Josef Quack

Die letzten Mandarine von Paris
Zu Laurent Binets Roman "Die siebte Sprachfunktion"




Dieser Roman, Die siebte Sprachfunktion (2015, dt. K.Wachinger, Reinbek 2017), ein französischer Bestseller, ist ein intellektueller Krimi mit brutalem und pornographischem Einschlag. Diese aparte, gewollt künstliche Mischung von Geist, Gewalt und Geilheit wird aber zu keinem anderen Zweck angerichtet als dazu, die Pariser Szene der Intellektuellen anno 1980 satirisch zu entlarven und zu parodieren.

Wie man vielleicht noch weiß, wurde eine ähnliche Intention schon einmal in einem Roman ausgeführt. Gemeint sind die Mandarine von Paris (1954), eine Geschichte in ernster Absicht, die Simone de Beauvoir schrieb, um das geistige Klima der Nachkriegsjahre von 1944 bis 1948 zu schildern, das im Zeichen des Existentialismus stand und vom Pathos der Befreiung und der Freiheit geprägt war. Es waren Jahre, die von den Debatten der Intellektuellen, ihren politischen Erwartungen und Enttäuschungen beherrscht wurden, und diese Intellektuellen, um nur Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Merleau-Ponty oder Raymond Aron zu nennen, erlangten bald Weltruf.

Das Buch ist aber kein Schlüsselroman, wie die Autorin ausdrücklich in ihrer Autobiographie, Der Lauf der Dinge, versichert und im einzelnen nachweist (S.259). Im Vorspruch der deutschen Taschenbuchausgabe des Laufs der Dinge (1970) wird der Band aber ausdrücklich als „großangelegter Schlüsselroman“ angekündigt — so wenig achten unsere Verlage die Meinung ihrer Autoren, sie lesen nicht mal die Bücher, die sie herausbringen. Simone de Beauvoir erklärt vielmehr: „Ich habe von den Gestalten in Les Mandarins so lange geträumt, bis ich an ihre Existenz glaubte“ (S. 265). Der Roman handelt also nicht von Sartre oder Camus als Personen, unbestreitbar aber von ihren Ideen, die schließlich den Zeitgeist maßgeblich inspirierten. Die Figuren des Romans sind erdichtete Gestalten.

Laurent Binet (Jg. 1972) aber läßt in seinem Roman die Pariser Intellektuellen der Jahre 1980/81 unter ihrem historischen Namen auftreten, er schreibt ihnen ihre eigenen Theorien zu, überdies aber mehr oder weniger klug erdichtete Erlebnisse, die nicht ihre eigenen Erlebnisse sind, sondern sie letztlich karikieren sollen.

Es treten also auf: der Literaturwissenschaftler Roland Barthes, der Historiker der Denksysteme Michel Foucault, der Sprachphilosoph Jacques Derrida, der Tiefenpsychologe Lacan, der Marxist Louis Althusser, der Schriftsteller Philippe Sollers und seine Frau Julia Kristeva, Texttheoretiker. Außerdem haben einen Auftritt der amerikanische Philosoph John Searle und der italienische Semiotiker und Romancier Umberto Eco.

Diese Art der Figurenkonzeption im Roman hat den bequemen Vorteil, daß der Autor sich die Mühe ersparen kann, Gestalten zu erfinden und sich ihr Äußeres, ihren Charakter, ihre Biographie, ihr Reden und Handeln auszudenken. Das heißt aber mit anderen Worten auch nichts anderes, als daß die plastische Menschendarstellung, die Erfindung origineller Personen, nicht die Stärke Binets ist. Ihm fehlt zum Romancier eine Gabe, die für dieses Handwerk unerläßlich ist.

Die beiden Hauptfiguren aber sind erdichtete Figuren. Der Kommissar Jacques Bayard wird von der Regierung Giscards beauftragt, die Umstände des Unfalltodes Roland Barthes‘ zu untersuchen. Er verkörpert den gesunden Menschenverstand, für den das Kauderwelsch der Gelehrten schlicht unverständlich, wenn nicht sinnlos ist. Ihm zur Seite steht der junge Dozent Simon Herzog, dessen Aufgabe es ist, die wissenschaftlichen und philosophischen Reden und Schriften jener Akademiker in normale Sprache zu übersetzen. Er erledigt diese Aufgabe mit einiger Bravour; davon abgesehen aber sind die beiden Protagonisten des Romans blaße Figuren.

