Josef Quack

Philosophie als Gespräch

Herbert Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen 4. Frankfurt 2004.


Metaphysik ist das Wort, wie abstrakt und beinahe auch das Denken das Wort ist, vor dem jeder, mehr oder minder, wie vor einem mit der Pest Behafteten davon läuft.

G.W.F.Hegel

Es gibt keine dem Philosophen erhältliche extrafeine Erkenntnissorte, die uns einen Standpunkt vermitteln kann, von dem sich die gesamte Alltagserkenntnis kritisieren läßt. Die bestmögliche Leistung ist, unsere gewöhnliche Erkenntnis durch eine interne Überprüfung zu untersuchen und zu läutern, unter Voraussetzung der Vorschriften, nach denen sie gewonnen werden.

B.Russell

Warum beschäftigen wir uns immer noch und immer wieder mit Platon, Descartes oder Kant, obwohl wir viele ihrer philosophischen Ansichten nicht mehr teilen könen? Weil diese Philosophen die klügsten Partner sind, die man sich für ein philosophisches Gespräch vorstellen kann. Das ist die Antwort, die Herbert Schnädelbach auf die Frage nach der Kontinuität und Lebendigkeit der philosophischen Tradition gibt.
Ähnliches ließe sich über ihn selbst und seine philosophische Arbeit sagen. Er ist eine exzellenter Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Gegenwart, ein gesuchter Redner auf philosophischen Tagungen und Kongressen. Sein Vorzug ist, daß er sich zuerst und vor allem um Verständlichkeit bemüht, wenn er sich zu Wort meldet. Nicht ohne Grund definiert er als primäre Bedeutung von Rationalität Verständlichkeit. Ich wüßte nicht, wen außer Ernst Tugendhat man ihm in dieser Hinsicht zur Seite stellen könnte.
Niemals vergessend, daß er zu Lesern oder Hörern spricht, befolgt er die Maxime, so klar wie möglich und so präzis wie nötig zu sein. Er ist sparsam mit Hinweisen auf die unübersehbare Sekundärliteratur und, wenn es sich nicht vermeiden läßt, die fachspezifische Terminologie zu verwenden, vergißt er selten, die Begriffe zu erläutern. Tatsächlich besteht ein Großteil seiner Arbeit in der kritischen Klärung und Bestimmung philosophischer Begriffe, gehört er doch zu den Denkern seiner Generation, die die Lektion der sprachanalytischen Philosophie von Grund auf gelernt haben. Darüber gibt der Titelaufsatz der neuen Sammlung, der die Entwicklung der analytischen Philosophie, ihre Grenzen und ihre bleibende Bedeutung beschreibt, den besten Aufschluß.
Was er als angesehener und produktiver Hochschullehrer, der bei Adorno und Habermas studiert, in Frankfurt, Hamburg und Berlin gelehrt hat, sich angelegen sein läßt, hat er bei seinen Lehrern, deren hegelianisierender Dialektik er in seinen ersten Arbeiten noch verpflichtet war, kaum lernen können. Schon in den frühen siebziger Jahren aber machte er sich daran, traditionelle Problemstellungen, wie die Frage der Reflexion, mit der Methode und und aus der Perspektive der analytischen Philosophie zu reformulieren, und wer wie ich als Hörer diese Phase seines Denkweges begleitet hat, kann bestätigen, daß er damals die Grundlage für die luzide Verständlichkeit seiner reifen Arbeiten legte.
Übrigens ist das Vorbild der analytischen Philosophie keineswegs die einzig mögliche Voraussetzung für klares, gut formuliertes Dozieren. Das Beispiel Alfred Schmidts, der die philosophischen Intentionen Max Horkheimers weiterverfolgte, zeigt, daß man auch einen überlieferten Denkstil pflegen und dennoch einsichtig und sogar elegant philosophisch schreiben kann. Dagegen sind die Adepten Adornos, die seinen Jargon nur nachahmten, alle mit der Zeit steril verstummt.
