Wer Politik treibt, erstrebt Macht.
Wer die Ursachen und Gründe des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts verstehen möchte, tut gut daran, sich über die Vorgeschichte des Streites ein wenig zu informieren. Es handelt sich dabei um zwei Probleme, die an sich nichts miteinander zu tun haben, wegen der eingetretenen Umstände aber zusammen die Politik der ost-westlichen Kontrahenten bestimmen. Mit dem Westen sind die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre europäischen Trabanten gemeint. Von russischer Seite betrachtet, sieht es so aus, als wolle Wladimir Putin als Präsident zwei kapitale Fehler seiner Vorgänger wieder gutmachen. Im einzelnen geht es um den völkerrechtlichen Status der Krim und um die mögliche Aufnahme der Ukraine in die Nato.
♦ Zur Erinnerung. Die Krim wurde Ende des 18. Jahrhunderts dem Russischen Kaiserreich einverleibt, nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution wurde sie Teil der Sowjetunion. 1954 aber hat Chruschtschow, der selbst aus der Ukraine stammte, die Halbinsel der Ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert; man liest aber von Zweifeln, ob dieser Akt mit der damaligen Verfassung der UdSSR übereinstimmte. Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die Ukraine selbständig wurde, blieb die Krim bei der Ukraine als autonome Region, und Rußland hat im Budapester Memorandum (1994) die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine anerkannt. Mit der Annexion der Krim 2014 hat es dann den Vertrag von Budapest gebrochen oder gekündigt – je nach dem, ob man den westlichen oder den russischen Standpunkt einnimmt.
Man sollte aber über diese Handlung nicht scheinheilig den Kopf schütteln; denn, um mit Henry Kissinger zu sprechen, die Souveränität eines Staates besteht gerade darin, daß er Verträge schließen und wieder kündigen kann, und dies macht die internationale Politik zu einer höchst labilen Sache. Wenn der Westen den Anschluß der Krim an Rußland aus angeblich völkerrechtlichen Gründen streng verurteilt, so sollte man nicht übersehen, daß dies eine politische Einstellung ist, die nur zu gut seiner machtpolitischen Gegnerschaft zu Rußland entspricht. Kurzum, es geht hier letztlich um Fragen der Weltherrschaft, die als völkerrechtliche Fragen kaschiert werden.
Was die Bevölkerung der Krim angeht, so sind die Ukrainer mit 25 Prozent in der Minderheit, während die Russen mit 60 Prozent die Mehrheit bilden. Die Ukraine kann sich also bei dem Anspruch auf die Krim kaum auf die Volkszugehörigkeit der Bewohner berufen, sondern nur auf die Entscheidung Chruschtschows von 1954 und die spätere Anerkennung ihrer Souveränität durch Rußland. Allerdings beging die Ukraine nach der Angliederung der Krim an Rußland den großen Fehler, der mehr war als eine Dummheit, die Krim von der Stromversorgung abzuschneiden.
Mit seiner Entscheidung für die Annexion der Krim hat Putin also die umstrittene, historisch oder bevölkerunsgspolitisch kaum zu begründende Entscheidung Chruschtschows von 1954 rückgängig gemacht, und es ist kaum anzunehmen, daß heute angesichts der Bevölkerungsmischung sich bei einer freien Abstimmung eine Mehrheit der Krimbewohner für die Ukraine entscheiden würde. Ich denke, daß man auch diese Umstände berücksichtigen muß, wenn man zu dem völkerrechtlichen Status der Krim heute Stellung nehmen will. Statt Sanktionen gegen Rußland zu verhängen, könnte der Westen aber verlangen, daß eine garantiert freie, international überwachte Abstimmung über die Zugehörigkeit der Krim abgehalten werde. Es ginge also darum, das Prinzip der Selbstbestimmung, das erste Axiom des internationalen Rechts, auch auf der Krim durchzuführen.
♦ Was aber die Frage eines möglichen Beitritts der Ukraine zur Nato angeht, so ist dieses Problem aus dem wohl größten außenpolitischen Fehler Michail Gorbatschows entstanden, seinem Versäumnis, sich von Amerika vertraglich garantieren zu lassen, daß sich die Nato nicht nach Osten ausdehnt. Dieses Thema wird öfter auch in dem Buch von Peter Scholl-Latour besprochen: Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam (2006). Der Autor zitiert aus einem Gespräch mit Gorbatschow vom 10. Februar 1990 die bemerkenswerten Worte Helmut Kohls, die heute in Berlin vergessen zu sein scheinen: „Wir sind der Meinung, die Nato solle die Sphäre ihrer Aktivität nicht erweitern. Hier muß man eine vernünftige Lösung finden. Ich verstehe die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und ich bin mir bewußt, daß Sie, Herr Generalsekretär, und die sowjetische Führung das Geschehen der Bevölkerung der UdSSR werden verständlich machen müssen.“ (l.c.183)
Man hatte in Moskau dann aber bald Anlaß, zutiefst zu bedauern, „daß Gorbatschow auf westliche Kompensation verzichtet habe – außer einer lächerlichen Summe von 14 Milliarden US-Dollar -, daß er den Verzicht der Atlantischen Allianz, nach Osten zu expandieren, der ihm von amerikanischer Seite expressis verbis zugesagt war, in keine vertragliche Form gekleidet, sondern sich mit verbalen Versprechen begnügt habe, die für die Nachfolgeadministration in Washington keinerlei zwingende Verpflichtung enthielten.“ (l.c.183) Dann liest man hier, daß schon damals, 2006, „die ukrainische Armee mit Hilfe von amerikanischen und auch einigen deutschen Offizieren auf Nato-Standard umgestellt“ werde (l.c.393).
