Kant erklärt in seinen „Präliminarartikeln zum ewigen Frieden“: „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.“ Als Grund führt er an: „Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte.“
Im gegenwärtigen Konflikt hat aber die Hamas, wenn die Berichte stimmen, derartige Feindseligkeiten begangen, daß jedes Vertrauen zwischen den Gegnern ausgeschlossen und ein künftiger Frieden zwischen ihnen unmöglich ist.
Kants Artikel besagt auf deutsch, daß keine Kriege geführt werden sollten, die die Vernichtung des Gegners zum Ziel hätten. Genau dies ist aber hier der Fall. Beide Parteien erstreben die Vernichtung des Gegners, Hamas verfolgt das Programm, den Staat Israel zu vernichten und statt dessen einen islamistischen Staat zu gründen. Israel dagegen hat sich vorgenommen, die Hamas zu vernichten.
Es ist kein Krieg zwischen Staaten, sondern ein asymmetrischer Krieg zwischen einem Staat und einer militanten Organisation - und nicht ohne Risiken für Israel. Es muß ein Übermaß von Gewalt einsetzen, um Gebäude zu zerstören, die möglicherweise Stützpunkte der Hamas waren. Es wird vielleicht die meisten militärischen Strukturen der Hamas beseitigen können, doch wird es kaum die religiös-politische Bewegung der Hamas buchstäblich vernichten können.
Außerdem, die täglichen Bilder von der rabiaten Zerstörung von Wohngebäuden und Sprengungen in Wohngebieten wird dem Ansehen Israels nicht nur in der arabischen und islamischen Öffentlichkeit erheblich schaden, sondern auch in der öffentlichen Meinung der Welt.
Der Generalsekretär der UNO hat erklärt, ein Grund oder ein Anlaß für den Terrorüberfall der Hamas sei das unerträgliche Flüchtlingselend im Gazastreifen gewesen. Daran ist wahr, daß die Hamas, ein Ableger der islamistischen Moslimbruderschaft, 1987 während der ersten Intifada, der gegen die israelische Besatzungsmacht gerichteten Aktivitäten der Palästinenser, gegründet wurde. Wahr ist, daß es wahrscheinlich keine Hamas gäbe ohne das palästinensische Flüchtlingsproblem.
Nach dem internationalen Völkerrecht ist eine Besatzungsmacht für das Wohl der besetzten Bevölkerung verantwortlich. Indem Israel die Besetzung des Gazastreifen aufgegeben und zum autonomen Gebiet erklärte, hat es die Verantwortung für die Flüchtlinge der UNO übertragen.
Es hat aber zusammen mit Ägypten die Kontrolle in Form von Zugängen, Lieferung von Strom und Wasser über das Gebiet behalten. Es hat das Gebiet fast völlig isoliert; es hat, aus Gründen der militärischen Sicherheit, die Bahnen des Flughafens zerstört und die Anlage eines Seehafens verhindert. Eine selbständige Außenwirtschaft der Menschen in Gaza ist derart unmöglich gemacht.
Probleme der Besatzung
Was das Westjordanland angeht, so hat Israel ihm keinen eindeutigen Status gegeben. Ein Teil wird als besetztes Gebiet behandelt, das teils unter autonomer Verwaltung steht; doch hat Israel als Besatzungsmacht die letzte Verantwortung für das Wohlergehen der Bevölkerung. Ein anderer Teil wird als erobertes Gebiet betrachtet, das nun von Israelis besiedelt wird.
Wie ist diese Lage völkerrechtlich zu verstehen? Wenn man das gesamte Westjordanland als Besatzungsgebiet betrachtet, dann wäre die israelische Besiedlung nach internationalem Recht nicht erlaubt.
Das internationale Völkerrecht ist jedoch nicht zu vergleichen mit dem innerstaatlichen Recht, das ein Zwangsrecht ist, dem man einfach gehorchen muß, sonst wird man betraft. Das Völkerrecht ist dagegen eine Vertragsangelegenheit zwischen Staaten. Ein souveräner Staat aber kann, wie Henry Kissinger nüchtern feststellt, Verträge schließen und Verträge kündigen. Im vorliegenden Fall wäre also zu fragen, ob Israel das Völkerrecht in dem besagten Punkt überhaupt anerkennt. Im Falle Ostjerusalems besteht Israel jedenfalls auf seinem unaufgebbaren Besitzrecht.
Zwei Staaten?
