Josef Quack

Falscher Ruhm

Über W.G.Sebald, Austerlitz (2001).



Höchst kennzeichnend für die heutige Kritik: fast nie kompromittiert sie einen Autor mehr als wenn sie lobt. Und das ist im ganzen ja in der Ordnung, sofern sie nämlich das Nichtswürdige vorzugsweise lobt.

W.Benjamin

Sebalds Name wird selten genannt ohne den Zusatz, daß eine New Yorker Zeitung ihn für den Nobelpreis vorgeschlagen habe. Sprich: für unsere Intellektuellen, die den US-Medien notorisch hörig sind, stellen diese Kritiker eine Autorität dar, und den Nobelpreis halten sie für die denkbar höchste Auszeichnung. Daß jene aber gerade Sebald ausgewählt haben, zeigt, daß sie auch nicht gescheiter sind als die deutschen Rezensenten und respektiven Preiseverteiler, die ihn mit literarischen Ehrungen überhäuft und sein Hauptwerk, Austerlitz, "enthusiastisch" begrüßt haben. Dieser Ausdruck, der tatsächlich auf die Leidensgeschichte eines Verfolgten des Nazi-Regimes angewandt wurde, läßt aber vermuten, daß hier etwas fundamental falsch sein muß.
Und so ist es auch. Das Buch hat keine Gattungsangabe, was wohl als Hinweis auf den dokumentarischen Gehalt des Textes zu verstehen ist und nahelegt, daß der Eindruck des Authentischen erschlichen wird. In Wirklichkeit haben wir es mit einem Roman, einer fiktionalen Erzählung zu tun, die sich auf Fakten und Dokumentationen stützt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der 1939 als Kind von seinen tschechisch-jüdischen Eltern nach England geschickt wird, erst als Heranwachsender seine wahre Identität erfährt und in einem langen Prozeß der Suche sich an sein früheres Schicksal erinnert, an die Deportation seiner Mutter nach Theresienstadt, ihren Tod und an seinen in Paris verschollenen Vater. Das Lob gilt dem Thema, als habe Sebald es als erster behandelt und als sei er nicht von H.G.Adler und J.Améry abhängig, und die Kritik ist eine reine Gesinnungskritik, die blind ist gegen die intellektuellen und literarischen Schwächen des Buches.
Nüchtern und rational betrachtet, sind die sprachliche Armut und Ungeschicklichkeit, die stilistisch-erzählerische Unbeholfenheit, die als Vorzüge ausgegeben wurden, die Unglaubwürdigkeit der Menschenzeichnung, die psychologische Ahnungslosigkeit und schließlich die moralische Anmaßung des Autors so gravierend, daß man nicht umhinkann, an dem Verstand der Lobredner zu zweifeln.
Sebald hat es tatsächlich fertiggebracht, dem bewegendsten Sujet die denkbar ödeste Form zu geben, und sein Buch ist eines der unlebendigsten und langweiligsten Prosastücke, die in den letzten Jahren erschienen sind. Er präsentiert den Text in einer weitgehend abschnittlosen, blockartigen Form, die ihre gewollte Analogie in der Ästhetik des Widerstandes von Peter Weiss hat. Das Werk von Weiss aber war deshalb ein großer Wurf, weil es in der Spätzeit des politisch wirksamen Marxismus in einer überzeugenden Art, als Resümee einer Epoche des Geistes, darstellte und darlegte, warum der Marxismus auf viele Intellektuelle eine Faszination ausüben konnte, die historisch Uninformierten heute ganz unverständlich ist. Weiss verfügte über eine eminente bildkünstlerische Bildung, über literarischen Verstand, erzählerische Phantasie und poetische Begabung, welche Vorzüge seinem epigonalen Verehrer evidentermaßen abgehen. Auch war Weiss, übrigens ebenso wie Améry, sich schmerzlich bewußt, daß er die Sprache eines Exilanten spricht, die von den Quellen der lebendigen, gesprochenen Rede abgeschnitten ist, und er hat die größten stilistischen Anstrengungen unternommen, diesen Mangel auszugleichen.
