Rez.: Christian Thies, Geschichte. De Gruyter. Berlin 2021 (Grundthemen der Philosophie).
Die „Geschichte“ hat keine Identität, keine Persönlichkeit, also auch keine Dämonie. Sie ist ein bloßer Sammelname für das, was unzählbar viele Menschen treiben.
Das Wort Organisation, das jetzt von den Franzosen so häufig gebraucht wird, könnte recht gut von Gelehrsamkeit gesagt werden. Man muß Hypothesen und Theorien haben um seine Kenntnisse zu organisieren, sonst bleibt alles bloßer Schutt, und solche Gelehrten gibt es in Menge.
Nach meinem Eindruck fand die Geschichtsphilosophie in den 70er Jahren bei uns ein neues oder wieder erwachtes Interesse. Die klassische Streitschrift Karl Poppers Das Elend des Historizismus, die jede Geschichtstheorie scharf kritisierte, die auf der Annahme historischer Gesetze beruht, erschien in diesem Jahrzehnt in mehreren verbesserten Auflagen. 1974 kam die Analytische Philosophie der Geschichte (1965) von Arthur C. Danto auf deutsch heraus und im gleichen Jahr erschien von Herbert Schnädelbach die Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Ein Jahr zuvor war von der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ der umfangreiche Sammelband Geschichte – Ereignis und Erzählung erschienen, darin ein Aufsatz des Transzendentalbelletristen Odo Marquard über den Abschied von der Philosophie der Geschichte.
Selbstverständlich war das Thema der Geschichte in der Philosophie in vielfacher Form ständig auf der Tagesordnung, z. B. in der Frage einer veränderlichen Wahrheit oder in der Frage nach Adornos negativer Geschichtsphilosophie oder dem Problem einer Seinsgeschichte bei Heidegger. Aber die genannten Studien befaßten sich systematisch im direkten Modus mit dem unhandlichen, mehrdeutigen Thema.
Christian Thies, Professor der Philosophie in Passau, hat nun mit seiner Geschichte eine Schrift vorgelegt, die den gegenwärtigen Stand der Diskussion über Sinn und Zweck einer Geschichtsphilosophie behandelt und sein Verständnis dieser Disziplin erläutert. Es ist eine grundgelehrte, verständlich geschriebene, auf einem erstaunlich weiten und tiefen Wissen historischer Fakten beruhende, gedanklich eindringliche Studie über die Grundprobleme, die mit dem facettenreichen Thema der Geschichte verbunden sind.
Er versteht unter Geschichtsphilosophie „das systematische Nachdenken über die Menschheitsgeschichte“ und interessiert sich dabei besonders für die Frage, ob man aus der Geschichte noch lernen könne, wie eine bekannte Maxime lautet: Historia magistra vitae (Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens). Er nennt seine Geschichtsphilosophie dialektisch, ohne das Epitheton näher zu erläutern, und beruft sich für sein Vorhaben auf Ansätze bei Kant und Karl Marx, dessen Theorie er als historische Soziologie versteht.
Überblick
Zunächst entscheidet Thies sich dafür, mit „Geschichte“ das Geschehen, den Ereignisverlauf, zu bezeichnen, und mit „Historie“ die Wissenschaft oder die Beschreibung dieses Geschehens. Er grenzt seinen Geschichtsbegriff von anderen Varianten ab, etwa der Naturgeschichte, und versteht die Gesamtheit der Geschichte als die Menschheitsgeschichte. Was nun die Beschäftigung mit dem Phänomen der Geschichte angeht, so kennt er sechs Stufen: 1. das meist auf die Vergangenheit bezogene Geschehen, 2. die in der Gegenwart auffindbaren Spuren und Gegenstände der Geschichte, Ruinen und Dokumente, 3. das historische Gedächtnis, 4. das Wissen von der Geschichte, das kulturelle Gedächtnis, 5. die Geschichtswissenschaft, 6. die Geschichtsphilosophie. Es ist eine mehr oder weniger plausible Gliederung, die das komplexe Thema einigermaßen überschaubar macht.