Wären zwei Staaten eine Lösung, wie neuerdings wieder die USA vorgeschlagen haben? Gemeint ist ein souveräner palästinensischer Staat, bestehend aus dem Westjordanland und Gaza. Dagegen sprechen gewichtige Fakten und Gründe.
1. Israel kann aus Sicherheitsgründen die militärische Kontrolle über das Westjordanland niemals aufgeben.
2. Staaten, die aus zwei getrennten Territorien bestehen, befinden sich in einem labilen Zustand – siehe das damalige West- und Ostpakistan, und siehe die isolierte Lage Ostpreußens, die zu einem Krieg führte.
3. Ein Unruhefaktor ist auch die Uneinigkeit der Palästinenser unter sich, die nur ein weiteres oder lokales Exempel der notorischen Uneinigkeit und Zerstrittenheit der arabischen Welt insgesamt ist. Sie geht auf die gesellschaftliche Verfassung zurück, die aus Stammesstrukturen besteht, und zudem auf religiöse Differenzen.
4. Der Historiker Noam Zadoff erklärt, eine Zweistaatenlösung scheine deshalb undenkbar, „da beide Gesellschaften – Israelis und Palästinenser – bereits zu sehr ineinander verflochten und voneinander abhängig sind“ (N.Z., Geschichte Israels 2020, 131).
5. Die Lösung des Problems hängt hauptsächlich von Israel ab, der stärksten Macht der Gegend, und Israel dürfte einer Zweistaatenlösung wohl kaum zustimmen. Es bleibt also bei der bisherigen unhaltbaren Lage.
Zur Erinnerung: Eine alte Moskauer Chronik bemerkte zu der Tatarenherrschaft: „Diese unhaltbare Lage dauerte vierhundert Jahre lang“.
Zadoff beschreibt das Dilemma: „Israel wird nicht jüdisch bleiben können, wenn die Gebiete annektiert sind und die Palästinenser Bürgerrechte bekommen, und es wird nicht demokratisch bleiben, wenn die Palästinenser in dieser Situation keine Rechte erhalten würden.“ (l.c.131)
Historisches
Wenn man die Balfour-Deklaration von 1917 als Geburtsurkunde des Staates Israel ansieht, dann erklärt sie, warum Israel an einem Geburtsfehler leidet, der bis heute seine außenpolitische Situation bestimmt und extrem belastet. Der britische Außenminister Balfour erklärte damals, die britische Regierung „betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina … wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina … infrage stellen könnte“.
Zu diesem fragwürdigen diplomatischen Meisterstück bemerkt Henry Kissinger: „Dieser Formulierung war ein gerüttelt Maß Zweideutigkeit beigemengt, da sie wohl insgeheim dasselbe Territorium auch dem Großscherifen von Mekka versprochen hatte.“ (H.K., Weltordnung 2014, 131)
Daß es dann aber tatsächlich zur Gründung des Staates Israel kam, war eine direkte Folge des Völkermordes an den Juden durch die Nationalsozialisten, wie Sebastian Haffner schreibt: "Zum ersten Mal seit fast zweitausend Jahren haben die Juden seit Hitler wieder einen Staat - einen stolzen und ruhmbedeckten Staat. Ohne Hitler kein Israel." (Anmerkungen zu Hitler 2003, 168) Der Staat sollte eine Zufluchtstätte für die Juden in aller Welt sein, nachdem sie die Erfahrung hatten machen müssen, daß sie in keinem Land wirklich willkommen waren.
Diese Gründe oder Ursachen konnte die arabische Seite niemals anerkennen, wie ein saudischer König gegenüber Präsident Franklin D. Roosevelt bekannte: „Warum sollen die Araber mit ihrem Gebiet für die Verbrechen bezahlen, die in Europa am jüdischen Vok begangen wurden? Warum sollen die Araber die biblischen Ansprüche einer Religion akzeptieren, die nicht die ihre ist?“ (zit. H.Kissinger, Jahre der Erneuerung 1999, 280)
Damit sind die beiden wichtigsten Fakten genannt, die es außerordentlich erschweren, daß es zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn zu einer friedlichen Koexistenz im Sinne einer Weltordung kommt, die sich nach den Prinzipien des Westfälischen Friedens richtet und die gegenseitige Anerkennung souveräner Staaten fordert (Kissinger).
Dem aber wäre die Frage hinzuzufügen, wie es mit dem Selbstverständnis eines Staates bestellt ist, der seine Existenzberechtigung religiös legitimiert, dessen Bevölkerung aber in der übergroßen Mehrheit ungläubig oder religiös indifferent ist?
