Alii discretio spirituum datur, alii genera linguarum, alii interpretatio sermonum.
(Einem anderen wird die Unterscheidung der Geister gegeben, einem anderen mancherlei Sprachen; einem anderen die Auslegung dieser Sprachen.)
In einem Krimi von Sjöwahl und Wahlöö muß die Polizei einen terroristischen Anschlag abwehren. Um keine Vorsichtsmaßnahme außer acht zu lassen, will man auch eventuellen Störungen auf der eigenen Seite vorbeugen. Also sortiert man die unfähigsten Beamten aus und faßt sie zu einer Einheit zusammen: SKK (Sämtliche Knallköppe). Doch der schlimmste Fall, der nach einem berühmten Gesetz eintreten soll, tritt auch hier ein. In der Stunde der höchsten Gefahr, nach dem Attentat, stößt ein uninformierter Behördenchef auf die Gruppe, entziffert SKK als Sonderkommando und setzt die Tölpel an der heikelsten Stelle ein. Das Chaos ist komplett.
An diese Geschichte fühlt man sich erinnert, wenn man die aktuelle Debatte über Eliten und den angeblichen gesellschaftlichen Bedarf an Eliten verfolgt. Es läßt sich dabei nicht ohne weiteres unterscheiden, ob wir es mit hochqualifizierten Experten oder mit Scharlatanen zu tun haben. Das Phänomen scheint ubiquitär zu sein. Die Nachrichten, daß wieder mal ein Fälscher aufgeflogen ist, kommen aus allen Sparten: der Wissenschaft, der Wirtschaft, den Medien, der Literatur und dem Sport.
Vor jeder Diskussion über die Elite steht die Forderung, unterscheiden zu können, was Schwindel oder echte Leistung ist. Und diese Gabe der Unterscheidung der Geister wird bei den alltäglichsten Dingen, auch bei der Zeitungslektüre verlangt.
So zum Beispiel im Falle eines Leserbriefs, in dem dieser Tage ein Professor der These widersprach, daß es kein Denken ohne Sprache gebe. Seine Begründung: Versuche mit höheren Affen. Hier bleibt offen, ob tatsächlich eine professorale Weisheit vorliegt oder der Jux eines Studenten, der sich über das äffische Niveau der Universitätslehre lustig machen wollte. — Was in dem Leserbrief behauptet wurde, braucht man nicht weiter zu kommentieren. Selbst wenn man voraussetzt, daß es ein elementares Denken gibt, das keiner sprachlichen Form bedarf, kann man daraus nicht schließen, daß auch ein wissenschaftliches Denken ohne sprachliche Form möglich ist. Das war es nämlich, was der Schreiber widerlegen wollte, indem er sich auf die Primitivität des Denkens berief.
Womit wir mitten im Thema wären. Denn über Elite wird in erster Linie gestritten, wenn es um die Qualität von Schule und Hochschule geht. Daß es bei dem beispiellosen Schlendrian der öffentlichen Schulen, wo keine Leistungen gefordert und keine Leistungen mittels seriöser Benotung ermittelt werden, ein Trend zu den Privatschulen eingesetzt hat, wo sowohl Leistung als auch Disziplin hoch im Kurs stehen, ist nur zu verständlich. Nachdem der Begriff der Elite über Jahrzehnte verpönt war, wird er nun zu einem Stichwort mit universaler Reichweite: Maßnahmen, die das Gütesiegel der Elite tragen, sollen geeignet sein, alle schul- und hochschulpolitischen Fehler zu beseitigen. Und infolgedessen wird Elite zur reinen Phrase, zu einem Werbeslogan wie ein Weinprädikat.