Die Geschichte als Gegenstand der Geschichtsphilosophie bestimmt er dann näher als „die Kombination von zwei Ganzheiten, der synchronen Totalität der gegenwärtigen Menschheit und der diachronen Totalität der Weltgeschichte“ (S.22), sichtlich eine Bestimmung, die die hochgesteckte Ambition des philosophischen Bewußtseins verrät. Dabei sind zwei Gedanken hervorzuheben: daß die Menschheit nicht Handlungssubjekt der Geschichte ist, sondern Referenzobjekt, Bezugspunkt der historischen Beschreibung und philosophischen Interpretation, und daß die leitende Frage der Geschichtsphilosophie im Anschluß an Kant die Form hat: Wer sind wir Menschen als geschichtliche Wesen? Bei dieser Untersuchung wären schließlich die beiden Fehler zu vermeiden: der eurozentrische Gesichtspunkt und das Vorurteil, die Gegenwart als Maßstab des Geschehenen zu betrachten, einen Fehler, den man meines Erachtens historischen Provinzialismus nennen könnte.
Im 3. Kapitel geht es um die „Reflexive historische Selbstvergewisserung“, also um unser Selbstverständnis als geschichtlich bedingte Wesen. Dazu werden zunächst historische Fakten gefordert, die die Geschichtswissenschaft bereitstellen kann. Dann können wir nicht ohne positive oder negative Vorbilder für unser politisch-gesellschaftliches Verhalten auskommen. Des weiteren sind die meisten Menschen an ihrer persönlichen Geschichte interessiert, und viertens kann eine alternative, selbst eine kontrafaktische Geschichtsbetrachtung für unser Selbstverständnis förderlich sein, und schließlich gilt es, unsere Vergangenheit einer strengen Kritik zu unterziehen.
Anschließend wird untersucht, was für eine Funktion die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Geschichtsphilosophie haben; deren Aufgabe ist es, über die Spielarten der Geschichtsschreibung wie über jede Art der Geschichtsbetrachtung zu reflektieren. Die Geschichtsphilosophie befaßt sich mit dem Menschen als geschichtliches Wesen, sie unterscheidet sich aber von der Anthropologie dadurch, daß diese sich auf deskriptive Aussagen über den Menschen beschränkt, während die Geschichtsphilosophie auch normativ ist.
Das 4. Kapitel ist das Kernstück der Studie, es präsentiert und bespricht fünf Typen der Geschichtsphilosophie: die analytische Geschichtsphilosophie, die sich hauptsächlich mit wissenschaftstheoretischen Fragen dieser Disziplin befaßt und untersucht, worin historische Erklärungen bestehen (hier bin ich dem Autor dankbar, daß er auf das Modewort „Narrativ“ verzichtet hat); die normative Geschichtsphilosophie, bei der es um die Frage geht, wie Geschichte zu bewerten sei; die metaphysische Geschichtsphilosophie, die den Sinn der Geschichte erforscht; die substantialistische Geschichtsphilosophie, die nach dem Wesen der Geschichte fragt; schließlich die reflexiv-praxisorientierte Geschichtsphilosophie, die die Frage diskutiert, was wir hoffen können, und einen universalen Rechtszustand als das Ziel des politisch-gesellchaftlichen Handelns zu rechtfertigen sucht.
Unter der Rubrik der metaphysischen Geschichtsphilosophie werden auch die messianistische Konzeption Walter Benjamins und die heilsgeschichtliche Theorie des christlichen Philosophen Theodor Haecker genannt. Zu Benjamin wäre zu ergänzen, daß er entgegen der offiziellen Doktrin des Marxismus als Motiv einer erforderlichen Revolution nicht das Glück der späteren Generationen angibt oder propagiert, sondern „das Bild der geknechteten Vorfahren“, ein durchaus origineller Gesichtspunkt, der meines Erachtens auf die Erfahrung der jüdischen Geschichte zurückgeht und selbst bei der Gründung Israels eine Rolle gespielt haben dürfte („Über den Begriff der Geschichte“, Nr.XII).