♦ Die Geschichte Israels hat ein völkerrechtliches Kuriosum zu verzeichnen, auf das wiederum der kompetenteste Politiker unserer Tage, Henry Kissinger, aufmerksam gemacht hat. Nach dem Teilungsplan der UNO für Palästina kam es 1948/49 zu einem Krieg zwischen dem neugegründeten Israel und seinen arabischen Nachbarn. Am Ende hatte Israel sein Territorium verdoppelt. Der Zustand wurde aber zunächst international nicht anerkannt.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg vom Sommer 1967 kam es jedoch im November zu der berühmten Resolution Nummer 242 des Sicherheitsrates, die Israel aufforderte, sich auf „sichere und anerkannte Grenzen“ zurückzuziehen, nämlich auf die Grenzen von 1967. Damit aber waren die eroberten Gebiete von 1949 völkerrechtlich anerkannt: „Die Grenzen von 1967, die solange sie bestanden, kein arabischer Staat je anerkannt hatte, wurden nun in den Augen der Araber geradezu sakrosankt und für Verhandlungen mit jenen Staaten, die dazu bereit waren, die absolute Voraussetzung“ (H. Kissinger, Jahre der Erneuerung 1999, 280f.).
♦ Objektiv betrachtet, verhält sich der Staat Israel wie jeder Staat seit Menschengedenken: es betreibt reine Machtpolitik, es verteidigt unnachgiebig seine nationalen Interessen und versucht sie wann immer möglich durchzusetzen – im Zweifelsfalle auch gegen seine Schutzmacht, die Vereinigten Staaten.
Dabei kam es zweimal zu ernsten Konflikten mit den USA. Im Suez-Krieg von 1956, in dem Israel mit England und Frankreich gegen die Nationalisierung des Suez-Kanals kämpfte, mußte Israel sich auf Druck von Präsident Eisenhower zurückziehen und die eroberten Gebiete wieder räumen.
Im Sechs-Tage-Krieg von Juni 1967 kreuzte das Spionageschiff der NSA, die Liberty, vor der Küste der Sinai-Halbinsel, um den Funkverkehr der israelischen Armee abzuhören. Obwohl es eine weithin sichtbare amerikanische Flagge trug und namentlich als amerikanisches Schiff erkennbar war, wurde es von israelischen Kampfflugzeugen und Tropedo-Booten bombardiert und leck geschossen. Dabei wurden 24 amerikanische Militärangehörige getötet und 171 verwundet. Der Grund für diese Aktion gegen das Abhörschiff stellte sich später heraus: Sehr wahrscheinlich wollten die Israelis ihre Kriegsverbrechen vertuschen, die Tötung von UN-Soldaten und ägyptischen Gefangenen auf dem Sinai.
Israel hat die Affäre immer als Irrtum ausgegeben und die Überlebenden kümmerlich entschädigt. Präsident Johnson, außenpolitisch ebenso unbegabt wie glücklos, hat die Affäre aus innenpolitischen Gründen auf sich beruhen lassen und über sie strengste Geheimhaltung verhängt. — Nachzulesen in dem detaillierten Bericht von James Bamford, NSA (2001, 212-242).
♦ Daß Israel nicht mit sich spaßen läßt, zeigte sich auch zu Beginn des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973, in dem Israel von Ägypten und Syrien überraschend angegriffen wurde. Als eine israelische Gegenoffensive auf dem Sinai fehlschlug, gab Golda Meir, damals Ministerpräsidentin, den Befehl, dreizehn Raketen mit Atomgranaten zu bestücken (Zadoff, Geschichte Israels 2020, 93). Sie kamen dann nicht zum Einsatz, als das Kriegsglück sich wendete.
Übrigens scheint Kissinger, der damals als Außenminister den amerikanischen Beistand für Israel organisierte und managte, von jener prekären Maßnahme Meirs nichts gewußt zu haben. In seinen Memoiren erwähnt er sie jedenfalls mit keinem Wort.
Wie man sieht, ist es heute nicht das erste Mal, daß das Land von einem Angriff seiner Feinde überrascht wurde.
Der Krieg hat kein Erbarmen.
Im Pentagon wird ohne Scheu zugegeben, daß die systematische Irreführung ein unentbehrliches Instrument der psychologischen Kriegsführung geworden ist.
Ein kluger Politiker muß für seine Feinde mitdenken.
