Josef Quack

Der Fall Afghanistans
Zur Vorgeschichte




An nescis, mi fili, quantilla prudentia regatur orbis?
Weißt du denn nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird?

Axel Oxenstierna

Der Fall Afghanistans ist ein politisches Lehrstück sondergleichen. Es zeigt, daß die amerikanische Führung zu Beginn, im Herbst 2001, die richtigen Einsichten und die richtigen Absichten hatte, nach dem überraschend schnellen Erfolg, dem Sieg über das Taliban-Regime im Dezember 2001, dann aber das Falscheste tat, was sie tun konnte, so daß die Kenner des Landes und Kritiker der Lage schon sehr früh das unvermeidliche, nun eingetretene Debakel richtig voraussagen konnten.

Man erinnere sich. Am 9. September 2001 entführten 29 saudische Mitglieder der Terroristengruppe al-Qaida, die von Osama bin Laden angeführt wurde, vier amerikanische Passagiermaschinen und stürzen sich in das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Es war „der tödlichste Angriff auf das amerikanische Kernland, der Pearl Harbor an Todesopfern noch übertraf“ (Woodward 2003, 112).

Am 20. September forderte Präsident George W. Bush die Taliban-Regierung in Kabul auf, den USA Bin Laden und die anderen Leiter al-Qaidas auszuliefern und den Amerikanern die Kontrolle zu erlauben, ob diese Forderungen auch erfüllt werden. Intern meinte er dazu: „Es ist nicht unser Ziel die Taliban zu vernichten, aber das könnte die Folge sein“ (l.c.116).

Als die Taliban dieser Forderung nicht nachkamen, erklärte er am 7. Oktober den Beginn des amerikanischen Angriffs durch die Luftwaffe auf Stellungen al-Qaidas und Militäreinrichtungen der Taliban. Am Boden wurde der Kampf durch die Nord-Allianz, Stämme aus dem Norden des Landes, verbündete Paschtunen aus dem Süden und amerikanische Spezialkommandos durchgeführt. Am 7. Dezember konnten diese Truppen Kandahar erobern, das südliche Zentrum der Taliban. Die Allianz und die USA waren die Herren des Landes: „Alles in allem hatten die Amerikaner zum Sturz der Taliban 110 Mitarbeiter der CIA und 316 Soldaten der Special Forces eingesetzt, hinzu kamen massive Lufteinsätze“ (l.c.346). Darunter hat man sich allerdings oft mehr als hundert Luftschläge am Tag mit schwersten Bomben und schärfsten Raketen vorzustellen.

Während dieser Wochen und Monaten hat Präsident Bush immer wieder mit allem Nachdruck, um nicht zu sagen: feierlich, versichert: „Keine Kampftruppen beim nation building“ (l.c.215). Am 13. November bekräftigte er: „Die US-Streitkräfte werden nicht bleiben“ (l.c.343). Nach dem schnellen Sieg, dem bald aber militärisch und politisch instabile Zustände folgten, wandte man sich von Bushs vernünftigem Vorsatz ab, und betrieb doch mit dem größten Eifer nation building, aber mit dem falschen Programm und, wie sich bald herausstellte, auch mit den falschen afghanischen Politikern.

Dabei wußten die Experten und Politiker in Washington recht genau, auf welches Abenteuer sie sich in Afghanistan eingelassen hatten. Sie kannten die abschreckenden geographischen Verhältnisse des Landes, seine Geschichte, das Scheitern aller Invasoren nach Alexander dem Großen, zuletzt die Niederlage der sowjetischen Truppen, die von 1979 bis 1989 im Land gekämpft, aber es niemals beherrscht hatten.

Vor allem kannten die Amerikaner das archaische, seit Jahrhunderten bestehende Gesellschaftssystem, die Vielzahl der Stämme und ethnischen Gruppen, die ständigen Konflikte zwischen den einzelnen Clans und Großfamilien. Ihnen war auch der Scherz jüngeren Datums bekannt: „Einen Afghanen kann man nicht kaufen, man kann ihn nur mieten.“ Ihr Kommentar dazu: „Es war eine Welt, in der es keine kontinuierlichen, ja nicht einmal halbwegs stabile Loyalitäten gab. Die Warlords folgten dem Geld und dem militärischen Erfolg. Die Seite der Sieger zog sie ungeheuer an, blitzschnell wechselten sie die Fronten.“ (l.c.281) Es ist möglich, daß diese Verhaltensdisposition die jüngste Entwicklung zum Teil erklären kann.