Von Haecker wird der Gedanke angeführt, daß es eine Theodizee gebe, aber Gott sie uns nicht offenbare (S.58). Dem möchte ich seine Auffassung hinzufügen, daß man als Christ den heilsgeschichtlichen Sinn oder das Ziel der Universalgeschichte durchaus kennen könne, zu gleicher Zeit aber „über den partikularen Sinn der Geschichte der Völker in einem beängstigenden Dunkel“ sein könne (Was ist der Mensch? Der Christ und die Geschichte. Schöpfer und Schöpfung. 1965, 258). Das heißt aber nichts anderes, als daß Haecker einräumt, daß man von einem profanen Standpunkt aus durchaus zu der Erkenntnis kommen kann, daß die Weltgeschichte ohne Sinn ist, und es heißt auch, daß er die These Theodor Lessings, den er nicht beim Namen nennt, ablehnt, daß die Geschichte eine Sinngebung des Sinnlosen sei (l.c. 267; cf. , Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert. S.120.).
Im nächsten Kapitel kommen die bekannten Modelle des geschichtlichen Verlaufs zur Sprache, ihre Aussagekraft und ihre Problematik: Stillstand, Kreis, Verfall, Aufstieg. Eine Folgerung dieser Diskussion ist, daß die abstrakten Modelle inhaltlich konkretisiert werden müßten, und der Philosophie komme es zu, zu untersuchen, wie derartige Theorien in der historischen Forschung angewendet werden.
Im 6. Kapitel wendet der Autor sich dem „Rätsel Europa“ zu, dessen Zeitalter er von 1750 bis 1945 datiert. Es geht um die Frage, warum Europa auf einmal so mächtig wurde. Thies vertritt einen geographischen Begriff von Europa, er spricht von der politischen Macht einiger europäischer Staaten und teilt mit, daß ein spezifisch europäisches Bewußtsein erst mit der Aufklärung aufgekommen sei.
Eine weitere These lautet, daß „das Christentum, das Europa tief prägte, eindeutig nicht-europäischen Ursprungs“ sei und „keiner der wichtigsten Kirchenväter (Origenes, Augustinus, Johannes Chrysostomos) aus Europa“ stamme (S.108). Dagegen kann man einwenden, daß diese Aussage dem geographischen Begriff Europas entspricht, nicht jedoch dem kulturellen Begriff, der traditionell mit „Abendland“ wiedergegeben wird. Er spielte zum Beispiel im Nachkrieg, im Ost-West-Konflikt eine prominente politische Rolle, wo es um den Gegensatz von christlichem Abendland und den offiziell atheistischen Regimen des Ostblocks ging. So ist etwa für Josef Pieper selbstverständlich, daß auch die griechischen Kirchenväter, Origenes, Athanasius, Chrysostomus, zum „abendländischen Bestand“ gehören, nicht zu reden von den lateinischen Nordafrikanern Tertullian und Augustinus (J.Pieper, Erkenntnis und Freiheit 1964, 30ff.).
Hier wäre auch daran zu erinnern, daß Paulus seinen theologisch gehaltvollsten Brief nicht an eine orientalische Gemeinde geschrieben hat, sondern an die christliche Gemeinde in Rom, sie hatte damals schon ein besonderes Ansehen. Paulus sagt, daß ihr "Glaube in der ganzen Welt gerühmt" werde (Römer 1,8). Das Ansehen wurde dadurch gesteigert, daß die beiden bedeutendsten Apostel, Paulus und Petrus, hier weilten und unter Nero den Märtyrertod fanden.
Das Imperium Romanum, ebenso das Mare nostrum (Mittelmeer), bildete eine politisch-kulturelle Einheit mit europäischen, asiatischen und afrikanischen Provinzen, eine Einheit mit Schwerpunkt im Abendland, nicht im Orient. Jesus wurde im römischen Reich zur Zeit des Augustus geboren, wie im Evangelium nicht ohne Grund versichert wird; er starb unter Pontius Pilatus und Paulus konnte als römischer Bürger an das Gericht in Rom appellieren. Umfassender als der Begriff "Abendland" ist sein angelsächsisches Äquivalent "the west". Der Westen ist eine Gruppe von Staaten, die durch eine Reihe politisch-kultureller Ideale miteinander derart verbunden sind, daß Popper fragen konnte: "Woran glaubt der Westen?" Er verstand darunter ein bestimmtes Zivilisationskonzept (Auf der Suche nach einer besseren Welt. 1995, 131ff.).