Was aber sagt Henry Kissinger, der klügste und erfahrenste amerikanische Außenpolitiker unserer Zeit, zu den genannten Problemen? In einem Spiegel-Gespräch vom 10.11.2014 erklärt er, daß der Westen für die Eskalation des Konflikts mit Moskau mitverantwortlich sei, weil er die vitale Bedeutung der Krim für Rußland nicht erkannt und einkalkuliert habe. Er verurteilt zwar die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, hält aber nicht viel von Sanktionen. Dann aber stellt der Politiker mit einer Umsicht, die den heute agierenden westlichen Partnern zu fehlen scheint, dezidiert fest: „Wir müssen im Blick behalten, daß wir Rußland brauchen, um andere Krisen zu lösen, etwa den Nuklearkonflikt mit dem Iran oder den syrischen Bürgerkrieg. Das muß Vorrang haben vor einer Eskalation mit dem Kreml. Sicher muß die Ukraine ein unabhängiger Staat bleiben, sie sollte wählen dürfen, welchen wirtschaftlichen Bündnissen sie sich anschließt. Aber es gibt kein Recht auf Mitgliedschaft in der Nato. Wir alle wissen: Die Nato wird nie einstimmig dafür votieren.“ (l.c.96)
Der jetzige Berliner Kanzler, ein außenpolitisches Greenhorn, aber erklärte, eine Garantie, daß die Nato sich nicht nach dem Osten ausdehne, könne es nicht geben, aber derzeit stehe dies nicht zur Debatte (DLF 23.1.2022, 20h).
Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato kann aber unmöglich im Interesse Deutschlands liegen. Denn wenn die Russen die Ostukraine besetzen würden, würde der Beistandsfall eintreten und die Bundeswehr müßte die Ukraine vertragsgemäß militärisch unterstützen. Daß aber wieder Deutsche vom Boden der Ukraine aus nach Rußland marschieren, um es zu bekämpfen, ist eine Horrorvorstellung, die kein vernunftbegabter Deutscher noch einmal gerne wahrmachen würde. Oder mit den Worten der hier einzig passenden Landsersprache eines russischen Politologen, eines Experten der Außenpolitik, gesagt: „Noch einmal werden die Deutschen keine Lust verspüren, sich den A. an der Wolga abzufrieren.“ (Scholl-Latour l.c. 159).
♦ Es ist eine politische Binsenweisheit, daß Konflikte zwischen einzelnen Staaten nur dann eine dauerhafte Lösung finden können, wenn die berechtigten Interessen der beteiligten Staaten berücksichtigt werden. Das aber setzt voraus, daß man die politische Situation richtig einschätzt, was wiederum heißt, daß man die machtpolitischen Verhältnisse illusionslos ins Auge faßt. Denn, wie man nüchtern feststellen muß, entsteht internationales Recht gewöhnlich dadurch, daß herrschaftliche Zustände, die durch Krieg oder politische Macht entstanden sind, post factum durch Verträge zwischen den beteiligten Staaten anerkannt und so sanktioniert werden.
Den gegenwärtigen Fall betrachtet, wird Rußland nach menschlichem Ermessen wohl niemals die Krim freiwillig, d.h. ohne dazu gezwungen zu werden, wieder an die Ukraine abtreten, weil es ein vitales politisches und militärisches Interesse an der Halbinsel hat; schließlich ist Sewastopol einer seiner wichtigsten Marinestützpunkte im Schwarzen Meer. Sanktionen seitens des Westen dürften jedoch Rußland kaum zur Revision seiner Haltung bewegen.
Eine für beide Seiten akzeptable Lösung des Konflikts könnte demnach wohl nur folgendermaßen aussehen:
1. Die Ukraine anerkennt, daß die Krim zur Russischen Föderation gehört.
2. Rußland anerkennt, daß die heute umkämpfte Ostukraine ein integraler Bestandteil des ukrainischen Staates ist. Es versagt den ukrainischen Separatisten jede politische oder militärische Unterstützung.
