Daß ein feuilletonistisches Buch seinen Mitmenschen klares Denken beibringen will, ist ein Widerspruch in sich; denn Feuilletonismus ist ja nichts anderes als der Inbegriff konfusen Denkens. Die Rede ist von dem Buch des Schweizer Autors Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen (2011).
Es strotzt von Pauschalurteilen, falschen Behauptungen, unbewiesenen Erklärungen, logischen Schnitzern, abwegigen Vermutungen, banalen Weisheiten. Dabei ist es in einem pseudowissenschaftlichen Stil aufgemacht mit englischen Kapitelüberschriften, die den Schein wissenschaftlich bewiesener Thesen vermitteln sollen. Der Autor spricht als Insider von MBA und CEO und gebraucht die seltensten Fremdwörter; er ist eingeschworen auf etwelche amerikanische Psychologen und ihre trivialen Experimente, die nur naive Wissenschaftsgläubige überzeugen können. MBA, sprich: Em-bi-e, heißt Master of Business Administration, Magister der Geschäftsverwaltung. CEO, sprich: Si-i-o, heißt Chief Executive Officer, Vorstandsvorsitzender.
Warum aber ein Büchlein besprechen, das inzwischen doch der verdienten Vergessenheit anheimgefallen ist? Es soll deshalb an das Werk erinnert werden, weil es einen Tiefpunkt des Feuilletons und des hiesigen Literaturbetriebs markiert – was doch von allgemeinerem Interesse ist. Die Artikel des Buches wurden in zwei renommierten Zeitungen, hier und in der Schweiz, abgedruckt und von einem renommierten Verlag gesammelt herausgegeben, versehen mit überschwenglichen Lobhudeleien prominenter Stimmen aus Wirtschaft und der Beraterbranche.
Der Autor spottet über die Lebenshilfe-Literatur und liefert nichts anderes als fragwürdigste Lebenshilfe. Er kritisiert die Schwächen der üblichen Managerkurse und bietet meist nichts anderes als Tips, wie man Geld verdienen und als Manager Gewinn machen könnte.
Ich hätte das Buch natürlich niemals gekauft, ich fand es vielmehr in einem Schrank mit Büchern zum Mitnehmen und, als ich es aufschlug, fiel mein Blick auf einen Abschnitt, der zwei Fehler enthielt, und so war meine Neugier geweckt, wes Geistes Kind der Autor sein mag, der ein Denken verspricht, was er selbst nicht beherrscht.
Als Beispiel für den angeblichen Fehler, Personen die Schuld für schlechte Ereignisse zuzuschieben, liest man: „Hitler hat den Zweiten Weltkrieg auf dem Gewissen, der Attentäter von Sarajewo den Ersten. Und das, obwohl Kriege unprognostizierbare Ereignisse sind …“ (S.150). Der Autor leugnet also, daß Hitler den Zweiten Weltkrieg begonnen hat; er behauptet hier richtig, daß der Attentäter von Sarajewo nicht schuld am Ersten Weltkrieg gewesen sei, und meint dann, daß man den Verlauf von Kriegen nicht vorhersagen kann.
Die letzte Aussage ist ein Pauschalurteil, das durch viele Gegenbeispiele widerlegt wird. Zum Beispiel durch den Desert-Storm-Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, ein Waffengang, der derart umsichtig und aufwendig vorbereitet war, daß er gar nicht verloren gehen konnte. Siehe auch die Kriege Alexanders, Caesars, Wallensteins u.s.w.
Die Aussage, daß es falsch sei, Hitler die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuzuschreiben, widerspricht der Wahrheit, da Hitler, und nur Hitler, den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Man muß schon sehr gedankenlos sein, um diese historische Wahrheit heute noch zu leugnen.
Richtig ist dagegen, daß der Attentäter von Sarajewo nicht am Ersten Weltkrieg schuld sei. Nicht er hat diesen Krieg verursacht, sondern in der Hauptsache die österreichische und deutsche Regierung als Reaktion auf die russische Mobilmachung; jenes Attentat war für sie nur ein willkommener, aber fadenscheiniger Vorwand für ihre Entscheidung. Ein bestimmender Faktor war auch die zweideutige Einstellung Englands angesichts dieser Lage. Die österreichischen, deutschen und russischen Akteure planten von Anfang an eine militärische Lösung des schon lange anhaltenden Konflikts um die Vorherrschaft in Europa. Sie zogen in keinem Augenblick einen politischen Ausgleich ihrer Machtinteressen in Betracht, wie es der politische Brauch im 19. Jahrhundert meist der Fall gewesen war. Dies war der größte Fehler, die tiefste Schuld der maßgebenden Akteure im Sommer 1914, wie Henry Kissinger urteilt (Die Vernunft der Nationen 1994, 216ff.)
