Viel erfahren hat der Mensch,
Der Himmlischen viele genannt,
Seit ein Gespräch wir sind
und hören können von einander.
Beim Wiederlesen des Romans hat sich bestätigt, daß das Beste an dem Roman seine Gespräche sind. Das ist natürlich keine neue Entdeckung, sondern allbekannt, immer schon gesehen und vielfach besprochen, auch von Fontane selbst, der natürlich wußte, daß darin seine Stärke bestand: „Ich bin – auch darin meine französische Abstammung verratend – im Sprechen wie im Schreiben ein Causeur (Plauderer); aber weil ich vor allem ein Künstler bin, weiß ich genau, wo die geistreiche Causerie hingehört und wo nicht.“ (zit. bei Thomas Mann, Leiden und Größe der Meister. 1982, 631f.).
Ich weiß aber nicht, ob man wirklich den Sinn der Gesprächsform oder des Gesprächs als Gattung der Rede im Roman ganz erfaßt und ausgelotet hat, und ich weiß nicht, ob man gesehen hat, daß die Katastrophe der Geschichte, die im Roman erzählt wird, formal mit der Art des Gesprächs zusammenhängt, die hier zu finden ist.
So will ich in dieser Anmerkung den Begriff des Gesprächs ein wenig erhellen. Man führt Gespräche, um einander zu verstehen, oder anders gesagt, Verstehen hat, nach dem unübertroffenen Standardwerk von Hans Georg Gadamer, die Struktur eines Gesprächs (Wahrheit und Methode 1965, 360ff.). Verstehen bedeutet, sich mit jemand im Medium der Sprache in einer Sache verständigen. Das verständnisvolle Gespräch setzt also die folgenden Bedingungen voraus:
– Man muß dieselbe Sprache sprechen wie der Gesprächspartner,
– man muß den Partner als gleichwertig anerkennen,
– man setzt voraus, daß er die Wahrheit sagt,
- man nimmt an, daß der Partner einem etwas zu sagen hat,
– man will sich in einer Sache verständigen, über eine Frage einig werden. Gadamer hat dieses Wesensmerkmal des Verstehens energisch betont, weil es meistens übersehen wurde, was sich bis heute nicht geändert hat.
Als selbstverständlich wird dazu noch angenommen, daß in dem Gespräch oder auf das Gespräch kein Druck ausgeübt wird, es sich also um einen herrschaftsfreien Diskurs handelt, wie Jürgen Habermas es später ausdrückt.
Dagegen gibt es Arten des Gesprächs, die nicht echt sind. Daß Prüfungsgespräche und Arztgespräche Pseudogespräche sind, leuchtet unmittelbar ein. Die Partner dieser Gespräche sind nicht gleichrangig. Der Arzt will etwas über den Patienten erfahren, ebenso der Prüfer über den Kandidaten – Arzt und Prüfer geht es nicht darum, gemeinsam eine sachliche Wahrheit zu ermitteln, sondern den körperlichen Zustand des Partners zu testen oder seine geistigen Fähigkeiten zu ermitteln.
Unergiebig und oft nur peinlich sind jene gutgemeinten Gespräche, die zu dem einzigen Zweck geführt werden, um sich persönlich kennen zu lernen. Hier wird übersehen, daß es beim Verstehen darum geht, sich in einer Sache zu verständigen.
So lernt man sich am besten kennen, wenn man eine gemeinsame Aufgabe zu erledigen hat, irgendeine Arbeit, eine Reise, sogar ein Spiel oder wenn man einen Sport gemeinsam treibt – überaus aufschlußreich ist in dieser Hinsicht bekanntlich Bergsteigen. Die Seilschaft am Berg ist übrigens – in der Diskursethik von Karl-Otto Apel – das Paradigma für die gegenseitige Verantwortung der Menschen (cf. , Über das Ethos von Intellektuellen S.182.). Die persönliche Bekanntschaft ergibt sich in den genannten Situationen sozusagen indirekt, aber durchaus sicher und unbezweifelt.