Würde Israel den Iran auch dann massiv bombardieren, wenn der Iran Atombomben besäße? Würde der Iran seinerseits Israel so stark bombardieren, daß die Existenz Israels gefährdet würde und daß Israel mit einem Atomschlag antworten würde? Wenn der Iran die Atombombe hätte, könnte er sie auf drei Wegen nach Israel bringen: auf dem Landweg, auf dem Luft- und Seeweg. Ist Israel militärtechnisch in der Lage, jede dieser Möglichkeiten auszuschalten? Was passiert, wenn eine Rakete, die mit einer Atombombe bewaffnet ist, abgeschossen wird? Explodiert dann die Bombe? Über dem Luftraum Israels, Syriens, des Libanon?
Wenn Israel von der Atombombe getroffen würde, könnte es von seinen U-Booten aus einen zweiten Schlag ausführen. Die U-Boote hat übrigens die Bundesregierung geliefert, der substantiellste Beitrag zur Sicherheit Israels. Würde der Iran dieses Risiko eingehen? Oder würde das Regime dem Beispiel Nordkoreas folgen und die Atombombe als Mittel der Abschreckung benutzen, um das eigene Land vor feindlichen Angriffen zu schützen?
Sachlich besteht der Konflikt darin, daß der Iran Kernwaffen vermutlich zum Selbstschutz und zur Abschreckung erstrebt, während Israel das Risiko ausschalten will, daß der Iran die Atombombe tatsächlich gegen Israel einsetzen würde.
Soweit bekannt ist, hat Israel selbst einmal ernsthaft daran gedacht, Atombomben einzusetzen, im Oktober 1973 während des Jom-Kippur Krieges, als es von Syrien und Ägypten überraschend angegriffen wurde. Als eine israelische Gegenoffensive auf dem Sinai fehlschlug, gab Golda Meir, damals Ministerpräsidentin, den Befehl, dreizehn Raketen mit Atomgranaten zu bestücken (N. Zadoff, Geschichte Israels 2020, 93). Sie kamen dann nicht zum Einsatz, als das Kriegsglück sich wendete.
„Israel verfügt über ein beachtliches Nuklear-Arsenal mit (mindestens) zweihundert perfektionierten Sprengköpfen“ (P. Scholl-Latour, Kampf dem Terror, Kampf dem Islam. 2003,47) Kann man im Ernst behaupten, die Existenz eines Landes sei bedroht, das über 200 atomare Sprengköpfe verfügt?
Viele drängende Fragen, die von unseren Politikern leider nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Die Staatschefs der G7-Länder geben eine Erklärung ab, in der sie das Selbstverteidigungsrecht Israels betonen, ohne zu erwähnen, daß Israel diesen Krieg gegen den Iran vom Zaun gebrochen hat. Auch haben sie vergessen zu sagen, daß der Iran selbstverständlich für sich auch das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nimmt. Erst recht haben sie verschwiegen, daß der Angriff Israels nach der Meinung vieler Experten gegen das Völkerrecht verstößt.
Es ist nichts dagegen zu sagen, daß die westlichen Politiker die Partei Israels ergreifen. Scheinheilig ist nur, daß sie nicht zugeben, daß diese Politik reine Machtpolitik ist. Das ist nichts Neues in der Weltgeschichte, obwohl es die uns regierenden Köpfe nicht zugeben möchten. Unerträglich ist die Verlogenheit, daß sie die simpelste, brutalste Machtpolitik moralisch verbrämen wollen.
Als Israel die ersten Angriffe gegen Teheran flog, verlangten westliche Politiker allen Ernstes vom Iran, er solle nicht militärisch reagieren, sondern an den Verhandlungstisch zurückkehren. Weltfremder, unsachlicher und törichter kann ein Politiker sich ja kaum äußern. Man fragt sich: Was haben diese Staatslenker statt eines Verstandes denn in ihrem Kopf, daß sie nur Phrasen von sich geben können? Und warum bleiben sie nicht bei den gewohnten Plattitüden und wollen unbedingt originell sein wie kürzlich der Kanzler mit seinem außenpolitisch unsäglichen Interview?
Eine wohl beabsichtigte Folge dieses Militärschlages gegen den Iran aber ist, daß Israels kaum zu rechtfertigender Rachefeldzug mit den 55.000 toten Palästinensern in Gaza in den Hintergrund der öffentlichen Meinung getreten ist. Hier bestätigt sich die Binsenweisheit: Wer einen verbrecherischen Gegner bekämpft, läuft Gefahr, selbst Kriegsverbrechen zu begehen.
Welche Lehre aber wird der Iran aus diesem Debakel ziehen? Wird er das Streben nach einer Atombombe aufgeben oder mit aller Macht versuchen, so schnell wie möglich, eine Bombe zu bauen, sei sie auch noch so primitiv? Wird das Regime nicht auch daran denken, eine Bombe von anderen zu erwerben?