Dann aber widerspricht Dobelli sich, indem er behauptet, „daß ein einziger Schuß in Sarajewo 1914 die Welt für die nächsten 30 Jahre komplett umpflügen und 50 Millionen Menschenleben kosten würde“ (S.58) – was kompletter Unsinn ist. Denn das Attentat von Sarajewo ist keineswegs durch eine Ursachenkette mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, seinem Verlauf und Ende und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verbunden. Alle diese Ereignisse sind nicht zwangsläufig aufeinander gefolgt, sie wurden vielmehr von verschiedenen Militärs und Politikern verursacht unter vielerlei Umständen, die mit jenem Attentat nicht das Geringste zu tun hatten.
Mißraten ist eine weitere historische Reminiszenz. Zu Goebbels’ Rede über den totalen Krieg heißt es: „Einzeln und anonym befragt hätte wohl kein Mensch diesem absurden Vorschlag zugestimmt.“ (S.19) Das Gegenteil ist richtig, da das Publikum „handverlesen“ war und aus Anhängern der NSDAP bestand (I. Kerkshaw, Hitler 2009, 811). Der angeblich klar denkende Autor weiß nicht, daß der Propagandaminister die Kunst der Masseninszenierung durchaus verstand.
„Wie oft hat die Nazi-Führung das Wort ‚Judenfrage‘ wiederholt, bis die Massen überzeugt waren, daß ein ernsthaftes Problem vorliegt?“, heißt es (S.46) – eine naive Erklärung, die weder historisch richtig ist noch den Antijudaismus Hitlers oder den Antjudaismus vor und nach Hitler erklärt. Ein typisches Beispiel für die Meinung des Autors, die schwierigsten Probleme mit zwei, drei Sätzen aufklären zu können.
Falsch ist auch die Erklärung der mißglückten amerikanischen Invasion Kubas in der Schweinebucht im April 1961. Sie sei unternommen worden, weil man meinte: „Wenn unser Führer (Kennedy) und die Gruppe der Überzeugung sind, der Plan funktioniere, dann wird das Glück auf unserer Seite stehen“ (S.103). In Wirklichkeit wurde Kennedy von der Führung der CIA aufgrund falscher Informationen zu dem Unternehmen überredet. Es gab durchaus Widerspruch von Experten, der aber von den CIA-Oberen abgewiesen wurde. Auch war das Unternehmen dilettantisch vorbereitet, es stützte sich auf Landkarten von 1895! (T. Weiner, CIA. Die ganze Geschichte. 2012, 240ff.)
Unrichtig ist auch die Begründung, warum der Vietnam-Krieg der Amerikaner verlängert worden sei: „Wir haben das Leben so vieler Soldaten für diesen Krieg geopfert, es wäre ein Fehler, jetzt aufzugeben“ (S.23). Das Gegenteil ist richtig. Die wachsende Zahl der beim berüchtigten Body-Counting gemeldeten gefallenen Amerikaner war das öffentlichkeitswirksamste Mittel, das zu Protesten und damit zur Truppenreduzierung und zum vollständigen Abzug der Amerikaner führte.
Ebenso irreführend sind die Ausflüge des Autors in die menschliche Vorgeschichte. Er behauptet, die Einstellung, Rache mit Gegenrache zu beantworten, gehöre „seit weit über 100 Millionen Jahren zu unserem soliden Überlebensprogramm“ (S.27). Eine unhaltbare Aussage, da es damals nicht mal Affen gab, die erst vor 60 Millionen Jahren aufgetreten sind. Den Homo habilis gab es vor 2 Millionen Jahre, den Homo sapiens vor 30.000 Jahren (J. Eccles, Die Evolution des Gehirns. 1989, 46). Daß ein derartiges Verhaltensschema angeboren sei, ist nichts anderes als eine laienhafte Vermutung.
Daß die Menschen den Aktivismus bevorzugten, führt der Verfasser auf die Jäger-und-Sammler-Umgebung zurück, für die wir optimiert seien, wo sich Aktivität stärker auszahle als Nachdenken (S.178). Der Autor übersieht, daß ausgerechnet die Jagd zur Hälfte der Zeit, wenn nicht zur ganzen Zeit, darin besteht, dem Wild aufzulauern.