Die wichtigste Einsicht, die dann aber sträflich mißachtet wurde, lautete: „Afghanistan war nur in einer dezentralisierten Struktur stabil. Das Land war kein moderner Staat mit einer starken Zentralregierung und dürfte wohl auch in Zukunft keine haben.“ Deshalb sollten alle Stämme und Warlords an der Regierung in Kabul beteiligt werden (l.c.250). Außenminister Colin Powell schlug, blind für die Gesellschaftsstruktur des Landes, allen Ernstes eine starke Zentralregierung vor (l.c.354), die natürlich nur das Gegenteil einer Allparteienregierung der genannten Art sein konnte. Merkwürdig, daß diese Politiker das Ungereimte und Unpassende ihrer Vorhaben nicht durchschauten.

Henry Kissinger sah in dieser Hinsicht ein wenig schärfer: „Alle Ziele der Koalition und der Vereinten Nationen, nämlich in Afghanistan eine transparente, demokratische, in einem sicheren Umfeld operierende Zentralregierung zu schaffen, stellen de facto einen radikalen Bruch mit der afghanischen Geschichte dar oder hätten ihre Neuerfindung bedeutet. Ihre Umsetzung erforderte konkret, daß ein Clan künftig alle anderen dominierte – der paschtunische Popalzai-Clan, dem Hamid Karzai, der Präsident der Übergangsregierung, angehörte. Dieser Stamm mußte seine Macht im ganzen Land sichern, entweder durch Gewalt (der eigenen oder der internationalen Koalition) oder durch die Verteilung der Beute der ausländischen Hilfslieferungen oder durch eine Mischung von beidem. Unvermeidlich war auch, daß bei den Bestrebungen, dem Land moderne Institutionen überzustülpen, uralte Prärogative mit Füßen getreten wurden. Das Kaleidoskop der Stammesbündnisse wurde auf eine Weise neu arrangiert, die für die ausländischen Mächte kaum zu verstehen oder noch weniger zu kontrollieren war.“ (Kissinger 2014, 364)

Er meinte damals noch optimistisch, nach einem Abzug der amerikanischen Truppen würde die Zentralregierung wahrscheinlich noch über Kabul herrschen.

Er hat aber einen skandalösen Punkt der ganzen Angelegenheit berührt: die unvorstellbare Korruption in dem Land. Ein Fachmann für Entwicklungshilfe, Heinrich Langerbein, hat ausgerechnet, daß Afghanistan zwischen 2002 bis 2015 genauso viel Entwicklungshilfe erhielt wie die gesamte übrige Dritte Welt. 70 Staaten und internationale Organisationen, dazu zehntausend private Hilfsorganisationen unterstützten das Land mit ungefähr 1,2 Billionen Dollar. Dazu kam noch die Militärhilfe ungefähr in der gleichen Höhe der Aufwendungen. Das Ergebnis dieses in der Weltpolitik beispiellosen Geldsegens ist aber so desaströs, daß seit 2015 immer mehr Afghanen ihr Land verlassen. Die massive, überreiche Hilfe hat die Zustände im Staat nicht nachhaltig, wie das Modewort lautet, vielfach nicht mal merkbar, letztlich überhaupt nicht verbessert.

Langerbein moniert, daß diese gigantische Entwicklungshilfe unter Mißachtung des Staatsmonopols durchgeführt und das erste Gebot, nur Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren, vielfach mißachtet wurde. Wo aber sind die Milliarden, darunter 3,4 Milliarden von Deutschland, geblieben? Sie sind größtenteils in Bestechung und Schutzgelder geflossen und dies in einem Land, dessen zentraler Haushalt durch das Ausland finanziert werden muß. (NZZ 3.12.2015) Dazu wäre zu bemerken, daß es doch geradezu absurd ist, ein Land, das - wohlgemerkt unter dem Schutz westlicher Militärs - der größte Opiumproduzent der Welt wurde, noch mit Entwicklungsgeldern zu beglücken.

Am Opiumanbau ist aber wiederum auch, mindestens zu einem gewissen Teil, eine törichte, uneinsichtige Entwicklungshilfe schuld. Den Bauern bleibt oft nichts anderes übrig, als Opiumpflanzen anzubauen, weil sie mit Getreide nichts mehr verdienen können: „Die Hilfsorganisationen schaffen so viele Nahrungsmittel rein, daß die Bauern ihr Getreide gar nicht mehr zu einem vernünftigen Preis verkaufen können.“ (Scholl-Latour 2012, 159). Mit anderen Worten, die Entwicklungshilfe zerstörte den einheimischen Agrarmarkt.