3. Die Ukraine verzichtet auf eine Politik, die die Aufnahme des Landes in die Nato erstrebt.
Man sollte annehmen, daß es Politikern, mit einem Minimum an gesunden Menschenverstand begabt, nicht schwer fallen könnte, eine Abmachung der zitierten Art auszuhandeln. So würde der neue Ost-West-Konflikt wieder auf ein erträgliches Niveau herabgestuft.
ˋs ist leider Krieg – und wir begehren
Nicht schuld daran zu sein!
Rußlands Krieg gegen die Ukraine ist die Antwort Putins auf die Expansionspolitik des Westens, und wenn je eine Politik gescheitert ist, dann dieses Projekt westlicher Politiker, die annahmen, Rußland werde tatenlos zusehen, wenn die Nato ihren Machtbereich bis in die Ukraine ausdehnt. So erfahrene Politiker wie Helmut Kohl und Henry Kissinger haben sich vor Jahren gegen die Osterweiterung der Nato und die Aufnahme der Ukraine in das westliche Bündnis ausgesprochen (P. Scholl-Latour, Rußland im Zangengriff, 2006, 183; Kissinger im Spiegel-Gespräch vom 10.11.2014). Sie waren sich bewußt, daß Rußland immer noch eine Supermacht ist und immer noch das Potential hat, das atomare Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten.
Wie wird der jetzige Konflikt ausgehen? Der israelische Militärexperte Martin van Creveld erklärt auf dem t-online-Portal, Rußland werde die Ukraine zwar militärisch erobern, den anschließenden Guerillakrieg aber verlieren. Als Friedenslösung kann er sich nur vorstellen, daß die Ukraine neutral und niemals der Nato beitreten werde. Er warnt aber davor, daß der Krieg unter Umständen eine Dynamik entwickeln könnte, die niemand mehr beherrschen könnte.
Dazu kann man nur sagen, dies hätte man wahrlich billiger haben können. Es ist völlig rätselhaft, wie das derzeitige ukrainische Regime jemals daran denken konnte, gegen den großen Nachbarn Front zu machen und der Nato beizutreten. Man würde doch annehmen, daß es die Macht und die Interessen Rußlands kennen könnte. Diese Frage wird wohl nur beantworten können, wer intime Kenntnisse hat über die Innenpolitik des Landes und seine allerjüngste Geschichte nach der Wende. Bei Scholl-Latour kann man nachlesen, daß an den Revolutionen dieser Jahre auch westliche Dienste beteiligt waren.
Was aber die westlichen Fürsprecher einer Osterweiterung der Nato angeht, so haben sie zweierlei übersehen: erstens, daß die Nato ein Verteidigungsbündnis ist, ihre Expansionspolitik aber auf die östliche Großmacht aggressiv wirkt. Zweitens waren sie so naiv zu glauben, daß Rußland sich diese Expansion gefallen lassen würde, ohne Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Kurzum, die Expansionspolitiker des Westens haben — in ihrer Rhetorik, nicht in ihrer Praxis — die seit Menschengedenken bestehende Tatsache vergessen, daß die internationale Politik in erster und letzter Linie Machtpolitik ist. Der Sieger bestimmt die zwischenstaatlichen Verhältnisse. Die sich auf internationales Recht berufenden Wortführer der Expansion tun so, als wüßten sie nicht, daß das internationale Recht das Ergebnis von Machtpolitik ist und daß stabile Verhältnisse zwischen Staaten im Idealfall dadurch entstehen, daß die Interessen der beteiligten Staaten gewahrt werden, und es ist selbstverständlich, daß dabei auch die Machtpotentiale eine Rolle spielen. In der Politik gibt es viele Imponderabilien, jedoch auch die vor Augen liegende Faktizität der geopolitischen Situation, die jeder politischen Aktion Grenzen setzt.
Nun, die westlichen Außenpolitiker haben die geopolitischen Fakten in der gegenwärtigen Krise nicht erkannt und respektiert. Wie man lesen konnte, sollen die amerikanischen Dienste beim Aufmarsch der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze den Einmarsch dieser Armee in das Nachbarland vorhergesagt haben. Gewiß eine löbliche Einsicht, noch löblicher aber wäre gewesen, wenn sie schon vor Jahren erkannt hätten, daß Rußland die Ausdehnung der Nato bis an die ukrainische Ostgrenze nicht in Schafsgeduld hinnehmen könnte.
Was nun die Reaktion des Westens auf diesen Krieg angeht, so muß man von der Position des gesunden Menschenverstands aus — und übrigens auch aus den Worten Martin van Crevelds — folgern, daß der Westen alles unterlassen sollte, was zu einer Eskalation des Krieges führen könnte. Es könnte nämlich sein, daß eine solche Eskalation nicht mehr beherrschbar sein würde. Deshalb war die polnische Regierung von allen guten Geistern verlassen, als sie vorschlug, der Ukraine Kampfflugzeuge zu überstellen. Auch kann man kaum politische Weisheit in den Vorhaben sehen, Waffen in das Kriegsgebiet zu liefern.
