Der Zufall spielte mir dieser Tage Hans Küngs Buch Ist die Kirche noch zu retten? (2011) in die Hände, und so will auch ich noch ein Wort über den merkwürdigen Theologen sagen, der, genau genommen, ein Theologe ohne Kirche war, aber unbestreitbar, wenn auch in meinen Augen schwer zu verstehen, eine gewisse Publizität erlangen konnte.
Daß mit seiner theologischen bzw. kirchenpolitischen Lehre etwas nicht stimmen kann, liegt in dieser Schrift so offen zutage, daß man sich als Leser nur für dumm verkauft vorkommen kann. Er scheint aber wohl mit Lesern zu rechnen, die so unbedarft sind, daß sie seine zweifelhaften Proklamationen nicht durchschauen können.
Er schlägt zur Rettung der Kirche Heilmittel vor, die sich längst als untauglich für diesen Zweck erwiesen haben. Ihm geht es letztlich aber gar nicht um die Rettung der Kirche, sondern um die Rechtfertigung seiner eigenen Sache, um die Beglaubigung seines Rufs als überzeugender Papstkritiker. Gelegentlich hat man den Eindruck, daß er sich als berufener Gegenspieler des Papstes versteht, seines ehemaligen Kollegen Ratzinger. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit nennt er sich „Kirchenreformer“ (S.11). Seine Einlassungen sind aber von einem starken antirömischen Affekt durchtränkt, der bisweilen in blinden Haß und reine Torheit umschlägt.
Als Rettungsmaßnahmen für die Kirchenkrise nennt er die Kurien- und Kirchenrechtsreform, die Abschaffung der „Inquisition“, d.h. der Glaubenskongregation, die Zulassung der Priesterehe und der Frauenordination, die Beteiligung des Klerus und der Laien an der Bischofswahl, die Zulassung Geschiedener, die wieder geheiratet haben, zur Kommunion; die Mahlgemeinschaft zwischen Katholiken und Protestanten.
Es ist im wesentlichen der seit Jahrzehnten bekannte „Kanon der Kritik“ (Peter Seewald). Dazu der höfliche Kommentar Ratzingers: „Diese Fragen sind in der evangelischen Christenheit gelöst. Sie ist in diesen Punkten einen anderen Weg gegangen, und es ist ganz offenkundig, daß sie damit das Problem Christsein in der Welt von heute nicht gelöst hat“. D.h. sie hat noch mehr leerstehende Kirchen als die katholische Christenheit, noch weniger praktizierende Mitglieder als die römische Kirche. „Metz hat gefragt, warum wir uns denn eigentlich zu einer Doublette der evangelischen Christenheit machen sollen“ (Ratzinger, Salz der Welt 1997, 193). Genau dies aber scheint das Ziel von Küngs ökumenischen Bestrebungen zu sein. Denn er nennt jene Rettungsmaßnahmen ausdrücklich „Ökumenische Therapie“.
Im einzelnen wäre dazu vieles zu sagen. So ist es zum Beispiel falsch, von einem „Zwangszölibat“ zu sprechen (S.30), da die Ehelosigkeit der Priester natürlich auf einer freien Entscheidung beruht, und es ist doch nur logisch, daß bei einer Gemeinschaft der Kommunion vorausgesetzt ist, daß man das gleiche Verständnis der Eucharistie hat. Unsinnig ist, von einem „selbstfabrizierten Kirchenrecht“ zu sprechen (S.195); denn wer soll denn das Kirchenrecht verfassen, wenn nicht die Kirchenleitung und ihre sachkundigen Juristen? Die Abschaffung der „Inquisition“ (S.223), gemeint ist die Glaubenskongregation, als Kontrollinstanz zu verlangen, ist erst recht gedankenlos, da doch die über Jahrzehnte hin vertuschten Mißbrauchsfälle der Kleriker gezeigt haben, daß das Kirchenrecht gerade nicht streng und konsequent angewandt wurde.