Was die enormen Militärausgaben betrifft, die Amerika für dieses unglückselige Engagement aufbringen muß, so schätzt Geert Mak in seinem vielbeachteten Amerika-Buch: „Für die Kosten, die der Einsatz eines einzigen amerikanischen Soldaten in Afghanistan jedes Jahr verursacht, hätten zwanzig Schulen gebaut werden können.“ (Mak 2014, 423) Mak gibt keine Einzelheiten an, wie er zu dieser Schätzung kommt. Wenn man aber liest, daß die Amerikaner in Kabul als Wachpersonal und Personenschützer Söldner, „contract worker“, beschäftigten, die 1500 Dollar am Tag bekamen, kann man jene Rechnung schon eher begreifen (Scholl-Latour 2012, 160).

Wie dem aber auch sei, man kann leicht einsehen, daß die USA sich nach zwanzig Jahren meist sinnlosen Einsatzes schließlich entschieden haben, diese kostspielige Bürde loszuwerden, und man kann Präsident Biden verstehen, daß die Amerikaner kein Interesse haben, ein Land zu verteidigen, dessen Soldaten selbst nicht gegen die Taliban kämpfen wollen. Auf den Einwand, daß die westlichen Instrukteure die afghanischen Soldaten nicht gut ausgebildet hätten, hat man mit Recht erwidert, daß die Afghanen in diesem Punkt keine Nachhilfe nötig haben. Sie lernen von Jugend auf, mit einem Gewehr umzugehen.

Um auch das noch zum Thema zu sagen, die Amerikaner waren, wie man hört, bei den Leuten am Hindukusch nicht besonders beliebt. Sie sind viel zu lange im Land geblieben. Sie hätten sich an den ursprünglichen Plan halten und zurückkehren sollen, nachdem Bin Laden und seine Gruppen aus Afghanistan vertrieben waren.

Als die Russen 1989 Afghanistan verlassen mußten, brauchten die Taliban sieben Jahre, bis sie das Land beherrschten. Als die Amerikaner abzogen, brauchten sie dazu nicht mal sieben Wochen.

Die Taliban (dt. Koranschüler) aber waren keine Fremde für die Amerikaner. Sie kannten sich seit den achtziger Jahren und sie hatten auch mit Bin Laden als Partner zu tun: „Man darf nicht vergessen, daß seine militärische Rolle begonnen hat, als er in Zusammenarbeit mit der CIA und dem pakistanischen Geheimdienst den Widerstand gegen die Sowjets in Afghanistan organisierte. Damals hat er mit Riesensummen, die ihm in Saudi-Arabien zur Verfügung standen, die grünen Legionen, die man El Qaida nennt, mit Männern aus aller Welt zusammengestellt.“ (Scholl-Latour 2012, 286) Mak moniert, daß die Amerikaner damals „eine ganze Generation afghanischer Dschihadisten hervorragend bewaffnet und ausgebildet und so in die Lage versetzt [hätten], in Afghanistan das grausame Talibanregime zu errichten, welches das Land von 1996 bis 2001 terrorisierte“ (l.c.512).

Wie aber steht es mit Osama bin Laden? War er wirklich der Urheber und Organisator der Anschläge vom 9. September 2001? Woodward berichtet, daß der englische Premier im Parlament Beweise dafür vorgelegt habe, „daß Osama Bin Ladens al-Qaida-Netzwerk verantwortlich war für die Angriffe des 11. September“. Auch das amerikanische Außenministerium habe „genügend Beweise vorgelegt, die Bin Ladens Verstrickung in den 11. September belegten, um ihn vor Gericht zu stellen.“ (Woodward 2003, 220) Der Autor teilt aber keinen einzigen dieser Beweise seinen Lesern mit. An anderer Stelle erwähnt er nur einige abgehörte Meldungen aus Afghanistan, die auf eine Verstrickung Bin Ladens in die Attentate hindeuten. Auch sollen die CIA und das FBI Belege dafür gehabt haben, daß neunzehn der Entführer mit Bin Laden und seinen Ausbildungslagern in Afghanistan Verbindung hatten (l.c.55).

Scholl-Latour aber hat mehrfach bezweifelt, daß Bin Laden der Drahtzieher jenes Anschlags war: „Er hätte aus Afghanistan heraus nicht die Möglichkeit gehabt, ein Unternehmen wie die 9/11-Anschläge zu planen und zu koordinieren.“ Und er ergänzt: „Fliegen lernten die Selbstmordattentäter in Florida, Flugpläne studierten sie in Hamburg“ (Scholl-Latour 2012, 284; 184). Bis heute aber sind diese Anschläge, die zwei Kriege auslösten, deren Folgen bis heute zu spüren sind, nicht restlos aufgeklärt. Die amerikanischen Behörden haben bis jetzt darüber keinen abschließenden Untersuchungsbericht vorgelegt.