Wie dem aber sei, Schnädelbach kommt dem Ideal des philosophischen Lehrers in unserer Zeit so nahe wie nur möglich. Er hat einen Blick für das Wesentliche und verfügt über die seltene Gabe, unüberschaubare Problemfelder nach ihren Grundlinien gliedern und in straffen Überblicken darstellen zu können. Davon zeugt vor allem sein mit Recht gerühmtes Buch über die Philosophie in Deutschland 1831-1933, desgleichen seine Einführungen in die Philosophie, die Erkenntnistheorie und seine Kommentare zu Hegel. Aus dem vorliegenden Band wären die philosophischen Analysen zur Geschichte der Aufklärung zu nennen, aber auch die Abhandlung über Nietzsche und seine Auswirkungen auf die Metaphysik des 20. Jahrhunderts. Das Talent, eine Frage auf den Punkt bringen zu können, bewährt sich auch in den Überlegungen über den Konflikt zwischen Phänomenologie und sprachanalytischer Philosophie: "Machen die Sachverhalte die Sätze möglich oder die Sätze die Sachverhalte?" Daß er sich zum wiederholten Mal mit diesem Problem beschäftigt, erklärt sich daraus, daß es bei philosophischen Fragen meist keine Lösungen gibt, die alle Aspekte einer Sache betreffen, wohl aber begründete Antworten auf begrenzte Fragestellungen.
Nicht vergessen sollte man die unpathetische Sachlichkeit, die Verbindlichkeit seines Denk- und Vortragsstils, der sich nur selten zu polemischer Schärfe zuspitzt. So hier in dem Aufsatz über den neuen Star- und Meisterdenker Robert B.Brandom, dessen Expressive Vernunft als Meilensteil der neuesten Philosophie ausgegeben wurde. Schnädelbach unterzieht dessen sozialpragmatistischen Idealismus einer Kritik, die man bei aller Nüchternheit der Auseinandersetzung nur vernichtend nennen kann.
Dagegen spricht eine tiefe Enttäuschung aus der gründlichen Untersuchung des Geschichtsdenkens seines Lehrers Adorno, das auf den abstraktesten Geschichtsbegriff hinausläuft, der zugunsten der Gegenwartsdiagnose entleert ist. Mit Recht verweist er auf die Bedeutung, die die satirische Detailkritik eines Karl Kraus für Adorno erlangte, mit dessen Historismus aber Kraus nichts zu tun hatte (cf. J.Q. Karl Kraus). Doch geht Schnädelbach ein wenig zu weit, wenn er Adorno und seinem Konzept einer Unheilsgeschichte in dritter Potenz vorwirft, zur Entpolitisierung der westdeutschen Intellektuellen beigetragen zu haben. Dagegen läßt sich einwenden, daß viele Studenten gerade von Adorno lernten, die historisch gewordenen Gesellschaftsphänomene kritisch zu betrachten und nach politischen Alternativen zu suchen. Nicht zu übersehen ist, daß die Politisierung der Literatur sich ebenso von Adorno herschreibt wie die aufklärerische Pädagogik der Folgejahre. Es mag stimmen, daß die Kritik der Kulturindustrie auf ein großbürgerliches Ressentiment zurückgeht; wahr ist aber auch, daß Adorno, mag er auch kein Sensorium für die unverächtlichen Qualitäten einer unterhaltenden Literatur gehabt haben, doch viele desaströse Aspekte des Kulturbetriebs nur zu treffend beschrieben hat. Und daß sein Denken heute vergessen ist, hat seinen Grund eben in der fortgeschrittenen Geistlosigkeit des Betriebs, den er in einem vergleichsweise harmlosen Zustand kannte.
Von bedrückendster Aktualität ist etwa seine vielfach bestätigte These, daß in der spätkapitalistischen Gesellschaft die Arbeitnehmer durchweg als potentielle Arbeitslose behandelt werden. Und es müßte das erste Ziel einer sozial verantwortlichen Politik sein, diesen Mißstand zu beseitigen.
Die konstruktivste Arbeit des Bandes ist zweifellos der Aufsatz über die "Geschichte als kulturelle Evolution". Schnädelbach plädiert für ein analytisches, nicht-ontologisches Geschichtsdenken, demzufolge die Geschichte in der Historie narrativ konstituiert ist, und er beharrt darauf, daß es hier wesentlich auf die Unterscheidung von Natur und Kultur ankommt. Deshalb grenzt er die natürliche von der kulturellen Evolution ab:

Die kulturelle Evolution unterscheidet sich dadurch von der natürlichen, daß wir Menschen die prinzipielle Möglichkeit haben, die Evolutionsbedingungen Tradition, Variation und Selektion, denen wir wie alles Lebendige unterliegen, im Rahmen unserer wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten zu thematisieren und zu ihnen praktisch Stellung zu nehmen.

Daraus zieht er die wichtige Konsequenz, daß es nicht sinnvoll ist, von einer "Veranwortung für die Geschichte" zu sprechen, es aber sinnvoll sei, von einer "geschichtlichen Verantwortung" zu reden. Wir sind verantwortlich für die Handlungen, die in unserer Macht stehen, und für das Geschehen, das wir wissenschaftlich, technisch oder politisch beeinflußen können. Bemerkenswert ist, daß er diese Einstellung ‚analytischen Historismus' nennt, also einen Begriff, der gewöhnlich pejorative Konnotationen aufweist, im positiven Sinn verwendet.
Von entscheidender Bedeutung ist, daß er das wesentliche Merkmal der Kultur in ihrer Reflexivität sieht. Und Reflexivität bestimmt er nicht mittels der irreführenden Metapher der Spiegelung, sondern im Sinne von Tugendhat als Sichverhalten zum eigenen Verhalten, als die Fähigkeit, zum eigenen Verhalten Stellung zu nehmen. Damit ist zum Beispiel gegeben, daß wir eine bestimmte Tradition fortführen oder ignorieren können: beides ist unsere Entscheidung. Es ist vielleicht der zentralste Gedanken seiner Philosophie, denn was er unter Aufklärung oder Moderne versteht, die er fast als Synonyme betrachtet, bestimmt er im wesentlichen durch das Moment der Reflexivität. Dazu könnte man fragen, worin sich diese Phänomene noch spezifisch von Kultur im allgemeinen unterscheiden, wenn sie alle durch das Merkmal der Reflexivität gekennzeichnet sind und Aufklärung das "kritische Nachdenken über unsere Gedanken" ist.
Ohne weiteres leuchtet dagegen ein, was er zur philosophischen Tradition ausführt, für die auch das Vergessen typisch ist. Viele wertvolle Einsichten gehen verloren, weil bestimmte Denkrichtungen nicht fortgeführt werden. Ein gut Teil seiner philosophiegeschichtlichen Arbeiten verfolgt den Zweck, an das Vergessene zu erinnern, um den Zeitgenossen klarzumachen, daß sie oft weniger originell denken, als sie glauben. In dieser Hinsicht ist er von der hermeneutischen Philosophie nicht so weit entfernt, wie seine vehemente Kritik an der These der Wirkungsgeschichte vermuten läßt. Daß er in den klassischen Philosophen der Vergangenheit bedeutende Gesprächspartner sieht, heißt ja schließlich nichts anderes, als daß sie uns etwas zu sagen haben, was wir auf anderem Weg nicht erfahren würden. Das aber ist eine Grundüberzeugung der Hermeneutik Gadamerscher Provenienz. Mit ihr teilt er auch die Auffassung, daß die Philosophie auch ein Gespräch sein sollte. Freilich bevorzugt er einen nüchternen, unpathetischen und nicht-emphatischen Begriff des Gesprächs. Er grenzt es von dem idealisierten Dialog Platons ab, ebenso von dem anonymen und quasi automatisierten Diskurs Foucaults, hält er doch entschieden am Begriff des Subjekts der Erkenntnis fest, dessen Status er so beschreibt, daß er nicht den folgenschweren Fehler des Subjekt-Objekt-Modells des Wissens in Kauf nehmen muß.
Da nur Loben ein wenig unglaubwürdig ist, seien zum Schluß einige Fragen erwähnt, die offen geblieben sind. Ich frage mich, ob er die Bescheidenheit oder die Konzession an den philosophischen Zeitgeist nicht zu weit treibt, wenn er der Beobachtung zustimmt, daß heute nicht das opus magnum, sondern nur Papers von Philosophen erwartet werden, und er darauf verzichtet, das Buch über die Rationalität*, sein Lebensthema, zu schreiben. Es wäre schade. Eine periphere Abhängigkeit von modischen Denkmustern kann man auch darin erblicken, daß er bei Nietzsche einen ‚bürgerlichen Selbsthaß' konstatiert, ohne den Versuch zu machen, das psychologische Klischee zu destruieren.
Desgleichen bequemt er sich gelegentlich einem historizistischen Topos an, wenn er von der "metaphysischen Signatur unseres Zeitalters" spricht oder davon, ‚woran eine Epoche glaubt'. Offensichtlich verwendet er dergleichen problembeladene Ausdrücke oft nur als Abkürzungen für ‚herrschende Meinung' u.ä.; gelegentlich scheint es aber so, als verstehe er die Philosophie sans phrase als Ausdruck ihrer Zeit. Ein wenig zu gutgläubig ist seine Behauptung, die rücksichtslose Naturausbeutung sei ein Kennzeichen zurückgebliebener Volkswirtschaften — der Regenwald in Neuguinea und Brasilien wird aber nicht von den Einheimischen, sondern von internationalen Konzernen modernsten Formats rücksichtslos abgeholzt.
Gewiß ist auch die Meinung, Platonismus und Essentialismus seien heute passé, ein wenig zu leichtfertig der modischen Rhetorik nachgesprochen, als daß sie stimmen könnte. Es gibt auch heute noch Philosophen, die anderer Meinung sind und sich offen zu platonischen Einsichten bekennen. So Quine, der sonst nicht zu Unrecht als Vertreter des Behaviorismus gilt, zugleich aber behauptet, daß "der Nominalismus einem modernen wissenschaftlichen Weltsystem offensichtlich nicht adäquat" sei:

Heute wie einst bin ich ein Prädikat- und Klassen-Realist, ein eingefleischter Realist mit Bezug auf abstrakte Universalien. Ja, auch ein Extensionalist bin ich, und zwar aus Gründen, die mit Nominalismus nichts zu tun haben.**

Auch hätte Popper, der den Begriff des Essentialismus geprägt und die Sache als Abweg des Denkens beschrieben hat, einer der schärfsten Kritiker Platons, sein Konzept der Welt 3, der objektiv wirkenden geistigen Gehalte, niemals ohne das Vorbild Platons entwerfen können. Und wenn Schnädelbach die soziale Gerechtigkeit als Idee oder Ideal bezeichnet, redet er da nur platonisch oder denkt er nicht auch platonisch?
Ich habe Schnädelbach als vorzüglichen Lehrer beschrieben. Es impliziert, daß er ein Vertreter der Schulphilosophie ist. Doch ist damit nicht das ganze Feld des philosophischen Denkens beschrieben. Kant spricht daneben auch von einer Weltphilosophie und es hat immer Bestrebungen gegeben, die Nachteile schulmäßig organisierten und begrenzten Denkens auszugleichen oder zu korrigieren. Erinnert sei nur an die Lebensphilosophie oder den Existentialismus in seinen verschiedenen Gestalten oder an einen Autor wie E.M.Cioran, der für ein Denken steht, dessen ironische Pointe es ist, nichts lehren zu wollen (cf. J.Q. Cioran). Selbst Habermas hat jenes Manko erkannt, wenngleich mir seine weitere Erklärung dafür historizistischen Sinnes zu sein scheint:

Schwer abzuweisen ist das Empfinden, daß die zum akademischen Fach zurückgebildete Philosophie gar keine mehr ist.***