Die Stärke Binets liegt nämlich einzig und allein in der Darlegung, dem verständlichen Referat, der einsichtigen Deutung der Theorien der aufgeführten Sprachwissenschaftler und Philosophen. Es ist ein rein essayistisches, theoretisierendes, besprechendes, kritisches Talent. In einer Fernsehdiskussion des Romans heißt es einmal: „Frankreichs Genius drückt sich im Diskurs über den Diskurs aus“ (S.110). Damit ist auch das Talent des Autors und der Vorzug des Romans getroffen, das geistreiche Gespräch über geistige Dinge, künstliche Schöpfungen.

Denn der Roman ist in seinem besten Teil eine geschickt ausgeführte Tour d‘horizont über die damals kursierenden Denkkonzepte der Kulturwissenschaften. Binet erklärt die Grundlagen der Semiotik, einer allgemeinen Zeichentheorie, vor allem die ersten Elemente der menschlichen Sprache, das Modell der Sprachfunktionen von Roman Jakobson und die Theorie der Sprechakte von John Searle. Er verweist auch auf Jonathan Culler, einen amerikanischen Kenner der Sprachphilosophie seiner Zeit, der übrigens, was Binet aber nicht erwähnt, eine vorzügliche Einführung in den Dekonstruktionismus geschrieben hat.

Binet spielt aber auf die wissenschaftliche Rivalität und Eifersucht zwischen Derrida und Foucault an, er verweist auf einen Artikel, worin Derrida darlegt, „daß Foucault nichts von Descartes begriffen hat“ (S.341).

Es ist in der Tat ein bemerkenswerter Artikel, genauer gesagt, eine philosophische Rezension und zwar eine der bedeutendsten Rezensionen ihrer Art im letzten Jahrhundert, weil sie eine wichtige neue Einsicht enthält. Derrida hebt nämlich das unerwartete Faktum hervor, daß der Grundsatz Descartes‘, cogito ergo sum (ich denke, also bin ich), selbst für Menschen gültig ist, die wahnsinnig sind (Die Schrift und die Differenz 1976). Diese Entdeckung hat natürlich erhebliche Konsequenzen für unseren Begriff des rationalen Denkens, für unsere Auffassung von Vernunft. — Es ist schade, daß Binet nicht auf diese Pointe eingegangen ist, sondern nur die Gegnerschaft der beiden Denker salopp registriert hat.

Dagegen hat er die Theorie der Sprachfunktionen klar und deutlich expliziert. Die Darstellungsfunktion besteht darin, daß die Sprache dazu dient, über etwas, einen Gegenstand, zu sprechen (1). Die Ausdrucksfunktion bezieht sich auf die Einstellung des Sprechers (2), die Appellfunktion richtet sich an den Adressaten der sprachlichen Äußerung (3). Eine weitere Funktion bezeichnet den kommunikativen Aspekt der Äußerung (4), die metasprachliche Funktion betrifft die Möglichkeit, über Unverstandenes reden zu können (5), und die poetische Funktion der Sprache bezieht sich auf die ästhetische Dimension, die Form und Gestaltung der Rede (6) (S.149f.).

Soweit das Modell der sechs Sprachfunktionen, wie es Roman Jakobson im Anschluß an Karl Bühler entworfen und Binet getreulich wiedergegeben hat. Merkwürdig ist, daß er nicht ein entscheidendes Manko dieses Schemas erwähnt, eine Lücke, auf die Karl Popper, der in diesem Roman nur einmal genannt wird, aufmerksam gemacht hat. Es fehlt die argumentative Funktion der Sprache, die keineswegs identisch ist mit ihrer darstellenden, deskriptiven Funktion. Ohne die argumentative Funktion gäbe es aber überhaupt keine Wissenschaft und Philosophie, keine rationale Diskussion unter Menschen.

Statt dessen aber versteift sich Binet auf die Möglichkeit einer siebten Sprachfunktion, eine Funktion magischer Art, die bewirken könnte, das Gesagte allein durch das Wort auch zu realisieren. Simon, der junge Sprachexperte, hält diese Annahme für ein Ding der Unmöglichkeit, d.h. für ein Märchenmotiv. Auf diesem unrealistischen Motiv aber beruht das ganze Handlungskonzept des Romans. Die Skepsis Simons aber zeigt, daß das Thema des Romans keinesfalls ernst zu nehmen, eine reine Fiktion ist, nämlich eine Sache, die nur in einem Roman vorkommen kann.

Am Ende stellt sich heraus, daß Mitterand das Geheimnis der siebten Sprachfunktion gekannt haben muß, weil er in einer Fernsehdebatte vor der Präsidentschaftswahl über Giscard, seinen Konkurrenten, gesiegt hatte. Philippe Sollers aber hat bei einem Rededuell in einem obskuren Diskussionsklub verloren, weil er nur eine Fälschung jenes Geheimnisses besaß.

