagen, er verachtet Antoine und kann zu Helene keine emotionale Beziehung aufnehmen. Er hat sich innerlich, geistig und gefühlsmäßig, von seiner Familie vollkommen entfremdet. Als er im Schlafzimmer hört, wie sie eine Etage tiefer Messer und Gabel bewegen, fragt er sich: „Aber was haben sie gelebt? Was wissen sie von der Existenz?“ (S.172).
Schließlich bricht er mit seiner gegenwärtigen Situation, indem er sich den Schnurrbart abrasiert – mit der Wirkung, daß er sich kaum wiedererkennt: „Er war darüber verblüfft, zögernd sich wiederzuerkennen. Er war es und er war es nicht mehr. Die Augen waren vergeblich dieselben, sie hatten einen anderen Ausdruck …“ (S.148).
Sein Unglück besteht darin, daß er, die frühere Existenz- und Denkweise eines Kriminellen wiederaufnehmend, in einer veränderten Welt, wo die alten Komplizen angesehene Geschäftsleute geworden sind, keinen Erfolg haben kann und sozusagen notwendig scheitern muß.
Er wählt den Ausweg einer Simulation und handelt wie ein Verrückter, ganz so wie der Direktor und sein Arzt es unterstellt hatten. Simenon hat dieses Handlungsmotiv, ein Ausweg der Verlegenheit, in dem späteren Roman, das Profil eines Mörders zeichnend, Die Zeit von Anais (1950) wieder aufgegriffen und nach allen Regeln der psychologischen Kunst ausführlich besprochen. (, Leidenschaft im Werk Simenons, S.183f.).
Schließlich findet man auch in diesem Roman eine jener kosmischen Ausblicke, die Simenon so sehr schätzt und die seiner Geschichte eine Dimension verleihen, die über die Alltagssphäre „unendlich“ weit hinausgeht. Es heißt von Guillaume, im Bett liegend, ohne Lust zu lesen oder zu denken: „Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den breiten Streifen der Sonne, der das Zimmer durchschnitt und in dem sich Millionen Staubkörnchen bewegten, die ebenso Sterne sein könnten, in das Unendliche geworfen.“ (S.144)
Es ist keine Frage, daß dieser Ausblick die gegenwärtige Szene mit ihren Sorgen und Problemen auf ein bescheidenes Maß zurückführt, ihnen gleichsam ihre scheinbar große Wichtigkeit nimmt. Ein Gedanke, der eher an den Leser als den zwielichtigen Helden gerichtet ist.
J.Q. — 12. Juli 2025