Das letzte Kapitel der Studie ist dann „Reflexionen zum Fortschritt“ gewidmet, der Untersuchung eines utilitaristischen und eines deontologischen Fortschrittsmodells. Als Bilanz hält Thies sechs Punkte fest. Er verneint die Behauptung, daß die Geschichte einen Sinn habe, obwohl er die Frage nach ihrem Ursprung und Ziel für berechtigt hält. Er verwirft alle essentialistischen und historizistischen Auffassungen der Geschichte. Er spricht sich dafür aus, zum Zweck des Verstehens des Geschichtsverlaufs mit aller Vorsicht Modelle heranzuziehen. Als mächtige Fortschrittstendenzen stellt er einen technischen Fortschritt, einen Fortschritt der Lebensqualität und einen Fortschritt der Rechtsstaatlichkeit fest. Doch vergißt er auch nicht die Schattenseiten der geschichtlichen Entwicklung: die materielle Ungleichheit der Welt, die Gefährdung der Demokratie, die Zerstörungen der Natur. Schließlich rechnet er auch mit der Möglichkeit, daß die Epoche der genannten Fortschrittstendenzen jäh enden könnte.
Zum Schluß räsoniert er über die Bedeutung von Furcht und Hoffnung im Verständnis und im Erleben der Geschichte, um endlich mit einem Wort Heines das Recht des einzelnen Menschen gegenüber der gesamten Weltgeschichte zu betonen.
Anmerkungen
Die Geschichte ist ein unerschöpfliches Thema und die vorliegende Studie ist sehr anregend. Sie verleitet den Leser zum Nachdenken über das Erleben und Erleiden der Geschichte und bringt ihn auf Gedanken, die die Ausführungen der Studie ergänzen mögen. Das ist der Sinn der folgenden Anmerkungen.
Zunächst wären zwei begriffliche Fragen zu nennen. Mit dem Ausdruck „kollektives Gedächtnis“ sind die „miteinander geteilten Erinnerungen“ einer Gruppe gemeint (S.7). Der Ausdruck bleibt aber trotz dieser Klarstellung fragwürdig, weil er an C.G. Jungs fatale Theorie des kollektiven Unbewußten erinnert.
Dann ist die Rede davon, daß „jede Person mehrere Identitäten“ besitze, z. B. Europäer, Mensch, Holsteiner, Mann, Vater, Wissenschaftler usw. (S.25). Damit wird eine höchst verwirrende und philosophisch umstrittene Terminologie berührt. Nach meiner Meinung wäre hier der Sprachgebrauch Tugendhats vorzuziehen und zwischen numerischer Identität und der qualitativen Identität zu unterscheiden: der Frage, wer ein Mensch ist, die durch Angabe des Namens und der Herkunft beantwortet wird; diese Bestimmung kann aus logischen Gründen nicht geändert werden. Bei der qualitativen Identität geht es darum, was für ein Mensch man sein will.
Auf diese Frage beziehen sich die Beispiele von Thies. Doch spricht er meines Erachtens von verschiedenen Rollen, die man von der qualitativen Identität im eigentlichen Sinn unterscheiden sollte, die sich auf das Merkmal der Menschlichkeit bezieht. Denn man kann sich immer von den sozialen Rollen, die man spielt, distanzieren, da sie nicht die existentielle Frage nach dem richtigen Menschsein betreffen. Ein Lehrer, der sich in allen Lebenslagen als Lehrer aufführt, macht sich nicht nur lächerlich, sondern landet im Extremfall in einer Anstalt. Übrigens hat Habermas mit seinem Begriff der „Rollenidentität“ nicht gerade zur Klärung der Sache beigetragen (E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. 1979, 284; 278).