Man fragt sich, wo denn unsere Pazifisten geblieben sind, die sonst soviel vom Frieden reden. Sie protestieren gegen den Aggressionskrieg Rußlands, nicht aber gegen die Expansionspolitik des Westens. Ein einäugiger Pazifismus, von der westlichen Militärdoktrin kaum zu unterscheiden.
Die westlichen Regierungen und viele andere Staaten setzen derzeit hauptsächlich auf wirtschaftliche und finanztechnische Sanktionen gegen Rußland und auf Verbote russischer Aktivitäten im Westen. Aber auch diese anscheinend vernünftige Reaktion auf einen Krieg enthält einige Probleme.
Wem schadet es denn, wenn man den russischen Oligarchen im Ausland, dem ihre Milliarden doch immer willkommen waren, nun ihre Yachten beschlagnahmt? Wurden diese Schiffe nicht in westlichen, auch deutschen Werften gebaut, die diese Einnahmen dringend brauchten? Vor allem aber, wie wirken sich die wirtschaftlichen Sanktionen auf Rußland selbst aus? Sie sollen das Regime schädigen und in Bedrängnis bringen, es schließlich vom Krieg abbringen. Letzten Endes hat aber die Bevölkerung die wirtschaftlichen Beschränkungen zu ertragen, und ihre Reaktion auf ihre beabsichtigte Verelendung kann wiederum ambivalent ausfallen: sie kann gegen das Regime in höchster Bedrängnis revoltieren, sie kann aber auch ihren Nationalismus stärken und Haß und Ressentiments gegen das Ausland entwickeln, das diese Sanktionen verhängt hat.
Wahrscheinlich werden bei der russischen Bevölkerung beide Reaktionen eintreten: ein wachsender Widerstand gegen das Regime auf der einen Seite und ein erstarkender Nationalismus, ein anschwellender Russenstolz, auf der anderen Seite. Es ist nicht schwer zu vermuten, welche Reaktion in einem autoritär regierten Staat wahrscheinlich die Oberhand behalten wird, es sei denn, das Militär würde zur Opposition übergehen. Dafür scheint es derzeit aber keine Anzeichen zu geben.
Damit wäre aber gesagt, daß auch die westlichen Sanktionen nicht der politischen Weisheit letzter Schluß sein können.
Es ist bezeichnend und höchst verräterisch, daß die Pazifisten, angebliche Menschenfreunde, einen Weg überhaupt nicht in Erwägung ziehen, weitere Tote, weiteres Leid, weitere Flüchtlinge in diesem Krieg auf einen Schlag zu vermeiden: die Kapitulation der Ukraine. So sehr sitzt der archaische, aus der Steinzeit stammende Kodex des Kämpfens bis auf den Tod in den Köpfen der Menschen des 21. Jahrhunderts, daß sie es für unehrenhaft halten, sich für das Leben zu entscheiden.
Wir müssen entschieden Schluß machen mit den nationalistischen Ideen, mit überholten Vorstellungen der Vergangenheit, wir müssen entschlossen und kühn das Tor zu einer neuen Ära des Zusammenlebens der Völker aufstoßen.
Wir erleben derzeit das peinliche Schauspiel, daß deutsche Politiker, die mit „Deutschland“ nichts anfangen können und das deutsche Nationalbewußtsein verabscheuen, sich bereitwillig vor den Karren des ukrainischen Nationalismus spannen lassen. Sie unterstützen politisch und mit Waffenlieferungen ein Regime, dessen Rechtsstaatlichkeit empfindlich unterentwickelt ist. So sind laut Wikipedia „einige Menschenrechte, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und auf Schutz des Familienleben“ derzeit ausgesetzt. Zu dem zweiten großen Übel des Landes braucht man nichts zu sagen, es ist weltweit bekannt, daß Polizei, Justiz, der Banken- und Wirtschaftssektor von Korruption beherrscht werden.
Nicht zu vergessen ist die ethnische Mischung der Bevölkerung, von der 17 Prozent Russen sind und noch mehr Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache angeben. D.h. wir haben es derzeit nicht nur mit einer russischen Aggression zu tun, sondern auch mit einem begrenzten Bürgerkrieg.
Diese Umstände, die in dem jetzigen Konflikt mit Rußland doch eine gravierende Rolle spielen, werden jedoch in der deutschen Politik anscheinend kaum beachtet. Die Bundesregierung hat sich eindeutig auf die Seite der ukrainischen Zentralregierung geschlagen, ohne zu bedenken, daß deren prowestliche, antirussische Politik doch die russische Intervention erst provoziert hat. Die deutsche Regierung verfolgt aber eine bedenkliche, riskante Politik, wenn sie die lebenswichtigen wirtschaftlichen Interessen Deutschlands aus den Augen verliert.
Man fragt sich aber verwundert, wo denn in dieser Krise unsere Pazifisten geblieben sind, die Friedensfreunde mit den violetten Halstüchern und die friedensbewegten Pfarrer? Folgen sie alle etwa der öffentlichen Meinung in diesem Lande, die fast einmütig die ukrainische Politik unterstützt und, wie seit Menschengedenken nicht mehr, einen Krieg propagiert?