Es gibt tatsächlich heute in Deutschland private Wirtschaftshochschulen, die im Titel den Ausdruck ‚Elite' führen. Was man da als Empfehlung lesen kann, ist mehr als dürftig. Es gleicht nur zu sehr jenen berüchtigten Buchreihen, die in dünnen Bändchen, um die Adressaten nicht zu überfordern, alles mögliche "Wissen für Manager" mundgerecht zubereiten: "Kant für Manager" u.ä. In Wirklichkeit ist es das typische Schmalspurwissen, das hier angepriesen wird. Es hat mit seriöser Wissensvermittlung nichts zu tun, Kants Philosophie läßt sich nicht auf ein paar Textauszüge reduzieren. Was heute 'für Manager' angepriesen wird, hieß früher 'ad usum Delphini', nämlich: für den Gebrauch eines geistig und sittlich unreifen Knaben.
Das Problem, das hier vorliegt, klingt auch in einer Formulierung an, die man kürzlich in einem Leitartikel lesen konnte, wo von der "selbsternannten Elite des IOC" die Rede war. Natürlich wird kein Mensch, der halbwegs bei Sinnen ist, das IOC eine Elite nennen, und zweitens ist ‚Elite' kein Prädikat, das man sich selbst zusprechen könnte. Ein elitäres Bewußtsein ist immer ein falsches Bewußtsein: Elite mag man in Gottes Namen sein; niemals darf man als solche sich fühlen (Th. W. Adorno).
"Selbsternannt" ist zwar ein Prädikat, das genau auf die Intellektuellen paßt, insofern sie ohne irgendwelchen amtlichen oder sonstigen Auftrag ihren Beruf als öffentliche Kritiker ausüben. Sie verraten ihren Status als Kritiker im Namen allgemeiner Ideale aber gerade dann, wenn sie sich selbst als Elite bezeichnen (cf. Über das Ethos von Intellektuellen, S.18ff.)
Es wäre lächerlich, sich bei dieser Bestimmung am Nobelpre is zu orientieren, als gäbe er einen Maßstab für außerordentliche Leistungen ab. Er taugt dazu nicht mal auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften, weil hier die Dominanz des Angelsächsischen, ein wissenschaftsexternes Merkmal, nur zu offensichtlich ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg erhielten überdurchschnittlich viele Deutsche den Preis — weil damals die Juroren, gebildete Schweden, alle Deutsch sprachen. Überhaupt scheint die Wissenschaftspublizistik in diesem Punkt alles andere als kritisch zu sein, wie es der Sache angemessen wäre. Höchstens nebenbei wird einmal erwähnt, daß der amerikanische Wissenschaftsbetrieb eifrige Lobbyarbeit betreibt, um seine Kandidaten für den Preis zu empfehlen. Und selten hört man das gut begründete Argument, daß die Auszeichnung nicht nur segensreich wirkt. Paul Feyerabend berührt den Nerv des Betriebs, wenn er schreibt: Der Wettlauf um die Nobelpreise schränkt die Kommunikation unter den Wissenschaftlern drastisch ein. — Über den Nobelpreis für Literatur braucht man kein Wort zu verlieren. Er ist durch die Vergabe an belanglose Schriftsteller derart diskreditiert, daß man sich wundert, daß die Vergabe überhaupt noch beachtet wird.
Der Rang von Universitäten, Forschern und Hochschullehrern wird gewöhnlich durch quantitative Verfahren bestimmt: Anzahl der Veröffentlichungen etc. Elite ist aber ein Qualitätsbegriff, der sich nicht durch Quantitätskriterien bestimmen läßt. Nicht die Zahl der Veröffentlichung sagt etwas über den wissenschaftlichen Rang aus, sondern die Qualität. Ein bahnbrechender Aufsatz genügt, um eine Wissenschaft zu revolutionieren — siehe Kurt Gödel, Alfred Tarski. Ebenso genügt ein Gedicht, ein Roman, ein Theaterstück, um einem Dichter den obersten Rang zu verleihen. Im Krieg werden nicht wahllos alle Verwundungen, nicht die in Verkehrsunfällen empfangenen, sondern nur die im Kampf erlittenen Verwundungen mit Orden bedacht.
