Josef Quack

Soziale Schranken
“Das Überschreiten der Linie” (Simenon)




Simenon ist als Romancier in erster Linie Erzähler. So haben wir gesehen, daß der Text von Le Blanc à lunettes reine Erzählung ist. Simenon schreibt gewöhnlich keine essayistischen Romane wie Marcel Proust oder Robert Musil, und seine Romane werden gewöhnlich von einem objektiven Erzähler oder aus der Perspektive einer Person in der Er-Form geschrieben. Le passage de la ligne (1958; Paris 1979), Das Überschreiten der Linie, ist in beiden Hinsichten eine Ausnahme, nämlich eine Ich-Erzählung mit zahlreichen essayistischen Einlagen, Reflexionen und Beobachtungen über die gesellschaftlichen Zustände im Frankreich der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Steve Adams erzählt mit 50 Jahren, d.h. 1958, seine Lebensgeschichte. Er ist der Sohn einer französischen Kellnerin und eines englischen Angestellten einer Schiffahrtsgesellschaft. Da seine Mutter nicht nach England ziehen will, lassen seine Eltern sich bald scheiden. Steve wächst bei seinen Großeltern in dem normannischen Dorf Saint-Saturin auf, in einer Hütte mit zwei Räumen, einer Haustür im Stil einer Stalltür, wo der obere Teil immer geöffnet ist, um Licht in das dunkle Innere einzulassen. Steve stammt von der untersten Stufe der sozialen Leiter ab (S.10). Sein Großvater ist Tagelöhner, Trinker mit patriarchalischen Allüren, der Herr der armen Familie, bis er sich schließlich aufhängt. Er hat fünf Töchter und einen Sohn. Die Töchter gehen mit vierzehn Jahren in die nahen Städte, um dort eine Dienststelle anzunehmen; ihr Traum ist, selbst einmal ein Geschäft oder ein Café zu besitzen. Steves Tante Louise betreut ihn als Kleinkind und kann ihren Lebenstraum als Frau eines Bäckers auch verwirklichen.

Steve kommt aufs Gymnasium und später in ein Internat in Niort, nahe La Rochelle, wo seine Mutter den Haushalt eines Richters führt. Als er stirbt, streitet sie mit dessen Neffen jahrelang um das Erbe. Die großen Ferien verbringt Steve öfter bei seinem Vater in England. Die Erziehung zum Gentleman beeindruckt ihn weniger als das naturwüchsige Verhalten seiner Großeltern. Eine Ohrfeige, im Zorn gegeben, hält er für humaner als die leidenschaftslose Ausführung der Prügelstrafe. Die englische Lebensart ist durch den Grundsatz geprägt, daß man zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht gehören muß: to belong (S.34).

Als ihm klarwird , daß er das Abitur nicht bestehen werde, fährt er grußlos nach Paris, um endlich den Mauern des Internats zu entkommen. Er arbeitet als Lieferant und Auslieferer von Waren und Sendungen in den Straßen der Metropole, begierig, das wirkliche Leben kennenzulernen, die großstädtischen Vergnügungen und die engen, mühsamen Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Er lernt zufällig Pilar kennen, eine junge Spanierin und erlebt mit ihr eine Phase heftiger Leidenschaft. Ohne Stellung wird er in einer Bar von Alvin Haags angesprochen, einem Juwelendieb. Er wird sein Helfer und Kundschafter, der in teuren Hotels das täglichen Leben reicher Frauen beobachtet, die Haags dann bei günstiger Gelegenheit ausraubt: „Es war Alvin Haags, der mein Führer sein würde, und mit ihm mußte ich, zum ersten Mal, die Linie auf Schleichwegen überschreiten“ (S.134). Er arbeitet zweieinhalb Jahre für Haags, bis die Polizei ihn vor Haags warnt und dieser nach Brüssel verschwindet.

Wenig später wird Steve durch die Vermittlung eines Barmanns Privatsekretär bei Frau D., einer der reichsten Frauen des Landes, Besitzerin mehrerer Firmen und Schlösser. Er lernt die zwanzig wichtigsten Personen kennen, die das wirtschaftliche und finanzielle Geschick des Landes tatsächlich bestimmen. Bei Kriegsbeginn emigriert Frau D. nach New York, Steve dient als Krankenpfleger auf einem englischen Schiff.

Nach dem Krieg kehrt er, 37 Jahre alt, nach Paris zurück, um auf eigene Kosten, auf die Erfahrungen der höchsten Geschäftswelt gestützt, eine Art Agentur der Öffentlichkeitsarbeit zu gründen, die fremde Firmen in den Markt einführt und ihnen die nötigen Beziehungen vermittelt: „Wie ich die Linie zum dritten Mal überquert habe, dieses Mal, endlich, allein, gesetzmäßig, mit eigenen Mitteln ist eine Geschichte, die mir einfach erscheint und die von meiner Seite kein Zug eines Genies erforderte.“ (S.179) Er geht eine Mesalliance ein, läßt sich scheiden und wird von seiner Frau durch Gerichte beläßtigt, ähnlich wie seine Mutter in Niort von den Verwandten des Richters. Steve zieht sich nach Hyères zurück, in einen Antiquitätenladen, und schreibt seine Geschichte, den vorliegenden Roman.