Der Entschluß, die Bundeswehr mit einem Hundert-Milliarden-Euro-Paket aufzurüsten, findet allgemeinen Beifall. Während jahrzehntelang Abrüstung das Thema einer vernünftigen Politik war, steht nun auf einmal Aufrüstung auf der politischen Tagesordnung. So wetterwendisch ist die öffentliche Meinung.
Dabei ist allerdings noch offen, ob dies wirklich ernstgemeint oder nur eine politische Geste ist, die keine militärischen Folgen hat. Denn was soll eine Armee, die nicht mal ihre jetzigen Kampfflugzeuge alle einsatzbereit machen oder halten kann, mit weiteren Flugzeugen anfangen? Wie man hört, soll es eine Einheit der Bundeswehr geben, die nominell über vierzig Hubschrauber verfügt, davon aber nur zehn Maschinen in Betrieb nehmen kann – d.h. drei Viertel sind fluguntauglich. Man möchte gar nicht wissen, wie viele der etlichen hundert Panzer verrostet und unbeweglich in den Depots liegen. Und was soll man von einer Armee halten, die seit Jahren unschlüssig ist, welches Standardgewehr sie einführen will? Sind das alles nicht Zeichen einer schlampigen Organisation? Ist es nicht reine Geldverschwendung, einer solchen Truppe noch mehr Milliarden für Kriegsgerät zu spendieren?
Womit wir zu der interessantesten Frage aller hier interessierenden Fragen kommen, wer denn die großen Gewinner dieses Krieges sind. Die Antwort ist evident: die Rüstungsindustrie und die Öl- und Gaskonzerne des Westens, in erster Linie die der USA.
Das aber berührt den heiklen Punkt des deutschen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten. Es ist, nach den Worten Henry Kissingers, dadurch gekennzeichnet, daß Deutschland und die USA politische Partner, aber wirtschaftliche Konkurrenten sind. In der jetzigen Krise aber hat die Bundesregierung offensichtlich die politische Linie Washingtons widerspruchslos übernommen. Sie scheint nur halbherzig versucht zu haben, die berechtigten wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen Deutschlands durchzusetzen. Die Berliner Politiker sind nicht auf die Idee gekommen, die Amerikaner von ihrem Expansions- und Konfliktkurs abzuhalten – statt dessen sind sie ihnen in Nibelungentreue gefolgt.
Dazu wäre grundsätzlich zu sagen, daß die USA der wichtigste, nämlich mächtigste Partner der Bundesrepublik ist, und es töricht wäre, sich von diesem Partner zu distanzieren, wie es das Schröder-Fischer-Regime zeitweise versucht hatte. Völlig anders und höchst wirksam war dagegen die Westpolitik Konrad Adenauers und Helmut Kohls. Adenauer war es – zehn Jahre nach dem Krieg und der totalen Niederlage Deutschlands – wider Erwarten gelungen, ein geachteter Partner der Amerikaner zu werden; mehr noch, er gewann auf die amerikanische Politik einen unerwartet großen Einfluß, so daß es heißen konnte, er bestimme eigentlich die Außenpolitik des Westens. Auch Brandt konnte die Ostpolitik nur durchführen, weil Nixon sie nach einigen Vorbehalten letztlich billigte und Egon Bahr engsten Kontakt mit Kissinger hielt.
Daraus kann man nur folgern, daß es das erste Anliegen deutscher Politik sein sollte, ihre vitalen Interessen immer mit Washington freundschaftlich, aber entschieden abzustimmen.
Wie sich das Kriegsgeschehen – nach den fragmentarischen, unzuverlässigen Informationen zu urteilen, die vorliegen – bisher abzeichnet, gleicht das russische Vorgehen gegen die Ukraine jener „Strafaktion“, die China im Februar 1979 gegen Vietnam unternommen hatte (cf. E. Wickert, China von innen gesehen). China wollte Vietnam damals dafür bestrafen, daß es Laos und Kambodscha besetzt hatte. Wie China Anno 1979 setzt auch Rußland heute nicht seine geballte, sondern nur eine begrenzte Militärmacht ein, um das Nachbarland zu bekriegen, und wie damals auf Seiten Chinas zeigt die Aktion, daß die russische Armee in Organisation und Bewaffnung unerwartete empfindliche Schwächen aufweist. Dies kann aber nicht zu Illusionen über das wahre Kräfteverhältnis der Kriegsparteien führen.
Was die jüngsten Meldungen über mögliche Kriegsverbrechen angeht, so wäre dazu dreierlei zu sagen:
— man sollte die Stimmen unterstützen, die eine objektive, von neutralen Beobachtern durchgeführte Untersuchung dieser Verbrechen verlangen;
— man sollte die naive Vorstellung aufgeben, daß es einen Krieg ohne Kriegsverbrechen geben könnte.
