Was man von der Minute ausgeschlagen,
gibt keine Ewigkeit zurück.
Der Erfolg politischen Handelns hängt bekanntlich entscheidend davon ab, ob man als verantwortlicher Politiker den günstigsten Zeitpunkt erkennt, an dem man seine Pläne verwirklichen kann.
Das Musterbeispiel ist der Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands, den Helmut Kohl, historisch gebildet und politisch erfahren, klar erkannt und für seine Zwecke dann, mit einem kräftigen Schuß Eigensinn, tatkräftig genutzt hat.
Es war die Zeit zwischen dem 9. November 1989, der Öffnung der Berliner Mauer, und dem 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, die günstigste Zeitspanne, vor dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ausbruch des Irakkriegs. Wenig später war Gorbatschow nicht mehr handlungsfähig und die amerikanische Regierung war vollauf mit der Irak-Krise beschäftigt. Kohl war der einzige deutsche Politiker, der die Chance erkannt und genutzt hat, und der einzige Politiker, der aufgrund seines europäischen Renommees den Widerstand Mitterands und Thatchers gegen die deutsche Einheit überwinden konnte.
Nun liest man in den Memoiren, 1973-1974, von Henry Kissinger (München 1982), daß im Frühjahr und Sommer 1974 eine geringe, aber doch reale Chance bestanden habe, das Problem der Palästinenser zu lösen. Es war die Zeit nach dem Yom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973. Kissinger gelang es im Verlauf seiner Pendeldiplomatie zwischen Jerusalem, Kairo und Damaskus, Januar 1974, die Entflechtung der Truppen an der ägyptisch-israelischen Front durchzusetzen, und im Frühsommer des gleichen Jahres kam es durch seine Vermittlung zu einer Entflechtung der israelischen und syrischen Armeen auf den Golan-Höhen. Kissinger war der Ansicht, daß nach der Entschärfung des Konflikts zwischen Ägypten und Israel und des Konflikts zwischen Syrien und Israel nun der Augenblick gekommen sei, den Streit zwischen Israel und Jordanien beizulegen.
Im Februar 1974 erklärte er vor einer Gruppe führender amerikanischer Juden: „Wenn sich die Israelis nicht innerhalb der nächsten sechs Monate irgendwie mit Hussein über das Jordan-Westufer einigen können, dann rechne ich damit, daß Arafat international anerkannt werden und die Welt in ein Chaos geraten wird … Als Berater der israelischen Regierung würde ich dem Premierminister sagen: ‚Um Gottes willen, tun sie etwas mit Hussein, solange er noch mitspielt.‘“ (l.c. 1140)
Kissinger verweist damit auf einen Vorschlag Jordaniens, der besagte, daß Israel das Westjordanland räumen sollte und darin eine jordanische Zivilverwaltung eingerichtet würde. Auf diese Weise wurde der Anspruch Jordaniens betont, daß es die Palästinenser vertrat. Das von Israel 1967 eroberte Westjordanland würde nach diesem Plan entmilitarisiert sein und die Palästinenser wären jordanische Staatsbürger. Dieser Plan wurde die „jordanische Option“ genannt. Er hatte aus amerikanischer Sicht und, wie Kissinger annahm, auch für die israelische Seite den Vorteil, daß König Hussein ein westlich orientierter Herrscher war und die möglicherweise entstehenden Spannungen mit den Palästinenser dann nicht zwischen ihnen und Israel stattfinden würde, sondern innerhalb Jordaniens (l.c. 1329).
Der Plan, den Kissinger für die vernünftigste Lösung des Palästinenser-Problems hielt, scheiterte aus zwei Gründen. Die israelische Regierung konnte diese Option nicht in Betracht ziehen, weil sie zu mutigen, weitreichenden Handlungen nicht fähig war. Die Koalition hatte im Parlament nur eine Stimme Mehrheit und der Koalitionspartner war die Nationalreligiöse Partei, die jeden Rückzug Israels aus dem Westjordanland strikt ablehnte. – Es fehlte auf israelischer Seite ein tatkräftiger Politiker, der in der Lage gewesen wäre, eine Koalition zu bilden, die jenen Plan unterstützt hätte. Mit anderen Worten, es fehlte die Einsicht in die Gunst der Stunde, ein drängendes Problem zu lösen.
Die jordanische Option war dann endgültig im Oktober 1974 erledigt, als auf einer arabischen Gipfelkonferenz in Rabat „die PLO zur einzigen Vertretung und zum Sprecher für das Jordan-Westufer ernannt und Jordanien aus den diplomatischen Bemühungen um dieses Problem ausgeschaltet wurde … die Palästinenser-Frage wurde zum unlösbaren Problem.“ Das habe sich bis heute, d.h. 1982, nicht geändert (l.c. 1331).
Wir können hinzufügen, daß wir gerade erleben, daß dieses Problem trotz der Verwaltung der Palästinenser in Teilen der Westbank bis heute nicht gelöst ist, und die wieder ins Spiel gebrachte Zwei-Staaten-Lösung dürfte wohl kaum realisiert werden.
Kissinger schließt seine Überlegungen mit den resignativen Worten: „Womit wir nicht gerechnet hatten, waren die Beschlüsse von Rabat. Allerdings hätte die jordanische Option wahrscheinlich auch sonst keine Chance gehabt“.
So gering die Chance aber auch gewesen sein mag, man wird doch sagen können, daß damals eine vernünftige Lösung des Palästinenser-Problems verpaßt wurde. Die Option hätte die Palästinenser zu jordanischen Staatsbürgern gemacht. Das Westjordanland wäre als entmilitarisierte Zone wieder zu Jordanien gekommen, zu dem es bis 1967 gehört hatte, zu einem Land, mit dem Israel inzwischen Frieden geschlossen hat. Kann man nicht annehmen, daß diese Lage doch klüger und für die betroffene Bevölkerung erträglicher wäre als das jetzige Besatzungsregime?
In seinen späteren Erinnerungen Jahre der Erneuerung. 1974-1976 (München 1999) kommt Kissinger noch einmal auf die jordanische Option zu sprechen, um auf die immanenten Schwierigkeiten dieser Lösung zu verweisen: "Unser Plan, Hussein in die West-Bank zu bringen, wäre auch nicht so leicht umzusetzen gewesen, wie es in der Theorie schien. Hätte Hussein auch nur ein Stückchen der West-Bank erhalten, hätten ihn zwangsläufig die Araber stark unter Druck gesetzt, dieses an die PLO abzutreten. Das hätte unweigerlich eine große Krise ausgelöst." (l.c.308)
Diese Worte zeugen von der Umsicht des amerikanischen Politikers, der seine eigenen Pläne immer wieder im Licht neuer Erfahrungen überprüft. Daß aber damals eine Chance vertan wurde, wird damit nicht dementiert.