Scholl-Latour, der das Land seit den siebziger Jahren durch wiederholte Besuche und Expeditionen gut kannte, hat schon früh eingesehen, daß der Krieg in Afghanistan von den Amerikanern und ihren Gefolgsleuten nicht gewonnen werden konnte (l.c. 158). Zu dieser Erkenntnis kam auch anfangs 2009 der amerikanische Präsident Barack Obama, ohne jedoch daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen (l.c. 153). Scholl-Latour aber meinte im August 2009 kurz und bündig: „Die Afghanen müssen sehen, daß sie selbst ihre eigene Regierungsform finden. Das ist nicht unsere Angelegenheit“ (l.c. 191) Und wenig später: „Es ist höchste Zeit, daß die Amerikaner beraten, wie das hoffnungsloe Militärabenteuer in Zentralasien in der einen oder andern Form abgebrochen wird.“ (l.c.197).

Daß damit auch die Teilnahme der Bundeswehr an jenem Abenteuer verurteilt ist, versteht sich von selbst, und man braucht heute nicht mehr die unsinnige Behauptung eines deutschen Verteidigungsministers zu widerlegen, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Wie wiederum Scholl-Latour berichtet, tat die deutsche Truppe in den letzten Jahren in Afghanistan nichts anderes, als sich selbst zu verteidigen.

Fazit. Die Versuche der Staatsbildung westlicherseits konnten letztlich nur als Bevormundung eines stolzen Volkes aufgefaßt werden. Sie mußten zwangsläufig scheitern. Die Gutwilligkeit der Geberländer hat sich schon früh als reinste Torheit erwiesen. Der reiche Geldsegen der Entwicklungshilfe, der auf das Land niederging, fiel auch in die offenen Hände der Taliban. Diese aber hätten nicht so schnell siegen können ohne den Zuspruch eines großen Teils des Volkes, d.h. einiger Stämme, und nicht zu vergessen, nur wenige moslemische Länder dulden über Jahrzehnte hin die Besetzung durch andersgläubige Armeen.

Anscheinend hat man im Westen den religiösen Aspekt des Krieges unterschätzt. Ursprünglich wollte Washington und sein Anhang die Taliban nur bekämpfen, weil sie al-Qaida Unterschlupf gewährt hatten. Dieser Kriegsgrund ist aber längst entfallen. Danach bekämpften sie einen Gegner, dessen Vergehen in den Augen des Westens darin bestand, daß er die Gesetze des Koran, der heiligen Schrift des Islam, einführen und durchsetzen wollte. Die Amerikaner und ihre Verbündete haben aber immer versichert, daß sie keinen Krieg gegen den Islam führen würden — was sich aber mit ihrem Einsatz in Afghanistan nicht gut vereinbaren läßt, wo sie eine bestimmte politische Gruppierung des Islam bekämpften. Die Sprachregelung unserer Medien, es sei ein radikal-islamistisches Regime, ändert an diesem Grundwiderspruch der westlichen Kriegsdoktrin nicht das geringste.

Daß die einheimischen Helfer der westlichen Armeen das Land verlassen wollen, ist verständlich. Um dies zu erreichen, bleibt den europäischen Staaten gar nichts anderes übrig, als mit den neuen Machthabern zu verhandeln.

Sonst aber kann man nur feststellen, daß die politische Diskussion über die ganze Affäre in der Öffentlichkeit, nicht nur bei uns, sondern auch in anderen westlichen Zeitungen, sich auf der Ebene von Phrasen bewegt. Ein untrügliches Zeichen, daß man die Angelegenheit nicht besonders wichtig nimmt.

Es bleibt aber die Frage, wie es kommt, daß Politiker, die recht gut informiert sind, dann doch oft die falsche Entscheidung treffen. Gibt es darauf nur die Antwort des schwedischen Kanzlers aus dem 17. Jahrhundert?

Literatur

Kissinger, Henry: Weltordnung. Dt. K.Dürr u.a. München 2014.
Mak, Geert: Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dt. A.Ecke u.a. Berlin 2014.
Scholl-Latour, Peter: Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart. Berlin 2012.
Woodward, Bob: Bush at War. Amerika im Krieg. Dt. F.Griese u.a. Hamburg 2003.

J.Q. — 19. Aug. 2021

© J.Quack


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