Ich deute diese Erkenntnis auch als Selbstkritik, hat er sich doch einmal in kollektivistischem oder soziologistischem Geist, die Diktion eines Versicherungsvertreters übernehmend, zu der Behauptung verstiegen, Krankheit und Tod seien private Lebensrisiken, während es doch gerade jene Lebenstatsachen sind, mit der sich eine Philosophie, die den Namen verdient, auch beschäftigen sollte.
Bei Schnädelbach finden wir eine mildere Form dieser akademischen Erfahrungsbegrenzung. Er erklärt nämlich, Schopenhauers These, der Mensch sei ein animal metaphysicum, sei zu optimistisch, und das Gefühl kosmischer Verlassenheit sei heute kaum mehr nachvollziehbar. Dagegen läßt sich sagen, daß die alltägliche Erfahrung eine andere Sprache spricht, nämlich bei denen, die wie wir alle in extreme existentielle Situationen geraten, und einer der ersten Vertreter des philosophischen Rationalismus, Betrand Russell****, kannte durchaus das unvergängliche Gefühl kosmischer Einsamkeit. Dazu stimmt, daß sein Haupteinwand gegen den amerikanischen Pragmatismus ‚kosmische Pietätlosigkeit' war. Ein solches Argument der klassischen Metaphysik wird man aber bei Schnädelbach oder Habermas vergebens suchen. Es bezeichnet die Grenze ihres Denkens.
Eine zweite Leerstelle hat wohl eher mit dem Erbe der Frankfurter Schule zu tun. Gemeint ist die Abstinenz gegenüber naturwissenschaftlichen Fragen, in denen etwa Popper die wichtigste Quelle philosophischer Probleme sah, nicht anders Russell oder Stegmüller. Bei Schnädelbach liest man dagegen: "Daß es eine Metaphysik der Natur geben könnte, hält nach Einstein und Heisenberg niemand mehr für möglich". Nun haben aber Einstein und Heisenberg ohne jeden Skrupel ihre physikalischen Theorien mit philosophischen Einsichten verbunden und Erwin Schrödingers Theorie der Zeit war sichtlich von Schopenhauer beeinflußt. Ob man das als Naturmetaphysik oder Naturphilosophie bezeichnet, ist ein müßiger Streit um Worte, es sind jedenfalls Fragen des Weltbilds, die die Vorgaben der physikalischen Theorie übersteigen. Daß viele Philosophen diese Probleme ignorieren, hat aber weniger mit der Logik der philosophischen Forschung als mit Gegebenheiten der Kompetenz zu tun. Zum Glück hat sich Schnädelbach nicht an die eigene Behauptung gehalten und im Falle der Evolutionstheorie sich von der Naturwissenschaft anregen lassen.
Autoren, selbst wenn sie sich Philosophen nennen, sind nicht gehalten, auf die Wünsche der Leser einzugehen. Dennoch möchte ich einen Wunsch vorbringen. Ich würde gern eine intellektuelle Autobiographie lesen, in der Schnädelbach uns über die Wandlungen seines Denkwegs aufklärt.

*Cf. den Aufsatz über Rationalitätstypen in: H.Schnädelbach, Philosophie in der modernen Kultur. Frankfurt 2000. S.256ff.
**W.V.O.Quine, Theorien und Dinge. Frankfurt 1991. S.222
***J.Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Frankfurt 1999. S.324
****B.Russell, Philosophie des Abendlandes. Köln 1999. S.12; 835




Erinnerung an Herbert Schnädelbach



Ich lernte Herbert Schnädelbach (1936-2024) anfangs der siebziger Jahren in Frankfurt kennen, als er Philosophie zu dozieren begann. Es war die Zeit der abebbenden Studentenbewegung, wo der Universitätsbetrieb immer noch von radikalen Studentenvertretern beherrscht wurde und Vorlesungen gelegentlich umfunktioniert wurden zu politischen oder sozio-ökonomischen Diskussionen.

Schnädelbachs Vorlesungen aber blieben unbehelligt. Manchmal tauchte ein Verkäufer eines kommunistischen Blättchens auf, der aber von Schnädelbach immer höflich hinauskomplimentiert wurde – ein Beweis für seine verbindlichen, diplomatischen Umgangsformen. Eine Begabung, die erklärt, daß er später in akademischen Vereinigungen erfolgreich tätig werden konnte.