Das Schlimme der üblichen Bewertung ist, daß dadurch die Vielschreiberei auf wissenschaftlichem Gebiet noch gefördert wird. Daß hier was nicht stimmen kann, scheint auch den vielbeschäftigten Bewertern und Notengebern des Betriebs zu dämmern. So geben sie denn Untersuchungen in Auftrag, die den Fehler finden sollen. Das Ergebnis: eine ausschließlich quantitative Bewertung vernachlässigt die qualitativen Unterschiede. Die empirische Sozialforschung kommt durch eine aufwendige Untersuchung zu einem Ergebnis, das jedem Beobachter, der mit gesundem Menschenverstand begabt ist, schon vorher bekannt war. Über solche gar nicht so seltenen Fälle trivialer Forschungsergebnisse hat schon Niklas Luhmann kräftig gespottet; es hat nichts geholfen.
Eliten, die versagen, waren es nie. Zum Beispiel alle jene Spitzenkräfte des Finanzgewerbes, die die derzeitige Krise zu verantworten haben. Und zahllos sind die historischen Beispiele. Bekannt ist die Tatsache, daß im Ersten Weltkrieg die aktiven Offiziere der k.u.k. Armee meist ihrer Aufgabe nicht gerecht wurden, während die Reserveoffiziere sich im Durchschnitt bewährten. Nicht nur in Filmen und Romanen ist der Spott über die englischen Offiziere verbreitet, deren Hochnäsigkeit durch keine Leistung gerechtfertigt war. Was man in der Weimarer Republik politische oder intellektuelle Eliten nannte, hat durchweg vor der Hitler-Bewegung versagt — und so weiter, und so fort, um von den Fehlern der jüngsten Politikergeneration in diesem Lande ganz zu schweigen. Man ist da vorsichtig geworden, man spricht nicht von politischer Elite, sondern von politischer Klasse.
Wenn es um Eliteschulen geht, wird als Paradebeispiel immer das Internat von Salem angeführt, das in der Tat nach dem Willen seines Gründers und Inspirators Kurt Hahn elitäre Ziele verfolgte. Es sollte Führer für eine elitär verstandene Demokratie ausbilden — einer von mehreren Widersprüchen, die diesem Erziehungskonzept innewohnen. Hahn rühmte sich seiner untrüglichen Menschenkenntnis, denn diese Gabe ist es vor allem, die ein Erzieher von künftigen Führungskräften haben und vermitteln sollte. Aber selbst Golo Mann, Schüler und Verehrer Hahns, mußte einräumen, daß sein Meister sich darin mehr als einmal irrte.
Außerdem ist Menschenkenntnis, die fast in jeder verantwortlichen Stellung vorausgesetzt wird, etwas, das sich nicht lehren läßt. (Die fachpsychologischen Hilfsmittel der Personenbeurteilung, die als Ersatz entwickelt wurden, sind kläglich bis über die Grenze des Lächerlichen hinaus.) Ebenso wenig lassen sich Originalität und Initiative lehren. So enthält die Idee der Erziehung der zukünftigen Führer oder der Auswahl der Besten einen Widerspruch, wie Karl Popper, ein entschiedener Gegner des Elitegedankens in Politik und Erziehung, in seiner Kritik an Plato, dem Begründer der Führerideologie, festgestellt hat.
Alle Maßnahmen, die derzeit zur Reform der Hochschule vorgeschlagen werden, orientieren sich einzig und allein am Ideal der Berufskarriere. Damit wird der Studiengang aber zu einem Hürdenlauf, der es verhindert, daß man sich der Forschung um ihrer selbst willen zuwendet: Die unmögliche Forderung einer institutionellen Auswahl der intellektuellen Führer bedroht den Lebensnerv nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Intelligenz selbst. (K. Popper)
Das gewichtigste Argument gegen den Plan einer elitären Erziehung ist aber ein soziales: die Benachteiligung von begabten Arbeiterkindern, wozu auch die Kinder der meisten Ausländer gehören. Die beschränkten Sprößlinge der begüterten Mittelschichten können sich dagegen ein Studium leisten, um später die graue Masse ungeschickter Ärzte, unberufener Lehrer oder halbkluger Journalisten zu vermehren, jenen traurigen Durchschnitt der Funktionsträger, der das Bild der Gesellschaft beherrscht. Sie sind das Übel, das zu beseitigen man die Idee der Elite bemüht.