Wenn also die westlichen Regierungen vernünftig wären, würden sie alles tun, um diesen Krieg so bald wie möglich zu beenden, und alles vermeiden, was ihn verlängern könnte.
Doch ist dies ein frommer Wunsch; denn eines steht leider fest: Es liegt an beiden Kriegsparteien, daß derzeit ein Waffenstillstand nicht zustandekommt. Wenn wir eine kritische Öffentlichkeit hätten, würde sie über die Gründe nachdenken, warum das so ist.
Präliminarartikel zum ewigen Frieden
1. Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden.
3. Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.
4. Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.
5. Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staates gewalttätig einmischen.
6. Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.
Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte.
Definitivartikel zum ewigen Frieden
Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenngleich nicht immer ein Zustand der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.
1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.
2. Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein.
Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt, ist es doch zu verwundern, daß das Wort R e c h t aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können.
3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.
Es ist hier vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. - Es ist kein Gastrecht, sondern ein Besuchsrecht.
"Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt." (Ein Grieche)
„Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! Die lange Überlegung entschuldigt Euer Säumen.“ Dies möchte man Jürgen Habermas und den Initiatoren des Offenen Briefes in Emma zurufen, den Intellektuellen und Künstlern, die endlich ein warnendes Wort zur deutschen Politik im Ukraine-Konflikt gefunden haben.
Ebenso erfreulich ist aber das Ergebnis einer Umfrage, daß 45 Prozent der Befragten gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sind, während nur 45 Prozent der Befragten die Waffenlieferung unterstützen. Das heißt, die Bundesregierung kann sich nicht auf die Mehrheit der Wähler berufen, wenn sie Panzer und Geschütze an das Regime in Kiew liefert. Knapp die Hälfte der Wähler folgt der politischen Vernunft, daß in diesem Konflikt jede Verschärfung der Auseinandersetzung zu vermeiden sei.
Dabei bleibt es ein Rätsel, warum ausgerechnet eine Partei, die aus der Friedensbewegung der 80er Jahre entstanden ist, sich nun für deutsche Waffenlieferungen an Kiew stark macht. Ebenso rätselhaft ist, daß die Freien Demokraten, ehedem eine national gesinnte Partei, nun eine Politik des Konflikts verfolgt, die dem Wohl Deutschlands gewiß nicht nützen wird.
Höchst erfreulich sind die klaren Worte, die Jürgen Habermas zur deutschen Politik in der Ukraine-Krise geäußert hat. Es ist schade, daß die Süddeutsche Zeitung seinen Artikel nicht frei zugänglich gemacht hat. Doch hat Gerhard Spörl auf dem t-online-Portal zu dem Statement eine abwägende Zustimmung geschrieben, in der die Kernsätze des Votums von Habermas hervorragen.
Habermas kritisiert „die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger“ der Regierung auftreten und spricht sich für eine rationale, reflektierte Politik aus. Diese Haltung ist für einen klugen Politiker eigentlich eine Selbstverständlichkeit; daß aber Selbstverständlichkeiten heute betont werden müssen, zeigt, wie verfahren die politische Diskussion mit den medial weitverbreiteten kriegslüsternen Tönen derzeit bei uns ist.
Man kann nur hoffen, daß die Regierenden in Berlin die folgende Überlegung des Philosophen beachten: „Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muß deshalb bei jedem Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet." Das heißt, daß es nicht nur an der Intention Deutschlands liegt, ob es als Kriegspartei angesehen wird, sondern wesentlich auch an Rußland.
Demgegenüber hat der Justizminister behauptet, die Lieferung schwerer Waffen verstoße nicht gegen das Völkerrecht, mache aus Deutschland also noch keine Kriegspartei. Der Politiker hat die Eigenart des Völkerrechts völlig verkannt. Sein Wesen ist nämlich, daß seine Geltung nur auf der Anerkennung der politischen Partner beruht. Die Folgerung für den gegenwärtigen Fall lautet, daß es auch auf Rußland ankommt, ob es bestimmte völkerrechtliche Regelungen anerkennt.
Schließlich verurteilt Habermas die unbedachte Rhetorik der Kriegsbefürworter in unseren Medien, die den Ernst des Konflikts nicht erkannt haben: "Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen? Die kriegstreibende Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark ertönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte."
Ähnlichen Sinnes ist auch der Offene Brief in Emma, von dem man jedes Wort unterschreiben kann: die Verurteilung der russischen Aggression, die Forderung, daß jede Ausweitung des Kriegs zu vermeiden sei, die Folgerung, daß Deutschland deshalb keine schweren Waffen an die Ukraine liefern dürfe. Inspiriert sind diese Warnungen und Folgerungen von der durchaus realistisch begründeten Sorge, daß der bisher begrenzte Krieg sich zu einem atomaren Konflikt ausweiten könnte.