Es gibt viele Arten des echten Gesprächs, sachliche Unterredungen, Verhandlungen, wissenschaftliche Diskussionen, Fachgespräche, Streitgespräche. Das kultivierte Gespräch aber besteht darin, daß man gerade über bestimmte Sachen redet, ohne ein spezielles Fachwissen vorauszusetzen. Es ist ein Dialog unter gleichberechtigten und gleich gebildeten Partnern, ein urbaner, allgemein verständlicher Austausch von Gedanken.
Was die Sprache angeht, so ist das in Effi Briest bevorzugte Gespräch eine Verbindung zwischen Umgangssprache und spruchhafter Rede, urban gebildet, aber nicht durch Gelehrtheit und Fachwissen belastet, oft moderne Wendungen gebrauchend. Nicht zu vergessen ist, daß wir es hier natürlich mit schriftlicher Rede zu tun haben und nicht mit mündlich gesprochener Rede. Es sind sprachlich durchgeformte Texte, keine Aufzeichnung mündlicher Äußerungen.
Sehr häufig sind Sprichwörter, schon auf den ersten Seiten: „Hochmut kommt vor dem Fall“, „Stille Wasser sind tief“, „Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, …“, „Wo Liebe ist, ist auch Gegenliebe“, „Gott sieht ins Herz“ (Th. Fontane, Effi Briest, Die Poggenpuhls. München 1969, 11;16;43;123;135).
Ein Beispiel für moderne Umgangssprache ist die Antwort Wüllersdorfs, des Kollegen von Instetten, auf den Brief einer Dienerin: „Die ist uns über“ (S.292). Der Landrat Geert von Instetten ist Effis Mann.
Was nun das Niveau des kultivierten Gesprächs angeht, so wird der alte Briest von seiner Frau zurechtgewiesen, wenn er anfängt zu philosophieren: „Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst … nimm es mir nicht übel, Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten Verstand, aber du kannst doch nicht an solche Fragen …“. Und er antwortet mit der klassisch gewordenen Sentenz: „Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“ (S.301) Das Schlußwort des Romans.
Der geniale Einfall des Romans besteht in formaler Hinsicht nun darin, daß die Form der Gespräche, die Effi und ihr Mann, Instetten, führen, gleichsam den Keim der Katastrophe schon in sich birgt. Es sind nämlich keine gleichwertigen Gespräche, vielmehr behandelt Instetten seine junge Frau nicht als geistig ebenbürtigen Partner. Dieser Aspekt wird schon durch die Art der Hochzeitsreise angedeutet, die eine reine Bildungsreise des kunstbessenen Mannes ist, für Effi aber die reine Langeweile.
Instetten gibt sich Effi gegenüber als Erzieher, und die Pointe ist, daß Major Crampas Effi diese Eigenart Instettens mitteilt – eine informative Gefälligkeit, die zur Folge hat, daß sie mit Crampas ein Verhältnis anfängt. Die formale Eigenart des Gesprächs ist der Ausdruck eines psychologischen Tatbestandes. Die ehelichen Gespräche sind Pseudogespräche.
Was die Differenz von Instettens Alter und ihrer Jugend angeht - er ist über 40 Jahre alt, sie ist 17 Jahre alt - so erklärt Effi schon anfangs ganz entschieden: „Ich bin für gleich und gleich“ und sie äußert offen ihren Wunsch nach Glanz und Zerstreuung, was ihr dann so sehr fehlen wird (S.32). Instetten gesteht dann, daß sie nach seiner Ansicht vor der Geburt ihres Mädchens ein Kind gewesen sei, ohne allerdings seine Überlegenheit nun aufzugeben (S.125). Es heißt, er halte gerne „seine kleinen moralischen Vorträge“ (S.132).
Dagegen wird Crampas ausdrücklich als „guter Causeur“ bezeichnet was Effi gut gefällt, um das mindeste zu sagen, und er ist es, der ihr erzählt, daß Instetten sie auf irgendeine Weise erziehen wolle: „Er operiert nämlich immer erzieherisch, ist der geborene Pädagog, und hätte, links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch kirchlicher als beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepaßt“ (S.133; 136). Eine Anspielung darauf, daß in jener Stadt eine christliche Erziehungsanstalt ist und in Bunzlau eine Herrnhutterschule.
