Josef Quack

Erinnerung an Karl Heinz Bohrer




Zum ersten Mal bin ich seinem Namen 1968 begegnet im Titel eines Aufsatzes über die Studentenbewegung, ihre Ziele und provozierende Auftritte. Es war die kritische Deutung einer gesellschaftlichen Erscheinung der unmittelbaren Gegenwart, eine beachtliche Analyse, die ein wenig Sinn in das chaotische, turbulente Geschehen, seine politische Motive und Absichten brachte. Kurzum, ich war beeindruckt von dieser Art der distanzierten, durchdringenden Zeitbetrachtung.

Die zweite Begegnung war eine Enttäuschung. Um 1970 hielt Bohrer, damals Leiter des Literaturblatts der FAZ, an der Frankfurter Universität ein germanistisches Seminar. In der ersten Sitzung kündigte er an, daß er schreibbegabte Studenten suche, die möglicherweise in seiner Zeitung veröffentlichen könnten. Dann aber empfahl er als Lektüre das Sprachliche Kunstwerk von Wolfgang Kayser – das letzte, was ich von einem Autor erwartet hätte, der gerade ein Büchlein über die Gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror vorgelegt hatte. Da ich Kayser kannte und über sein Literaturverständnis längst hinaus war, habe ich Bohrers Seminar nicht mehr besucht.

Bohrer wurde 1974 als Leiter des Literaturblattes der FAZ bekanntlich auf Geheiß von Joachim Fest, der die Führung der Kultursparte übernommen hatte, durch Reich-Ranicki abgelöst. Bohrers abgehobenes, elitäres Literaturverständnis paßte nicht in Fests Vorstellung einer Zeitung, die sich an das breite Publikum bürgerlicher Leser wendet. Bohrer ging als Korrespondent der Zeitung nach London, wo er sich aber hauptsächlich mit der Ästhetik des Schreckens (1978) von Ernst Jünger beschäftigte.

Als ich für einige Jahre in dieser Zeitung regelmäßig ein Referat über Kulturzeitschriften veröffentlichte, besprach ich natürlich auch pünktlich die Beiträge des Merkur und, als Bohrer Herausgeber der Zeitschrift geworden war, verfolgte ich mit besonderem Interesse seine Aufsätze, die bei allem von ihm besprochenen Phänomenen seinen ästhetischen Standpunkt zur Geltung brachten.

Dazu schrieb er mir, nachdem ich die Mitarbeit an der Zeitung aufgegeben hatte: „Selbstverständlich habe ich Ihre Abstinenz in der FAZ bemerkt, zumal ich mir manchmal Gedanken darüber machte über die delikate Aufgabe, die Sie hatten, denn ich gehörte ja nun einmal unleugbar zu den wichtigsten Figuren dieses Blattes im Kulturbereich. Ich glaube, daß Sie das in generöser, objektiver Weise hingekriegt haben, auch wenn man die Distanz, ja Skepsis, gerade was meine eigenen Themen anbetrifft, spürte, in der Sie sich zweifellos mit einigen ehemaligen Kollegen trafen.“ (20.2.1986)

Ich antwortete ihm, daß eben die kritische Haltung meine Art sei, auch meine Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. Ich schrieb ihm natürlich nicht, daß Reich-Ranicki nicht ganz damit einverstanden war, daß ich Bohrers Aufsätzen so viel Aufmerksamkeit schenkte. Doch ließ er mir weiterhin freie Hand in dem, was ich von den Zeitschriften besprechen wollte.

Merkwürdig ist übrigens, daß es in den siebziger Jahren eine Vielzahl von Kultur- und Literaturzeitschriften gab, die in späteren Jahren dann ihr Erscheinen einstellen mußten — aus Gründen, denen ich hier nicht nachgehen kann. Daß aber zum Beispiel der Merkur seine Bedeutung spürbar verlor, hing sicher damit zusammen, daß er allzu akademisch, professoral wurde und als seine Leserschaft fast nur noch den Kreis der Universitätsleute zu betrachten schien.

Zweifellos hat Bohrer selbst diesen Trend in die Wege geleitet und verstärkt, wozu gewiß auch sein intellektueller Standpunkt beitrug, die ästhetische Perspektive, ein allzu enger Horizont der Wahrnehmung, der sich dann auch in seinem politischen Urteil bemerkbar machte. Auf Stil und Haltung des öffentlichen Auftretens und Redens fixiert, war er zum Beispiel konstitutiv unfähig, die außerordentliche politische Leistung Helmut Kohls, der nicht nur über einen sensiblen politischen Instinkt, sondern auch über ein beachtliches diplomatisches Talent verfügte, zu erkennen und anzuerkennen. Daß er dem schöngeistigen Kurt Georg Kiesinger den Vorzug gab vor dem derb zugreifenden Helmut Kohl, kann man auch heute noch nur mit Kopfschütteln quittieren.