Es gehört zur Eigenart einer Ich-Erzählung, daß der Autor begründen muß, warum er sie überhaupt schreibt. So findet man zum Beispiel in jedem Tagebuch das Motiv angegeben, warum es geführt wird (J.Q., Das authentische Selbstbild, S.16f.). Dagegen bedarf eine Geschichte in der Er-Form keiner Begründung, warum sie geschildert wird. Dieses Umstands ist sich der Erzähler dieses Romans durchaus bewußt: „Den Grund, der mich zu schreiben bewegt, werden vielleicht andere entdecken. Ich will ihn nicht mehr suchen. Für mich ist es wie eine Flasche ins Meer werfen. Man sieht sie sich entfernen und, wenn sie verschwunden ist, kehrt man in seine Wüste zurück.“ (S.7) Dann erklärt er, seinem Bericht würde es nichts nützen, wenn er die peinlichen Erfahrungen auslassen würde (S.96). Schließlich heißt es: „Wenn ich ein besonnener Mann wäre, wenn ich nicht ein Bedürfnis befriedigen würde, würde ich nicht nur diesen Bericht nicht beenden, sondern die schon geschriebenen Seiten verbrennen, denn neue Entwicklungen werden sich ereignen und ich frage mich, ob man mich bis ans Ende gehen läßt“ (S.177) Der Bericht dient also auch als Rechtfertigung des Verhaltens des Autors.

Seine Gedanken kreisen hauptsächlich um die kastenartige Struktur oder Schichtung der Gesellschaft: „Die Welt ist zunächst in große Streifen geschnitten, die nicht immer zusammenfallen: die Rassen, die Religionen, die Nationen, ohne die politischen Gruppen zu zählen.“ Dann die Provinzen, Städte, Dörfer, Straßen usw. „Man könnte glauben, daß kraft der Unterteilung der Mensch sich allein in einem Fach befinden werde … Ich begann die Gewohnheit anzunehmen, von einem Fach ins andere überzugehen.“ Nicht willentlich oder nach Geschmack, sondern aus Gewohnheit. „Wenn ich als ein Fremder betrachtet wurde, wenn ich es wirklich war, dann aus einer gewissen Treue“ im Hinblick auf die verschiedenen Epochen seines Lebens (S.46).

Er weiß, daß die Einteilung der Menschen in gesellschaftliche Klassen und Fächer zweitrangige Konventionen sind, keine „natürlichen Einteilungen, sondern scheinhafte, in allen Teilen hergestellte Grenzen, jenen auferlegt, die sie sich gerne auferlegen lassen“ (S.113f.).

Man begegnet hier auch einem der charakteristischsten Leitmotive Simenons wieder, der „Leere“ (le vide), der Metapher für exitentielle Sinnlosigkeit, die Steve als Schüler in ratlosen Monaten erlebt, ohne zu begreifen, was sie bedeutet (S.78). Man begegnet auch dem Gegenteil dieser Erfahrung, der Schilderung des Glücks, das er sehr treffend mit impressionistischen Schilderungen vergleicht: „Ich nehme an, daß diese Erinnerungen die glücklichsten Augenblicke sind, Augenblicke, wo man, wie in der ersten Kindheit, sich unschuldig beeindrucken läßt von dem äußeren Leben“. Wenn er meint, daß das Glück schließlich nur „ein negativer Zustand“ sei, kommt er der Wahrheit Schopenhauers nahe, der das Glück als Abwesenheit von Schmerz definiert hat (S.157).

Im übrigen notiert Steve einzelne Erfahrungen, so daß Paris der Ort ist, wo ein alleinstehender Mensch am wenigsten unter der Einsamkeit leidet (S.104). Er hat gelernt, daß „das Leben des Soldaten keine Schule der Kameradschaft ist, sondern im Gegenteil eine Schule der Einsamkeit“ (S.177). Im Kreis der reichsten Leute des Landes hat er zu unterscheiden gelernt, was im großen Geschäft wirklich zählt und was nur eine sekundäre Bedeutung hat (S.172). Die wichtigsten Geschäfte werden oft nicht im Büro abgeschlossen, sondern bei geselligen Anlässen der mondänen Welt.

Meines Erachtens besteht das Verdienst dieses Romans in seinen sozialhistorischen Schilderungen, in dem Bericht über den harten Lebenskampf, der für Dienstmädchen mit vierzehn Jahren beginnt, und, im Kontrast dazu, der Beschreibung der mondänen Welt, dem verzweifelten Kampf der alternden Frauen und Männer gegen das Alter, die mondäne Welt verstanden als eine Kombination von teurem, aber scheinhaftem Glanz, angestrengtem Müßiggang und nüchternem Geschäft. Die Reflexionen des Romans sind durchaus des Nachdenkens wert, wenngleich sich die Erzählung der frühen Jahre ärmlichsten Lebens doch am stärksten einprägt.

Im übrigen bestätigt der Roman aufs schönste Simenons realistischen Grundsatz, daß ein Romancier erst dann bestimmte Milieus und gesellschaftliche Kreise glaubhaft schildern kann, wenn er sie selbst kennen gelernt hat.

J.Q. 20. Okt. 2025

© J.Quack


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