Doch dürfte der normative Aspekt der hier konzipierten Geschichtsphilosophie der heikelste Punkt dieser Studie sein. Es heißt da, die Aufgabe der Moralphilosophie sei „die Begründung normativer Aussagen“ (S. 49 u.ö.). Dagegen teile ich die ethische Skepsis Heideggers, daß die Philosophie nicht die präskriptive Kompetenz besitzt, moralische Normen festzulegen oder zu begründen, geschweige denn moralische Normen mit unbedingt verpflichtender Kraft (M. Heidegger, Sein und Zeit. 1979, 310f.). Weder E. Tugendhat, noch J. Habermas oder K.O. Apel mit ihrer Diskursethik, noch R. Spaemann, H. Jonas oder P. Bieri ist es gelungen, rational zu begründen, daß wir verpflichtet sind, moralische Normen einzuhalten (cf. , Über das Ethos von Intellektuellen. S.176ff.).
Wir entscheiden uns vielmehr für die Achtung der Menschenrechte, so wie im "Grundgesetz" die Achtung der Menschenwürde als Axiom vorangestellt, aber nicht eigentlich begründet wird. Es ist eine Entscheidung, ein Bekenntnis zu einer verbindlichen Moral: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (GG Art. 1 (2)).
Wenn wir von Andersdenkenden, asiatischen oder arabischen Politikern, aufgefordert werden, die Achtung der Menschenrechte zu begründen, kommen wir in große Verlegenheit. Sie ist ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, doch ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, die Geltung der Menschenrechte international durchzusetzen. Als der chinesische Staatsmann Deng Xiaoping Amerika besuchte, kritisierte Präsident Carter die Menschenrechtslage in China. Deng entgegnete, er könne ihm sofort 10 Millionen Dissidenten schicken, wenn er bereit sei, sie aufzunehmen. Dies verschlug Carter, der die Menschenrechte zu seinem politischen Programm gemacht hatte, die Sprache und er wechselte das Thema. Eine historische Begegnung chinesischer Schläue mit amerikanischer Einfalt.
Gelegentlich ist von den philosophischen Reflexionen Jacob Burckhardts die Rede (S.10). Sie wären als Hegelianismus zu bestimmen, wie Ernst Gombrich nachgewiesen hat (Die Krise der Kulturgeschichte. München 1991, 51). Die Aussage bei Thies "Es gibt kein unschuldiges Auge" (S.10) geht wohl ebenfalls auf Gombrich zurück.
Schließlich seien noch zwei Probleme von geschichtsphilosophischer Bedeutung genannt, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienten. Ich meine zunächst die historische Zeit, die sich von der natürlichen, gleichförmig verlaufenden Zeit dadurch unterscheidet, daß sie durch hervorragende Ereignisse akzentuiert wird, d.h. wesentlich datierbar ist: „nach Christus“, „ab urbe condita“, „das Jahr der griechischen Olympiade“. Die historische Zeit ist die Grundlage unserer geschichtlichen Orientierung, des Kalenders und der Chronologie (Paul Ricœur, Zeit und Erzählung. 1991, Bd. III, 125ff.).
Ein historisch überaus bedeutsames Datum ist 1648, das Jahr des Westfälischen Friedens, der einen politischen Fortschritt ersten Ranges darstellt. Damals wurde zum ersten Mal in der Geschichte eine Weltordnung auf der Basis der Gleichberechtigung der Staaten festgelegt. Die Souveränität der Staaten wurde gegenseitig anerkannt, eine Einmischung in die inneren, vor allem religiösen Angelegenheiten der anderen Staaten wurde verboten und man strebte ein Gleichgewicht der Macht zwischen ihnen an. Dieses Modell zwischenstaatlicher Beziehungen wurde in Europa zwar nicht immer konsequent beachtet, doch hat es sich als Ideal einer Weltordnung neben anderen Konzepten der Machtbeziehungen durchaus bewährt (Henry Kissinger, Weltordnung. 2014; cf. Lektüre).
Exkurs
Erwähnen möchte ich noch zwei geschichtsphilosophische Werke, die als solche zwar weniger bedeutend waren, doch in der internationalen politischen Debatte viel beachtet wurden und wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad auch die amerikanische Politik beeinflußt haben. Gemeint ist Das Ende der Geschichte (1992) des neokonservativen Philosophen Francis Fukuyama und Kampf der Kulturen (1996) des Politikwissenschaftlers Samuel Huntington. Übrigens erwähnt Thies die beiden Autoren en passant.