Selbstverständlich sind einige Kritikpunkte Küngs durchaus begründet. So wenn er erklärt, das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung in der Enzyklika „Humanae vitae“ werde fälschlicherweise mit naturrechtlichen Argumenten begründet (S.37). Es stimmt aber nicht, daß das Schreiben mit einer „Aura der Unfehlbarkeit“ umgeben worden sei; denn jeder mündige Katholik weiß, daß Enzykliken an sich nicht unfehlbar sind (S.51; 158). Wenn er dann, allerdings in recht verschwommenen, letztlich unlogischen Worten, zu meinen scheint, daß die Abtreibung unter gewissen Bedingungen erlaubt sei, stellt er sich außerhalb der katholischen Ethik (S.196f.; 244).
Das ganze Buch fußt auf der Annahme, daß die unbestreitbare Krise der Kirche eine „Kirchenleitungskrise“ sei (S.11). So richtet sich seine Kritik vor allem auf das Papsttum in Geschichte und Gegenwart. Bei aller berechtigten Kritik an der Skandalgeschichte mancher Päpste, bei Küng ist diese Einstellung zu einer fixen Idee, zu einem unkorrigierbaren Vorurteil geworden, das sein historisches Urteil nicht nur in vieler Hinsicht, sondern in einem entscheidenden Punkt trübt, den ich zum Schluß nennen werde. Daß ihm die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde, weil er den Primat des Papstes bestritt, scheint er nie überwunden zu haben.
Was er gegen Papst Benedikt einwendet, ist teils albern, teils unbegründet oder falsch. Er wirft ihm tatsächlich vor, daß er als Papst rote Schuhe trage (S.202); daß er die Mundkommunion wieder praktiziere, als habe Küng nie gehört, daß manche die Hostie mißbrauchten (S.203). Er tadelt Benedikt, weil er die lateinische Messe bevorzuge und sie mit dem Rücken zum Volk feiere (S.22), als lasse sich diese Haltung nicht ebenso gut begründen, wie die Haltung des Zelebranten bei der neuen Liturgie. Benedikt hat die lateinische Messe aber nur wieder zugelassen, sie nicht als Hauptform wieder eingesetzt. Außerdem ignoriert Küng den Nachteil der volkssprachigen Liturgie, daß sie die Nationalisierung der Kirche gefördert hat, was ihrem übernationalen Charakter aber eklatant widerspricht. Nicht ohne Grund haben weitgereiste Intellektuelle wie Graham Greene und Peter Scholl-Latour die Abschaffung der lateinischen Messe immer lebhaft beklagt.
Küngs Behauptung, Benedikt habe die Karfreitagsfürbitte revidiert, in der er „wieder für die Bekehrung der Juden zu Christus beten läßt“, ist falsch (S.175). Denn in der neuen Fürbitte wird „nun nicht unmittelbar für die Bekehrung der Juden im missionarischen Sinne gebetet, sondern daß der Herr die geschichtliche Stunde herbeiführen möge, in der wir alle miteinander vereint sein werden“ (Benedikt XVI., Licht der Welt 2010, 133). Übrigens hat ein Rabbiner von New York diese Fürbitte verteidigt, da auch die gläubigen Juden täglich dafür beteten, daß die Ungläubigen den Namen Jahwes anriefen (l.c.132f.).
Küng moniert, Benedikt habe sich sogar vier „antisemitischen schismatischen Bischöfen der Pius-Bruderschaft angenähert“ (S.201). Richtig ist aber, daß nur einer dieser Bischöfe bekennender Antisemit war, was man aber nicht wußte. Denn dieser Umstand wurde vom schwedischen Fernsehen erst nach dem päpstlichen Erlaß, Januar 2009, veröffentlicht, obwohl das Interview, in dem Bischof Williamson die Gaskammern der Nazis leugnete, schon im November 2008, geführt worden war (Licht der Welt 2010, 150). Übrigens mußte die Exkommunikation jener Bischöfe aus kirchenrechtlichen Gründen aufgehoben werden, weil sie den Primat des Papstes anerkannten.