Wenn man Schnädelbachs philosophischen Standpunkt zu der damaligen Zeit verstehen will, muß man das links gestimmte Klima der universitären Öffentlichkeit in jenen Jahren kennen. Das alles beherrschende Stichwort war „Gesellschaft“ im Sinne einer angestrebten Umwälzung gemäß der neomarxistischen Ideologie. Für die Philosophie bedeutete dieses politische Programm, daß sie ihre Autonomie verlieren würde und nur noch als Sparte der Gesellschaftstheorie zu betrachten sei.

Der angesehenste Vertreter dieses Konzepts war Jürgen Habermas, der seine Ansicht in der programmatischen Schrift Zur Logik der Sozialwissenschaften dargelegt hatte. Ihr Erfolg bei der radikalen Studentenschaft kann man daran ablesen, daß sie auch als Raubdruck erhältlich war und zwar in dem „Verlag zerschlagt das bürgerliche Copyright. Hamburg – Berlin – Havanna“. Es war ganz im Sinne der Soziologie als Leitwissenschaft, daß Habermas andernorts im Jargon eines Versicherungsvertreters von „den privaten Lebensrisiken“ sprach, womit er die Fragen nach Leben und Tod meinte – eben jene existentiellen Probleme, die den Menschen nach Kierkegaard unendlich interessieren. Außerdem rechtfertigte er die Verbindung von Erkenntnis und Interesse in Wissenschaft und Philosophie.

Gegen diese Tendenz verteidigte Schnädelbach die methodische und sachliche Selbständigkeit der Philosophie. Nach seiner Ansicht hat die Philosophie nur ein einziges Interesse zu verfolgen: die Suche nach der Wahrheit. Er erklärte, daß es bei jeder Theorie und jeder Ideologie die wichtigste und entscheidende Frage sei, ob sie wahr sei. Mir ist besonders in Erinnerung geblieben, daß er diese Frage in der Vorlesung und in der Diskussion immer mit besonderem Nachdruck betonte. Dieses Thema war das innerste Motiv seiner Überlegungen, das er eher voraussetzte, als es explizit zu besprechen.

Die Frage nach der Wahrheit war für ihn das Grundproblem, die Voraussetzung jeden Philosophierens. Es hängt natürlich engstens mit dem Problem der Vernunft und Vernünftigkeit zusammen, das später das Hauptthema seines Denkens wurde. Ihm ging es darum, eine Theorie der Rationalität auszuarbeiten, zu der ich nur sagen will, daß er verschiedene Typen der Rationalität unterschied, um der Vielfalt der rationalen Phänomene gerecht zu werden. Ein Zeichen für die Umsicht und Aufnahmefähigkeit seines Intellekts.

Zweitens ist für Schnädelbachs Standpunkt als junger Dozent der Philosophie kennzeichnend, daß er sich von der Kritischen Theorie seines Lehrers Adorno löste und sich der sprachanalytischen Philosophie zuwandte. Grundsätzlich ging es dabei um den Übergang einer mentalistischen Denkform zu einer sprachlich geprägten Denkform, mit anderen Worten, um die Umformung der Reflexion in den Diskurs. Davon handeln die frühen Vorlesungen, später veröffentlicht unter dem Titel Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie (1977). Der Untertitel ist natürlich ein korrigierendes Echo zu Habermas’schen Schrift „Logik der Sozialwissenschaften“, ein Titel, unter dem Habermas typisch philosophische Gegenstände subsumierte.

Was Schnädelbachs Seminare angeht, so erinnere ich mich noch gut an zwei Themen: „Existenzsätze“ und „analytische Geschichtsphilosophie“. Beim ersten Thema stützte er sich besonders auf die Philosophie Bertrand Russells, der in Frankfurt damals ein völlig unbeschriebenes Blatt war. Schnädelbach wurde in Deutschland einer der besten Kenner des englischen Philosophen, und ich vermute, daß sein Bemühen, möglichst klar und verständlich zu sprechen und zu schreiben, sich von Russell als Vorbild herleitet – in stärksten Gegensatz zu der begrifflich konzentrierten, überladenen Redeform seines Lehrers Adorno. Außerdem paßt dieses Bemühen zu der Erklärung, daß Verständlichkeit die Grundbedeutung von Rationalität sei.