Fukuyama meinte, das Ende des Ost-West-Konflikts führe dazu, daß sich das Modell der westlichen Demokratie weltweit ausbreiten würde und daß eine dominierende Marktwirtschaft einen Zustand des Wohlstands herbeiführen würde; damit wären die bisherigen globalen Gegensätze veraltet. Peter Scholl-Latour urteilte über diese These, sie sei von Anfang an absurd gewesen, obwohl sie von den Ökonomen eines unreglementierten Kapitalismus vertreten wurde (Koloß auf tönernen Füßen. 2006, 47). Karl Popper, der prinzipiell jedes Gesetz des Fortschritts ebenso ablehnt wie politisch-historische Prophezeihungen, erklärte in einem seiner letzten Gespräche zu Fukuyamas Thesen, es seien Phrasen, "dumme Phrasen" (Alles Leben ist Problemlösen. 1994, 294).
Huntington vertritt die These, daß nach dem Ende des Kalten Krieges anstelle ideologischer politischer Gegensätze im Zusammenspiel der Staaten nun kulturelle Gegensätze die Hauptquelle für politische, wirtschaftliche und militärische Konflikte bilden würden. Es gehe nun nicht mehr um eine Auseinandersetzung genuin politischer Ideen, sondern um eine Auseinandersetzung über Kultur und Religion. Angeregt wurde Huntington zu dieser These durch die Balkankriege, wo die Gegensätze zwischen orthodoxen und römischen Christen sowie Moslems erstmals wieder eine machtpolitische Rolle spielten. Auch erklärte die These nachträglich die Rolle der Religion, die in der iranischen Revolution der entscheidende Faktor war, und sie verweist auf den späteren militanten islamischen Fundamentalismus (cf. meine Rezension)
Freilich kann Huntington mit seinem kulturellen Erklärungsmuster das Vormachtstreben Chinas offensichtlich nicht erklären. Was er dazu zu sagen hat, sind vielmehr Gründe für die altbekannten Phänomene der Machtpolitik und der Wirtschaftskraft (Kampf der Kulturen 1996, 371ff.). Was die Ukraine angeht, so glaubte er an eine enge ukrainisch-russische Zusammenarbeit, ohne das russische Machtstreben zu berücksichtigen. Freilich hat er bei den Bewohnern der Krim ein gewisses Streben nach Unabhängigkeit registriert, ein Faktor, der in der heutigen Diskussion über den Krieg der Ukraine mit Rußland niemals erwähnt wurde (l.c.268).
Ich habe mir diese Abschweifung von dem engeren Thema der Rezension erlaubt, um zu zeigen, daß geschichtsphilosophische Überlegungen durchaus auch eine aktuelle politische Bedeutung erlangen und das Handeln der Regierenden zum Guten oder zum Schlechten bestimmen können. Huntington war Berater des amerikanischen Außenministeriums. Auch ist bekannt, daß Henry Kissinger historisch hochgebildet war und geschichtsphilosophische Betrachtungen sehr schätzte - beides Momente, die sein politisches Handeln nachweisbar bestimmt haben.
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Ich habe gewiß nicht alle Themen der gehaltvollen, überaus problembewußten, scharf nuancierenden Studie besprochen und die ich besprochen habe, habe ich sicher nicht erschöpfend diskutiert; doch dürfte klar geworden sein, daß Thies mit seinem geschichtsphilosophischen Konzept einen theoretischen Rahmen vorgelegt hat, in dem man politisch-historische und kulturgeschichtliche Probleme sinnvoll diskutieren und kritisch überprüfen kann.
Dabei sollte man aber nicht vergessen, daß die Studie auch einen praktischen Zweck verfolgt: sie will der Geschichtsphilosophie einen Platz auf dem universitären Lehrplan sichern. Dies erklärt, daß man manche Abschnitte besser versteht, wenn man bedenkt, daß sie an die Fachkollegen gerichtet sind. In diesem konkreten, durchaus positiven Sinn ist das Buch ein akademischer Diskurs.