Bohrers wichtigstes literaturkritisches oder literaturwissenschaftliches Verdienst bestand meines Erachtens in seinem Buch über die Ästhetik des Schreckens bei Ernst Jünger. Mit dieser umfassenden Studie hat er Jüngers literarische Bedeutung in einer Zeit energisch zur Geltung gebracht, wo die allermeisten Linksintellektuellen, ausgenommen Alfred Andersch und Heinrich Böll, über den ehemaligen Stoßtruppführer nur die Nase rümpften. Es gehörte in jenen Jahren zum guten Ton, Jünger zu verurteilen, ohne ihn gelesen zu haben. Demgegenüber arbeitete Bohrer gerade Jüngers literarische Qualitäten, seinen reflektierten Kunstverstand, seine Weltsicht heraus, die er „pessimistische Romantik“ nannte.

Freilich wurden in diesem imposanten Werk auch die Grenzen von Bohrers Ansatz sichtbar. So gibt es in Jüngers Tagebuch über den Ersten Weltkrieg, In Stahlgewittern, eine Szene, wo er den überwältigenden Schmerz beschreibt, den er nach einem Angriff verspürt, der fast die Hälfte der von ihm angeführten Soldaten das Leben kostete. In späteren Auflagen des Buches hat Jünger hier statt von „Schmerz“ von „Schrecken“ gesprochen. Bohrer aber hat diese Differenz zwischen einem existentiellen Begriff und einem Begriff mit ästhetischer Konnotation nicht beachtet, sondern sich auf die ästhetische Wahrnehmung der Schreckensphänomene konzentriert.

In diesem Buch entdeckte er auch die Bedeutung des Plötzlichen für die ästhetische Wahrnehmung und damit die Bedeutung einer Theorie der Zeit für die Analyse der Dichtung. Er hat das Thema in mehreren Studien bearbeitet, doch merkt man gerade an diesem Gegenstand, daß er im Grunde ein eigenwilliger Selbstdenker ohne systematische philosophische Bildung geblieben ist. Im Unterschied zu Paul Ricœur, der über Zeit und Erzählung (1983) ein souveränes Standardwerk schrieb, das Bohrer natürlich kannte, blieben seine eigenen Studien letztlich in geistig unbewältigten Ausführungen über den vieldeutigen Begriff der Zeit stecken. Als typischer Literaturhistoriker häufte er Anmerkung über Anmerkung, Fußnote über Fußnote, Quellenangabe über Quellenangabe, ohne am Ende den Gegenstand begrifflich genau beschreiben, d.h. überhaupt gründlich erfassen zu können.

Äußerst problematisch ist der Gebrauch, den er von dem Begriff der ästhetischen Subjektivität macht, ein Schlüsselbegriff seines Denkens. Sein Manko besteht, kurz gesagt, darin, daß er die nüchternen philosophischen Arbeiten über Subjekt und Selbstbewußtsein nicht eigentlich zur Kenntnis nahm. Dies zeigte sich fatalerweise auch in seiner Auslegung Kafkas, dem er als Autor des Tagebuchs eine fiktive Identität zusprach, wie er auch dessen Tagebuch selbst als einen fiktiven Text deutete. An anderer Stelle habe ich im einzelnen nachgewiesen, daß Bohrer mit dieser Auslegung drei gravierende Fehler begeht (cf. J.Q., Über das authentische Selbstbild, S.81f.). D.h. weder Kafkas Autorschaft im Tagebuch noch dieses selbst haben fiktiven Charakter.

Bohrers literaturhistorische Schriften sind aber deshalb interessant, weil er darin auf viele in der Forschung übersehene oder falsch verstandene Phänomene der Dichtung aufmerksam macht. Daß er diese Aspekte aufgespürt hat, ist produktiv und aufschlußreich, weniger die Interpretation, die er davon gibt. Sie leidet zuweilen darunter, daß er wohl niemals die hermeneutische Einsicht Gadamers verstanden hat, daß die ästhetische Einstellung eine sekundäre Einstellung, das ästhetische Bewußtsein eine Abstraktion ist.

Bohrer aber war auch ein begeisterter Fußballanhänger und hat darüber bei Gelegenheit höchst geistreiche Artikel geschrieben. Hier hat sich seine ästhetische Betrachtung als überaus fruchtbar erwiesen, oder anders gesagt, diese Perspektive ist die einzige Einstellung, die für einen denkenden Menschen hier in Frage kommt. Wenn Bohrer sich über den furor teutonicus eines Rummenigge ausließ, erreichte sein radikaler Feinsinn einen ungeahnten Höhepunkt der Schilderung. Es hatte seinen besonderen Reiz, daß er über eine triviale Sache überaus gebildet und hochgestochen schreiben konnte. Ein Dandy genießt in exquisiter Prosa Spiele, die das Vergnügen der Masse sind.

J.Q. — 26. Aug. 2021

© J.Quack


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