Landrat Instetten führt echte Gespräche praktisch nur mit seinem Kollegen Geheimrat Wüllersdorf, so die berühmte Unterhaltung über die Frage, ob er Crampas zu einem Duell fordern müsse. Er bejaht die Frage bekanntlich aus Achtung vor der gesellschaftlichen Konvention (S.237f.; cf. 291f.). Am Ende, nach der Tötung Crampas’ und der Trennung von Effi, gesteht er sein „Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes ist“, und erkennt, daß sein Leben „verpfuscht“ ist (S.292)
Der Roman beginnt – im krassen Gegensatz zu der gefälligen Prosa der Gespräche – mit einem wahren Satzungetüm, das eine Szene mit Gebäuden schildert, aber seinen Zweck völlig verfehlt.
Erich von Kahler hat an diesem Beispiel gezeigt, daß die Anschaulichkeit der Schilderung nicht auf der genauen Beschreibung eines Gegenstandes beruht, sondern in dem Rhythmus der Prosa. Zum Anfang von Effi Briest schreibt er: „Dies ist eine photographisch genaue Beschreibung einer Lokalität, die trotz oder wegen ihrer Minutiösität in unserer Vorstellung nicht anlangt. Sie ermangelt jeglicher Bildhaftigkeit. Das liegt daran, daß sie mit überflüssigen oder lediglich gewußten Details angestopft ist, ohne einen unmittelbaren Blick für das Ganze der Szene und ohne ein Gefühl für den rhythmischen Fall der Prosa, der die Proportionen, die Bedeutung der Einzelheiten für das Ganze aufteilt.“ (Erich von Kahler, Untergang und Übergang. 1970, 208)
Es ist verwunderlich, daß Fontane hier das rhythmische Moment der Prosa völlig außer acht läßt, das er als Balladendichter doch meisterhaft beherrscht. Kahler war übrigens der erste Literaturtheoretiker, der den Zusammenhang von Rhythmus und Anschaulichkeit in der Beschreibung entdeckt und diskutiert hat.
Dem muß man aber hinzufügen, daß Günter Grass in Ein weites Feld (1995) aufgezeigt hat, daß Fontane ein Dichter der impressionistischen Kunstepoche war und seine Schilderungen den impressionistischen Blick auf eine urbanisierte Natur verraten (cf. , Lesen um zu leben S.133.).
Ich habe übrigens den Gedanken Kahlers aufgegriffen und an der Prosa A. Döblins, die durchweg rhythmisch gegliedert ist, überprüft. Ebenfalls Meister der rhythmisch akzentuierten Prosa sind bekanntlich G. Flaubert und L. Tolstoi (cf. , Geschichtsroman und Geschichtskritik S.54f.).
Die Gesellschaftskritik des Romans ist offensichtlich, sie braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Kritisiert wird der wilhelminische Obrigkeitsstaat, der Fimmel des militärischen Ehrenkodex, die heuchlerische gesellschaftliche Konvention, die Diskriminierung der geschiedenen Ehefrauen, die zur Armut verurteilt sind, ebenso die Ächtung unehelicher Mütter, das soziale Elend der Dienstboten – Mißstände, die teilweise erst in den 1970er Jahren behoben wurden.
Schließlich besteht ein Vorzug dieses Romans darin, daß er wie wenige andere Romane tatsächlich eine humanisierende gesellschaftliche Wirkung ausgeübt hat. Ernst Jünger berichtet von einer Begegnung mit dem alten Kapitän Hartwig, Seekadett von 1905. Sie sprachen über Effi Briest: „Der Roman war 1895 erschienen; er wurde von den jungen Offizieren viel gelesen und übte auf ihre Auffassung in Ehrenfragen eine mildernde Wirkung aus. Das wäre ein Beispiel für den fast unmerklichen Einfluß von Kunstwerken, ihre Veränderungen nicht durch Einsturz, sondern durch Einsickern, durch Erosion.“ (Siebzig verweht I, 11. Juni 1968).
Die These dieser begrifflichen Anmerkung aber war, daß das Unglück dieser Geschichte davon herrührt, daß in entscheidenden Momenten des Geschehens keine echten, sondern Pseudogespräche geführt werden.