Küng wirft Benedikt Versagen und Vertuschung beim Mißbrauchsskandal der Kleriker vor (S.12; 28), obwohl Benedikt es war, der strengere rechtliche Voraussetzungen für die Bestrafung der pädophilen Kleriker geschaffen und sich energisch für die Aufklärung der Mißbräuche eingesetzt hat.
Völlig abwegig, gewollt beleidigend ist die Meinung, Benedikt sei ein „gelehrter Autist“, ein Vorwurf, den Küng übernimmt (S.204) – was der überall sichtbaren pastoralen Tätigkeit Benedikts einfach widerspricht.
Absurd ist schließlich der Einwand, daß Benedikt Bücher schreibe, die er schon früher schreiben wollte (S.204). Wohlgemerkt, damit ist nichts anderes als die dreibändige Jesus-Monographie gemeint, die meines Erachtens das bedeutendste Ereignis, die wichtigste Schrift seines Pontifikats ist, und man kann Peter Seewald nur zustimmen: „Zum ersten Mal legt damit ein amtierender Papst eine dezidierte theologische Studie über Jesus Christus vor“ (Licht der Welt S.198). D.h. aber, daß in der langen Geschichte der Päpste keiner seiner Vorgänger zu einer solchen Leistung fähig und qualifiziert war. Es ist für katholische Christen das wichtigste religiöse Buch unserer Zeit.
Küngs historische Ausführungen sind durchweg papstkritisch ausgerichtet. Ich möchte davon nur weniges erwähnen, so das anfechtbare Urteil, daß hauptsächlich die Päpste für die Kirchenspaltungen verantwortlich seien (S.13). Man liest dann auch tatsächlich die überaus naive Meinung, die Reformation hätte verhindert werden können, wenn man die Volkssprache in der Liturgie, die Kelchkommunion und die Priesterehe eingeführt hätte (S.112). Von den tiefgehenden Glaubensdifferenzen ist keine Rede.
Ein Zeichen historischer Unkenntnis ist die Aussage, der vom Papst „immer wieder angefachte Streit um die alleinige Wahrheit“ sei ein Hauptfaktor im Dreißigjährigen Krieg gewesen (S.119). Richtig ist vielmehr, daß die Päpste in diesem Konflikt nur eine periphere Rolle spielten. Urban VIII. (1623-1644), Herr des Kirchenstaates, verfolgte in diesem Konflikt weniger konfessionelle als politische Interessen (cf. , Döblins Wallenstein , S.76ff). Die Religionsfrage war schließlich für die wechselnden Koalitionen nebensächlich. In Wahrheit war dieser Krieg ein politischer Kampf zwischen dem katholischen Habsburg, dem katholischen Frankreich und dem evangelischen Schweden um die Vorherrschaft in Deutschland und Mitteleuropa. Das Ergebnis aber war eine völkerrechtliche Neuerung mit weithin bestimmenden, bis heute geltenden Folgen: die Anerkennung der Souveränität der einzelnen Staaten (cf. Henry Kissinger, Weltordnung 2014, 31ff.).
Schließlich schlägt Küngs Papstkritik in gehässige Polemik ohne Maß und Ziel um, wenn er päpstliche Einrichtungen mit Nazi-Organisationen vergleicht. Er nennt das Heilige Offizium, später Glaubenskongregation genannt, tatsächlich „Sicherheitshauptamt des katholischen Glaubens“ (S. 139) – Sicherheitshauptamt hieß die zentrale SS-Behörde. Im Hinblick auf Pius XII. spricht Küng von „Führer“-Katholizismus (S.150) und den Treueid der Bischöfe auf den Papst vergleicht er „mit dem damaligen Treueeid deutscher Soldaten auf den ‚Führer‘, dem ‚unbedingten Gehorsam zu leisten‘ war. Damit soll natürlich nicht der Papst mit dem ‚Führer‘ verglichen werden, sondern der vorbehaltlose Charakter dieses Eids und dessen psychologische Wirkung.“ (S.171) Verlogener und heuchlerischer kann man sich ja nicht ausdrücken als in diesem Satz, der überdies noch unvollständig oder ungrammatisch ist.