Abseits vom Medienrummel, abseits vom Literaturbetrieb, abseits vom Kunstmarkt, abseits vom Prominentenauftrieb in Salzburg oder Bayreuth gibt es aber noch den Kunst- und Musikliebhaber, den Leser, der Homer und Horaz im Original lesen und die höchsten Schöpfungen des Geistes verstehen kann. Die Rede ist von Kennerschaft, der Elite der Bildung, einer Sphäre, wo der Begriff noch am wenigsten fragwürdig ist. Gemeint sind die happy few, die Stendhal im Auge hatte. Es ist aber keine Naturnotwendigkeit, sondern nur eine Erfahrungstatsache, daß es selbst unter denen, die das Glück hatten, eine gute Schule besuchen zu können, nur wenige sind, die dieses geistige Interesse entwickeln. Man kann es nicht lehren, sondern allenfalls fördern.
Was aber die Aussichten so sehr eintrübt, ist die schlichte Beobachtung, daß die Bildungsexperten, die sich so eifrig zu Wort melden, von Bildung ungefähr so viel verstehen wie die Kunststoffexperten von Kunst. Auch das ein signifikantes Zeichen der Jetztzeit.
Im Sommer 1980 lud der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt einige Intellektuelle in sein Ferienhaus am Brahmsee zu einem Gipfelgespräch über das Verhältnis von Politik und Kultur. Man spielte das alte Spiel "Geist gegen Macht". Der Geist war repräsentiert durch die Schriftsteller Günter Grass und Siegfried Lenz und den damaligen Leiter der Feuilleton-Redaktion der ZEIT, Fritz J. Raddatz. Die Macht war repräsentiert durch Helmut Schmidt in persona. Das Spiel, das sie spielten, war eine Farce.
Im Verlauf des Disputs sagte Raddatz: "Da gibt es ja von Franz Mehring dieses merkwürdige Wort: ‚Unter den Waffen schweigen die Musen.’" Der Feuilletonist verstand das Wort metaphorisch, er wollte damit das aktuelle Verhältnis von Kultur und Politik beschreiben. Helmut Schmidt nahm den Ball auf und spielte in diesem Sinne weiter.
Nun steht es jedem frei, ein überliefertes Dictum für seine Zwecke umzudeuten; doch steht es niemand frei, eine Sentenz einem Autor zuzuschreiben, der sie nicht geschaffen hat. Denn Franz Mehring mag jenen Satz geschrieben haben, jedoch ist er nicht sein Schöpfer. Der Satz ist vielmehr die deutsche Übersetzung des lateinischen Sprichworts: Inter arma silent Musae. Ob Franz Mehring den Satz wirklich zitiert hat, bleibe dahin gestellt, denn bekanntlich ist jener Feuilletonist in philologicis ein unsicherer Kantonist.
Doch ist dies alles nicht die Pointe der Geschichte. Das Merkwürdige ist vielmehr, daß diese im Ton überlegener Bildung vorgebrachte falsche Zuschreibung eines Zitats damals niemand aufgefallen ist, weder dem Regierungschef, noch seinen Dialogpartnern Grass und Lenz. Auch die Redaktion der ZEIT, die das Gespräch in Auszügen veröffentlichte, hat den Fehler nicht bemerkt. Helmut Schmidt hat später einen Auszug der ZEIT-Fassung der Diskussion in sein Buch Weggefährten (1996) übernommen. Auch den Lektoren des Buches ist der Fehler nicht aufgefallen.
So sieht also die Bildung unserer Elite aus. Reden wir nicht mehr von Elite, reden wir nicht mehr von Bildung und reden wir vor allem nicht mehr von der Bildung unserer Elite.