Sebald, der jahrzehntelang aus rein privaten Gründen in England lebte, kokettiert mit seiner sprachlichen Dürftigkeit. Er schreibt ein blasses, trockenes, eintöniges Papierdeutsch, das seine Verehrer "altmeisterlich" nennen, während es mit den ältlichen Wörtern, ‚oftmals' und ‚trotzdem' als Konjunktion, doch nur so klingt, als sei es einem verstaubten Sprachführer entnommen. Er kultiviert einen Manierismus der endlosen Bandwurmsätze im Sinne jener Schulmänner, die nur in ganzen Sätzen sprechen, weil sie immer das letzte Wort behalten wollen. Daß es eine Kunst der Periode gibt und nicht jeder Satz eine Aneinanderreihung von unübersehbaren Satzteilen sein sollte, ist ihm fremd geblieben. Einer der Tricks der langfädigen Prosa ist, daß er, das narrative Manko in demonstrativer Monotonie überspielend, die Staffelung des Erzählvorgangs betont: "so sagte Vera, sagte Austerlitz …".
Das einzige Register, das ihm zur Verfügung steht, ist die Beschreibung, und so häuft er Details auf Details, Deskriptionen von Häusern, Bahnhöfen und Festungen, Reise- und Begegnungsbanalitäten, die die einzige Funktion haben, die Seiten zu füllen. Man muß dann die Hälfte des Textes, gut zweihundert Seiten hinter sich bringen, um auch nur auf die Spur eines Gehalts zu treffen. Wie anders versteht es da Victor Klemperer in seinem Tagebuch, die minimalsten Umstände seines grausam reduzierten Lebens zum Sprechen zu bringen, und wer beide Werke vergleicht, dem bleibt es ganz unverständlich, wie Sebald mit einem Produkt der sprachlichen Unlebendigkeit in den Ruf eines Schriftstellers kommen konnte.
Vollends fragwürdig erscheint sein Versuch, wenn man sich seine psychologischen Erklärungen, oder wie man es nennen soll, genauer anschaut. Er schreibt der Hauptfigur – man traut seinen Augen nicht – eine Sprachskepsis à la Lord Chandos und einen Persönlichkeitszerfall zu, wie man ihn heute in jeder x-beliebigen Rezension finden kann, die von Ichspaltung und ähnlichen im Literaturseminaren vermittelten phrasenhaften Phantasmen reden. Das alles hat nicht das geringste mit seelischen Schäden und wirklichen Krankheiten zu tun. Es beweist nur, daß der Autor Germanist ist. — Übrigens hat er sowenig wie seine Kollegen den Sinn des Chandos-Briefes verstanden, der bis heute ein unablässig bemühtes Klischee, ein unreflektiertes Dogma der sogenannten Theorien der literarischen Moderne ist.
Daß er einen politischen Gegner des Nazismus im Jargon der lingua tertii imperii sprechen läßt, ist mehr als ein stilistischer Faux-pas, es ist ein Symptom, daß er seinem Thema kaum gewachsen ist. So läßt er in einem Interview durchblicken, daß die richtige Aufarbeitung der Vergangenheit gewissermaßen erst in den letzten Jahren begonnen habe, wobei er unterschlägt, daß er die wenigen Kenntnisse seines Buches, die zählen, von Améry und Adler bezieht, die zur Aufklärung der Vergangenheit wirklich etwas beigetragen haben. Was Sebald über die europäische Geschichte denkt, die er im Sinne eines Katastrophen-Determinismus deutet, ist so offensichtlich krude, daß man es nicht zu erörtern braucht. Es ist aber wohl der innerste Impetus seines Schreibens. Was aus diesem Spleen hervorging, haben, wie gesagt, die Rezensenten "enthusiastisch" begrüßt.
Eine Leserin aber hat Austerlitz mit Wut und Bestürzung gelesen: Susi Bechhöfer. Sebald hat ihre Lebensgeschichte bis in viele Einzelheiten in seinem Buch verarbeitet, ohne mit einem Wort auf diese Quelle hinzuweisen und ohne Frau Bechhöfer um ihre Zustimmung zu bitten. Dieses extrem taktose, moralisch inkorrekte Verhalten des Mannes, in dem sich alle Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen auf penetrante Weise materialisiert zu haben scheint, hat ein verräterisches Gegenstück im Roman selbst, das wohl niemand entdeckt hat: es bleibt völlig unglaubwürdig, daß die Hauptfigur diesem Erzähler, dem alter ego des Autors, ihre Biographie anvertraut. Die Sprache entlarvt den Menschen.
Bis heute haben es weder der Hanser-Verlag, wo der Roman erschienen ist, noch der S.Fischer-Verlag, der die Taschenbuchausgabe herausbrachte, für nötig gehalten, in einer Notiz auf die reale Vorlage, Bechhöfers Schicksal, hinzuweisen. Es war zu erwarten. Sapienti sat.

J.Q.   —   20.Juni 2004

©J.Quack


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