Josef Quack

Jauß vs. Gadamer

  



Neulich konnte man Berichte lesen, die an die geisteswissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft "Poetik und Hermeneutik" erinnerten. Die Gruppe war von dem Romanisten Hans Robert Jauß und dem Philosophen Hans Blumenberg gegründet worden. Sie konnten eine illustre Reihe von Mitarbeitern gewinnen, unter ihnen der Romanist Harald Weinrich, der Philosoph Dieter Henrich, der Historiker Christian Meier.
Bekanntlich gibt es im Reich des Intellekts nichts Vergänglicheres, um nicht zu sagen: nichts Überflüssigeres, als Sammelbände mit Arbeiten mehrerer Geisteswissenschaftler, Bände vom Typ Festschrift oder Tagungsbericht. Von dieser Regel bilden die Bände jener Gruppe eine rühmliche Ausnahme. Nach wie vor lesenswert ist der Band über die Erzähltheorie, von der viele Rezensenten immer noch nichts verstehen, sowie der Band über den Begriff der Identität, der heute zu einem modischen, meist unverstandenen Klischee der öffentlichen Rede geworden ist.
In dem Bericht der FAZ wurde erwähnt, daß Jauß die Gruppe gegründet habe als Gegengewicht zu jener philologischen Richtung, die sich an Gadamers Hermeneutik anschloß. Leider geht der Bericht auf diesen Punkt nicht näher ein — akademischer Klatsch über die allzumenschliche Dynamik der Gruppe war dem Referenten wichtiger. Zu jener Opposition wäre zu sagen, daß man zweifeln kann, ob Jauß die hermeneutische Philosophie Gadamers überhaupt richtig verstanden hat. Was Gadamer wortreich, und leider nicht immer in klaren Begriffen, intendierte, war keine Methodenlehre. Es lag auf einer anderen Ebene als das, was der Literaturhistoriker seinerseits im Sinn hatte.
Gadamer hatte jenem Mißverständnis insofern Vorschub geleistet, als er sein Opus Wahrheit und Methode mit dem Untertitel versah: "Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik". Gemeint war aber: "Grundzüge einer hermeneutischen Philosophie", ging es doch um eine universale Theorie des Verstehens, um Reflexionen über Sinn und Grenzen der Methoden der Textinterpretation.
Zweitens muß man festhalten, daß es Jauß nicht gelungen ist, eine Rezeptionstheorie der künstlerischen Werke aufzustellen, die in sich stimmig wäre. Die Schwachstelle seiner Theorie ist der Begriff des künstlerischen Werkes, der alles andere als konsistent ist. Logisch-semantische Unterscheidungen waren nun mal nicht die Stärke dieses Material auf Material häufenden Philologen. Ich habe einige seiner Unklarheiten aufgedeckt (J.Q.Diskurs der Redlichkeit, S.252ff.).
Drittens hatte Jauß den Ehrgeiz, seine Rezeptionsästhetik mit einer Basistheorie zu untermauern: mit einer Theorie der ästhetischen Erfahrung. Dieser Versuch ist gründlich mißlungen. Die zentrale Kategorie dieser Lehre ist nämlich der Begriff der Identifikation des Lesers mit fiktiven Figuren, eine völlig inadäquate Kategorie, die dem tatsächlichen Vorgang der Lektüre nicht gerecht wird und allenfalls einen pathologischen Modus des Lesens beschreibt (cf. J.Q.Die fragwürdige Identifikation). Hätte Jauß die Philosophie Gadamers wirklich verstanden, dann wäre er wohl kaum auf jenen billigen Psychologismus verfallen.
Daß es heute literaturwissenschaftliche Zeitschriften gibt, die nicht mal das Niveau der Jaußschen Rezeptionsästhetik erreichen, steht auf einem anderen Blatt.

J.Q. —  6. Feb. 2014

©J.Quack


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