Man kann die Bedeutung dieses Gedankens für Schnädelbachs lebenslanges Wirken gar nicht genug betonen. Diese Idee, der er sich programmatisch verschrieben hatte, kann nämlich allein erklären, daß er ein hochbegabter Lehrer werden konnte und daß er leidenschaftlich gern Grundlagen der Philosophie besprach und viele Einführungen schrieb: in die Philosophie im allgemeinen, zur Erkenntnistheorie, zu Kant, zu Vernunft und zu anderen Themen.

In einem anderen Seminar behandelte der die Analytische Philosophie der Geschichte von Arthur Danto, ein Gegenentwurf zu der in Deutschland immer noch dominierenden Geschichtsauffassung Hegels, aber auch eine Alternative zu der Theorie von Karl Löwith, der die Geschichtsphilosophie auf theologische Ursprünge zurückführte. Im Gegenzug zu diesen spekulativen Theorien untersucht Danto die elementarsten Bestandteile der Geschichtsbetrachtung: zeitabhängige Aussagen, den Begriff des Ereignisses, was eine Chronik ist, worin eine Erzählung besteht, was eine historische Erklärung ist – alles elementare Probleme, die in der spekulativen oder substantiellen Geschichtsphilosophie völlig ungeklärt und ununtersucht blieben.

Interessant ist, daß diese Probleme auch für Schnädelbach neu waren. In der Arbeit Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus (1974) hatte er nur deutsche Theoretiker besprochen, von Ranke bis Rickert. Daß er nun sich der analytischen Philosophie öffnete, zeigt, daß er sich von seinen Ursprüngen in der Frankfurter Schule vollends gelöst hatte.

Seine Eigenständigkeit als Denker bewies er dann auch in seiner Kritik an Adorno, dessen Geschichts- und Gesellschaftsbegriff er sachgerecht destruierte und dessen zentrale Idee des „Nichtidentischen“ er als logischen Fehlgriff darstellte. Von Adornos Schriften ließ er praktisch nur die musiktheoretischen Arbeiten gelten, was wohl auch damit zusammenhängt, daß er selbst hochmusikalisch war und, wenn ich richtig unterrichtet bin, auch selbst Klavier spielte.

Bekannt geworden ist schließlich seine Kritik an Habermas, der in einem vielbeachteten und vielzitierten Aufsatz von dem Projekt der Moderne sprach. Das Stichwort wurde bis in die Feuilletons vielfach nachgesprochen und in den Kulturwissenschaften eine unumgängliche Phrase. Schnädelbach aber zeigte sachlich auf, daß ein Geschichtsabschnitt alles andere als ein Projekt ist.

Erwähnen möchte ich noch, daß er neben seiner akademischen Tätigkeit gelegentlich auch an öffentlichen Debatten teilnahm. So schrieb er polemische Aufsätze gegen die Religion im allgemeinen und das real hierzulande existierende Christentum im besonderen. Signifikant für seine intellektuelle Redlichkeit aber ist, daß er diese Beiträge nicht zu seinem seriösen philosophischen Werk gerechnet wissen wollte. Er war sich bewußt, daß es sich bei diesen Streitfragen, auf Seiten der Religionsanhänger wie auf Seiten der Kritiker, um ein recht schwach begründetes Vermutungswissen ging, eher um private Meinungen als um rational vertretbare Theorien.

Schnädelbach war der Hochschullehrer, bei dem ich für die geistige Bildung am meisten gelernt habe. In jedem philosophischen Aufsatz konnte ich mich auf ihn beziehen. Zu seinem 80. Geburtstag schickte ich ihm eine Besprechung der Minima moralia Adornos. Er konnte der kritischen Würdigung ohne Vorbehalt zustimmen (J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen, S.25ff.).

J.Q.   —   16. Dez. 2024

©J.Quack


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