Abgesehen aber von all diesen Halbwahrheiten, Falschheiten über das Papsttum und Diffamierungen des gegenwärtigen Papstes, der wichtigste Einwand, den man Küng in dieser Hinsicht machen muß, ist der, daß er die welthistorische Bedeutung des Papsttums nicht erkannt hat: nämlich daß sie die gänzlich neue Idee von der Teilung der weltlichen und geistlichen Macht in die Welt brachte: „Die Trennung und die immer neuen Konflikte von Kirche und Staat, die für die westliche Kultur typisch sind, hat es in keiner anderen Kultur gegeben. Diese Teilung der Herrschaft hat unermeßlich viel zur Entwicklung der Freiheit im Westen beigetragen.“ (Samuel Huntington, Kampf der Kulturen 2002, 100).
Zum Kern von Küngs Selbstverständnis stößt man vor, wenn man seine unerwartete, frappierende Aussage liest, die katholische Kirche sei seine Kirche geblieben (S.11). Dann behauptet er aber, „die weltweite Gemeinschaft der Gläubigen und Engagierten, die auch die engen Grenzen der verschiedenen Konfessionen überschreitet“, sei „die wahre Kirche“ (S.64). Benedikt wiederum wirft er vor, daß für ihn die evangelischen Kirchen „überhaupt keine Kirchen im eigentlichen Sinn“ seien (S.22).
Daß in Küngs Aussagen einiges nicht stimmen kann, ist offensichtlich. Die Definition, was Kirche ist, ist für katholische Christen Sache des Konzils, an das der Papst gebunden ist. Daß aber die Protestanten nicht als Kirche, sondern als „kirchliche Gemeinschaft“ bezeichnet wurden, war eine Entscheidung des Zweiten Vatikanums (Licht der Welt S.120f.). Benedikts Aussage ist also die vom Konzil erklärte Lehre der katholischen Kirche, der Küng sich immer noch zurechnet, obwohl sie seinem Kirchenverständnis doch augenscheinlich widerspricht. Er wirft Benedikt vor, daß er sich gegen das Konzil, die „oberste Autorität in der katholischen Kirche" stelle (S.22), weicht aber in seinem Kirchenverständnis selber vom Konzil ab. Darin vor allem besteht die Unglaubwürdigkeit dieses Autors, der merkwürdigerweise so viele Leser gefunden hat.
Was aber seine Rettungmaßnahmen für die Krise der Kirche angeht, so hat er die wirkliche Ursache dieses Elends überhaupt nicht erkannt, im Unterschied zu Benedikt, der sich dieser Tatsache wohl bewußt ist: die Krise des Glaubens, den Verfall des christlichen Glaubens, die fortschreitende religiöse Indifferenz, den verbreiteten christlichen Analphabetismus, den Atheismus.
Das Wort „Glaubenskrise“ kommt ein einziges Mal in Küngs Buch vor, als Zitat, als Wort eines anderen Sprechers (S.31). Er ist, in einer beruflichen Deformation als Theologe mit den Scheuklappen eines Religionsspezialisten, so sehr auf die innerkirchlichen und zwischenkirchlichen Zustände und Phänomene fixiert, daß er den Schwund des Glaubens bei vielen Mitgliedern und Außenstehenden völlig übersehen hat. Der Glaube ist aber doch die raison d‘être, der Existenzgrund der Institution, die hier zur Debatte steht.
Daß er die Kirchenkrise als Kirchenleitungskrise betrachtet und nicht erkannt hat, daß es sich um eine Glaubenskrise handelt, ist mein Hauptvorwurf gegen dieses Buch und seinen Autor, den man im übrigen als Denker und Wissenschaftler kaum ernstnehmen kann.