Fünf Millionen Ukrainer sollen bisher das Land verlassen haben. Das sind zehn Prozent der Einwohner, eine unwahrscheinlich hohe Zahl, die einige Fragen aufwirft. Sind die fünf Millionen alle vor dem Krieg geflohen oder sind doch einige Millionen auch vor den unrühmlichen Zuständen des notorisch korrupten Landes geflohen? Zeigen die wehrfähigen Flüchtlinge nicht, daß sie selbst nicht kämpfen wollen? So jedenfalls die 500 000 Ukrainer, die sich nach Rußland abgesetzt haben.
Verantwortungslos und überaus kläglich aber ist die Haltung der FAZ zum Ukraine-Konflikt. In der Samstags-Ausgabe wurde mit tendenziös ausgewählten Zitaten in einer an Goebbels erinnernden Wortwahl behauptet, Rußland drohe den totalen Krieg an. Dabei wurde eine Erklärung des russischen Außenministers, der das Gegenteil betont, nicht beachtet. Dem Statement von Habermas aber antwortete ein Feuilletonkrieger mit Schaum vor dem Mund, worauf sich jede Entgegnung erübrigt. Ein anderer Artikel wirft den Initiatoren jenes Offenen Briefs vor, daß sie die Ukraine zur Kapitulation auffordere.
Die Zeitung hat in den letzten zwanzig Jahren die Hälfte ihrer Leser verloren. Wenn sie so weiter macht, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn immer mehr Leute auf die Lektüre dieses einst seriösen Blattes verzichten.
Zum Thema Kapitulation aber wäre an die folgende kleine Geschichte aus der Zeit des Ost-West-Konflikts zu erinnern. Franz Josef Strauß, als Kalter Krieger bekannt, erklärte „als Verteidigungsminister in einem privaten Gespräch Carl Friedrich von Weizsäcker – letzterer erzählte es mir selbst – auf dessen Frage, was er täte, wenn tatsächlich ein atomarer Angriff von der anderen Seite unmittelbar bevorstünde: „Sofort kapitulieren.“ (R. Spaemann, Über Gott und die Welt. 2012, 125)
… nämlich ein Teil der westlichen Presse und Medien. So zuletzt die Zeitungen, die die Kritik des ukrainischen Präsidenten an Kissingers Vorschlägen zur Lösung des Konflikts mit Rußland ohne Bedenken, sozusagen naiv übernahmen und gedankenlos nachredeten.
Wie erinnerlich hatte Henry Kissinger in Davos vorgeschlagen, um mit Rußland zu einer Einigung zu kommen, solle die Ukraine auf die Krim verzichten. Diesen Vorschlag verglich der ukrainische Präsident mit dem Münchener Abkommen von 1938. Damals hatten England, Frankreich und Italien dem Deutschen Reich zugestanden, daß es das Sudetenland von der Tschechoslowakei in das Reich eingliedern könne. Dieses Zugeständnis sollte Hitler davon abhalten, weitere Gebiete zu fordern. Wie erinnerlich brach Hitler wenige Monate später das Münchener Abkommen und besetzte das restliche tschechische Territorium.
Kissingers Vorschlag mit dem Münchener Abkommen von 1938 zu vergleichen, zeugt von einer erstaunlichen historischen Unkenntnis. Hitler war nämlich über dieses Abkommen keineswegs erfreut, sondern höchst verärgert. Er war längst vor dem Pakt zum Krieg entschlossen, mußte ihn aber wegen des Abkommens aufschieben, weil die Westmächte ihm kampflos überließen, was er durch einen Krieg habe erreichen wollen: „Er fühlte sich um den größeren Triumph betrogen, den er, da war er sicher, durch einen begrenzten Krieg mit den Tschechen hätte erringen können“ (I. Kerkshaw, Hitler 2008, 483). Im März 1939 hat Hitler dann die Rest-Tschechoslowakei besetzt, weil er militärisch den Rücken frei haben wollte für den Fall eines Krieges mit Frankreich.
Die Politiker und Journalisten, die Kissingers Statement von Davos mit dem Münchener Abkommen von 1938 und seinen Folgen vergleichen, scheinen auch die wenig rühmlichen Begleitumstände der damaligen, von Hitler beherrschten Situation nicht zu kennen. In der Sudetenkrise kollaborierten nämlich Polen und Ungarn diplomatisch mit Hitler: „Die Regenten Polens verschmähten es nicht, an der tschechischen Beute teilzuhaben und sich selbst ein Stück – das Teschener Industriegebiet – aus dem wunden Körper zu schneiden, uneingedenk der Gefahr, daß morgen sie treffen könnte, was die Tschechen heute traf.“ (G. Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 1966, 883).
Putin mit Hitler zu vergleichen zeugt nicht nur von einer kolossalen historischen Ignoranz, sondern stellt eine nicht zu entschuldigende Verharmlosung Hitlers dar.