Wie sich aus diesen Andeutungen ergibt, handelt es sich bei der rätselhaften siebten Sprachfunktion allenfalls um ein Bündel rhetorischer Prozeduren, um in einem Disput seine Meinung durchsetzen zu können. Es kann nämlich grundsätzlich keine nur dem Sprecher bekannte Sprachfunktion sein, weil die Sprache eine soziale Institution und die Rede eine öffentliche Sache ist. Um mit Wittgenstein zu reden, dessen Philosophie Binet offenbar nicht kennt, es kann keine Privatsprache geben.

Ich muß gestehen, daß diese Entdeckung, daß der thematische Clou des Romans — nach all den sprachtheoretischen Exkursen — nur ein märchenhafter Einfall ist, mich doch ein wenig enttäuscht hat. Es ist ein Kunstgriff, der einzig dazu erdacht wurde, um die dramatische Handlung zwischen Paris, Bologna, Ithaca, Venedig und Neapel in Gang zu setzen. Ich erspare es mir, den Verlauf der Ereignisse nachzuerzählen, die etwas schräge Fabel, die mit ihren Spionageagenten und Strichjungen, einem dubiosen Geheimklub, gelegentlich auf das Niveau des Trivialromans absinkt.

Erwähnt sei nur, daß Binet, offensichtlich sich im Kielwasser des entlarvenden, tabubrechenden Realismus Houellebecqs bewegend, auch ein paar derbe Pornoszenen serviert, und man fragt sich, was der Sinn und die Funktion dieser Einlagen sein könnte. Dabei fühlt man sich an den Film von Henri Verneuil Der Körper meines Feindes (1976) erinnert, eine scharf gezeichnete Gesellschaftssatire nach dem Roman von Félicien Marceau. In diesem Film überrascht und photographiert der Held den Bürgermeister der Stadt in Frauenkleidern bei einem Rendez-vous mit einem Transvestiten. Der Bürgermeister ist aber keineswegs geniert, sondern erklärt nur: „Seit der Studentenbewegung hat sich vieles verändert. Dies hier schockiert niemand mehr.“ So auch in Binets Roman. Wozu also die Pornoszenen?

Davon abgesehen hat der Roman nach eine metasprachliche Dimension, deren Sinn ebenfalls fragwürdig ist. Der Autor spricht nämlich bisweilen in eigenem Namen und reflektiert über Möglichkeiten des weiteren Handlungsverlaufs. Auch dies sind Einschlüsse, die längst ihre desillusionierende Wirkung verloren haben und nur die eitle Absicht des Romanciers bekunden, die Leser wissen zu lassen, daß er auch diesen Trick beherrscht.

In der Übersetzung kommen ein paar ärgerliche Sprachfehler vor. Der Genitiv von „Typ“ lautet „des Typs“, nicht „des Typen“ (S.334). „Normally sollte Simon in der Lage zu korrektem Englisch sein“ ist eine Fehlkonstruktion mit einem Seltenheitswert, der sie fast poetisch erscheinen läßt (S.343).

Die siebte Sprachfunktion ist ein historischer Roman, er beschreibt die Intellektuellen-Szene von Paris im Jahre 1980, und vermittelt, gewollt oder ungewollt, die nüchterne Wahrheit, daß es heute keine derartige Szene namhafter Geister mehr gibt. Paris hat heute keine nennenswerte Intellektuellen und übrigens auch keine überragende Romanciers mehr aufzuweisen. Allerdings sind sie auch sonst nirgendwo aufzufinden, am wenigsten in Old Germany. An anderer Stelle habe ich einige Gründe für das Aussterben der Gattung des Intellektuellen heute angeführt (cf. J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen, S.22f.).

Der einzige Intellektuelle, der aus der Schar der historischen Romanfiguren überlebt hat, ist BHL, Bernard-Henri Lévy, ein sogenannter „neuer Philosoph“, der im Roman als unvermeidliche, allgegenwärtige, aufdringliche Figur karikiert wird. Ihm ist es gelungen, den französischen Präsidenten 2011 zum militärischen Eingreifen in Libyen zu bewegen. Nicolas Sarkozy ließ „sich von dem Salonlöwen und Modephilosophen Bernard-Henri Lévy beraten und anspornen“, kritisiert Scholl-Latour (Die Welt aus den Fugen 2012, 91). Wie man weiß, endete die militärische Intervention in einem Chaos, sie hinterließ einen aufgelösten Staat.

Es war wohl der schlechteste Rat, den ein Intellektueller der Politik in neuerer Zeit geben konnte, genau genommen der „Verrat“ eines Intellektuellen, ein unrühmliches Ende der einst so gefeierten, mit Recht angesehenen Mandarine von Paris.

J.Q. — 28. Aug. 2021

© J.Quack


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