Hat nicht die lange Zeit des Kalten Krieges gezeigt, daß der Besitz der Atombombe letzten Endes immer den Gegner davon abgehalten hat, einen heißen Krieg zu beginnen? Gilt diese Lehre nicht auch noch für die unmittelbare Gegenwart?
Indien und Pakistan liefern sich eine militärische Auseinandersetzung in der Region von Kaschmir. Warum bleibt dieser Konflikt aber lokal begrenzt? Würde er nicht auf die beiden Länder ausgreifen, wenn Pakistan und Indien keine Kernwaffen besitzen würden? „Wenn die Islamische Republik Pakistan durch die weit überlegenen Streitkräfte der Indischen Union aus Anlaß des Kaschmir-Konflikts bisher nicht attackiert wurde, so verdankt Islamabad das seinem rudimentären, aber durchaus einsatzfähigen Atompotential.“ (Scholl-Latour, l.c. 47f.)
Henry Kissinger berichtet von einer ähnlichen Strategie im Grenzstreit am Ussuri zwischen der Sowjetunion und China. Wie Jahre später bekannt wurde, erwog die Sowjetunion im Oktober 1969 einen Präventivschlag gegen China. Sie glaubte dieses Risiko eingehen zu können, weil die atomaren Streitkräfte Chinas noch sehr klein waren und dies der letzte Zeitpunkt für eine derartige Aktion war (H. Kissinger, China 2011, 231f.). Heute wäre ein derartiger Schlag gegen das atomar hochgerüstete Land völlig ausgeschlossen.
Die kritischste Phase im Kalten Krieg, wo es fast zu einem Atomkrieg gekommen wäre, war bekanntlich die Kuba-Krise im Oktober 1962. Aus den Memoiren des russischen Diplomaten Valentin Falin konnte man dann erfahren, daß wir noch ein weiteres Mal an der Schwelle der Katastrophe standen.
Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 wollten die Amerikaner im Oktober an der Friedrichstraße den Sektorenübergang mit einem Konvoi erzwingen und „mit gepanzerten Bulldozern die Grenzsicherungen der DDR einrennen“. Die Sowjets aber warnten die Amerikaner, daß sie entschlossen seien, Gewalt mit Gewalt zu beantworten: „Bis zu einer Panzerschlacht kam es, wie bekannt, nicht. Politiker und Diplomaten zogen die Panzer auseinander. … Mir brachten die letzten zehn Tage des Oktober 1961 die engste Berührung mit dem realen Krieg in Mitteleuropa seit 1945. Zweihundert Meter und eiserne Nerven trennten uns vom Nichtwiedergutzumachenden.“ (V. Falin, Politische Erinnerungen, 1993, 346).
Der Berliner Mauerbau hat übrigens die Politologin Hannah Arendt zu einer unglaublich törichten Diagnose veranlaßt. Sie meinte allen Ernstes, die Berliner hätten die Feuerwehr alarmieren sollen, die das Bauen hätten unterbinden können (Brief an K. Jaspers 1. Nov. 1961). Die Vertreterin der politischen Philosophie hatte nicht die geringste Ahnung von der realpolitischen Krisensituation, der möglichen militärischen Konfrontation der Supermächte. Diese Realitätsblindheit wirft natürlich auch ein Licht auf ihre meist forsch vorgetragenen Meinungen insgesamt in politicis. Es gibt also nicht nur Politiker, die offensichtliche Krisen falsch einschätzen, sondern auch politische Fachleute und Berater.
Der gegenwärtige Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran scheint aber doch allen Sehenden vor Augen zu führen, daß der Besitz der Atombombe ein Mittel sein kann, sich vor Angriffen seiner Feinde zu schützen. Das Beispiel Chinas, Indiens, Pakistans, Nordkoreas scheint diese Lehre zu bestätigen.
Die Folgen des kriegerischen Abenteuers, das wir gerade erleben, sind natürlich noch nicht abzuschätzen. Doch hat eine Vermutung viel für sich: Wer immer in Teheran das Land beherrscht, ein islamistisches Gremium, eine Militärjunta, eine Oligarchie oder ein demokratisches Gebilde, das Regime wird hochgradig nationalistisch eingestellt sein und den gegenwärtigen Militärschlag gegen das Land nicht vergessen. Der Nahe Osten bleibt, ohne Aussicht auf eine Lösung der politischen Probleme, eine friedlose Region.