Die Journalisten und Politiker, die Kissingers Vorschlag ablehnen, haben offenbar die weitsichtige Intention des ehemaligen amerikanischen Außenministers nicht verstanden. Er hat nämlich die Sorge, daß ohne eine Lösung des Ukraine-Konflikts, die die Interessen der beiden Kriegsparteien berücksichtigt, Europa auf längere Sicht von einer gefährlichen politischen Instabilität bedroht sein werde. Mit anderen Worten, Kissinger hat sich deshalb für einen Kompromiß zwischen der Ukraine und Rußland ausgesprochen, weil er über die aktuelle Situation hinaus auf die nahe Zukunft blickt, die ohne die Beilegung des Konflikts politisch, militärisch, wirtschaftlich höchst unsicher sein dürfte. Dem gegenüber sinnen unsere Politiker vielfach auf ad-hoc-Lösungen, ohne zu bedenken, daß wir in Europa einer äußerst labilen, eine Katastrophe nicht ausschließenden Zukunft entgegengehen.
Laut verschiedenen Agenturmeldungen hat der ukrainische Präsident gesagt, die Ukraine werde kein Gebiet abgeben.: »Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurück hat.« Man muß kein Militärexperte sein, um in diesem Statement eine Illusion und einen frommen Wunsch zu sehen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Ukraine jemals in der Lage sein werde, die mehrheitlich von Russen besiedelte Krim zurückzuerobern. Solche vollmundigen Absichtserklärungen sind natürlich nicht dazu angetan, die ukrainische Politik glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Der Westen hat Rußland mit scharfen wirtschaftlichen Sanktionen belegt. Nun wundert man sich aber hier, daß Rußland mit gleicher Münze zurückzahlt und die Ausfuhr ukrainischen Getreides aus den Schwarzmeerhäfen blockiert. Vor kurzem hat Rußland aber gegenüber Deutschland und Frankreich ein Geschäft vorgeschlagen: Es will die Ausfuhr des Getreides nicht verhindern, wenn der Westen die Sanktionen gegen Rußland aufhebt. Meines Wissens ist der Westen bisher auf diesen Vorschlag nicht eingegangen. Man kann nun aber hier nicht mehr so tun, als sei der blockierte Getreidehandel allein eine Sache Rußlands.
Wenn mein Eindruck, der sich freilich nur auf wenige Publikationen stützen kann, nicht täuscht, scheint sich allmählich – nach einer fast bedingungslosen Unterstützung der Ukraine durch die öffentliche Meinung – nun doch eine gewisse Vorsicht, um nicht zu sagen eine gewissen Distanz gegenüber der ukrainischen Regierungs-Propaganda einzustellen. Die ukrainischen Politiker treten gegenüber dem Westen mit ihren Forderungen, was Finanzhilfe und Waffen angeht, eher wie aggressive Bettler auf denn als vertrauenerweckende Partner. Sie wundern sich dann, daß man durch eine ungeschickte Diplomatie nicht die Sympathie anderer Staaten gewinnen kann.
Undiplomatischer als ihr Botschafter, der den Bundeskanzler „eine beleidigte Leberwurst“ nannte, kann man sich ja kaum noch ausdrücken. Die Folge davon aber war, daß man den Mann in Regierungskreisen – und zunehmend auch in den Medien – nicht mehr ernst nahm; andernfalls hätte man ihm die Rückkehr in seine Heimat empfehlen müssen. Jene Beleidigung bezog sich darauf, daß der Kanzler sich weigerte, nach Kiew zu pilgern, nachdem der Bundespräsident als unerwünscht abgewiesen worden war, ein Affront sondergleichen, wie er zwischen angeblich verbündeten und befreundeten Staaten bisher ganz undenkbar schien.
Dem jetzigen Schauspiel der Politik fehlen auch nicht die komischen, aber keineswegs humorvollen Noten. Am Karfreitag wurde der Papst kritisiert, weil beim Kreuzweg eine Russin und eine Ukrainerin das Kreuz eine Wegstrecke trugen. Kirchenleute aus der Ukraine wandten gegen diese harmlose Friedensgeste tatsächlich ein, dadurch werde der russische Aggressor „nicht adäquat dargestellt“ – ein wahrhaft schwachsinniger Einwand, der mit christlichen Geist natürlich unvereinbar ist. Ärgerlicher als diese alberne Reaktion ist jedoch, daß solche Torheiten überhaupt in den westlichen Medien registriert werden, so als habe jedes ukrainische Räuspern an sich einen Nachrichtenwert.
Komisch, aber auch keineswegs zum Lachen ist sodann das merkwürdige Verhalten eines Abgeordneten der Grünen, der ehemals Pazifist war und nun nicht müde wird, schwere Waffen für die Ukraine zu fordern, ein virtueller Panzergeneral im Stile eines Guderian, eines Rommel oder Patton, der in Osteuropa gerne wieder richtige Panzerschlachten sehen möchte. Auch hier ist weniger das Verhalten des Polit-Clowns merkwürdig als die Tatsache, daß es ständig in den Medien erwähnt wird.