Falsch ist die Verallgemeinerung, daß das Abwarten im Leben nie belohnt werde. Ein berühmtes historisches Gegenbeispiel ist das Verhalten Hitlers, der 1932 den Posten des Vizekanzlers ausschlug und auf eine bessere Chance wartete. „Damals hielt ich Hitlers Weigerung für einen schweren Fehler; im Rückblick mußte ich’s anders sehen“, schreibt Golo Mann dazu (Erinnerungen und Gedanken 1991, 448).
Die auf Horaz zurückgehende Maxime „Carpe diem“ (Nutze den Tag) wäre zu ergänzen: "als wäre er der letzte". Dobelli deutet diesen Vers in dem wahrhaft trivialen Sinne: "Genieße den Tag, in vollen Zügen, und kümmere dich nicht um morgen" (S.209) – was natürlich mit dem eigentlichen Sinn des Gedichts, seinem Lebensernst und seinem antiken Schicksalsglauben nicht das Geringste zu tun hat. Es ist ein weiteres Beispiel für die Oberflächlichkeit dieses angeblich klaren Denkens. Eine humanistische Bildung scheint dieser Denker nicht genossen zu haben.
Der Autor vertritt eine seltsame Erzähltheorie. Aussage A lautet: „Der König starb, und dann starb die Königin.“ Aussage B lautet: „Der König starb, und dann starb die Königin vor Trauer“. Dazu erklärt er, A sei ein Tatsachenbericht, B eine Geschichte, die ‚Sinn‘ mache (S.55). In Wirklichkeit ist auch der Tatsachenbericht eine Geschichte, die einen Sinn hat; sonst könnte man sie nicht verstehen. B ist nur informativer und wird deshalb eher behalten als A.
Übrigens ist „Sinn machen“ ein von Dobelli bevorzugter Amerikanismus, ebenso „Technologie“ für „Technik“. Auch meint er – gegen den gewöhnlichen Sprachgebrauch - unwahrscheinliche Zufälle seien nicht überraschend (S.99). Er spricht von „Framing“, der besonderen Aufmachung einer Information oder Meldung (S.173), was vor 15 Jahren ein kurzlebiges Modewort war. Er kennt zum Glück noch nicht das heutige Modewort „Narrativ“. Dafür redet er von Junkbonds, Credit Default Swaps, als wären es die bekanntesten Dinge der Welt. Man sieht, der Mann will sprachlich Eindruck schinden, deshalb auch die ausgefallenen englischen Kapitelüberschriften, mit denen ich die Leser verschonen will. Ein sprachlicher Snobismus der ausgefallensten Art.
Im Falle von Verliebten meint er, daß Schönheit mit Intelligenz und Ehrlichkeit assoziiert werde (S.158), was eine menschenfreundliche, aber durchaus weltfremde Annahme ist. Der brave Mann kennt weder den Spott über Schönlinge beiderlei Geschlechts noch das Phänomen oder das Erlebnis erotischer Leidenschaft.
Die paar Bemerkungen über das Christentum kann man ignorieren, sie verraten nur den religiösen Analphabetismus des Autors und, was er zu philosophischen Themen sagt, ist einfach zu albern, als daß man es zitieren sollte. Man liest, daß ein rationales Verhalten ein Betrug sei, der unbewußt geschehe, und fragt sich, warum der Mensch noch einen Verstand braucht, wenn er sich unbewußt rational verhält (S.137f.).
Zwei Notizen über die Medizin sind Pauschalurteile billigster Sorte: „Bis ins Jahr 1900 war es nachweislich besser, als Kranker nicht zum Arzt zu gehen, weil der Arzt den Zustand nur verschlimmert hätte (mangelnde Hygiene, Aderlaß und andere schiefe Praktiken)“ (S.37). Dabei wird übersehen, daß die Medizin seit Hippokrates durchaus einiges von Heilkunst und natürlichen Heilmitteln verstand. Außerdem wird laut Gesundheits-Brockhaus (1990, 11) der Aderlaß auch heute noch angewandt, freilich in verbesserter Form.
Dann heißt es, im Zweifelsfalle, bei einem unklaren Krankheitsbild werde der Arzt tendenziell eingreifen (S.178) – was der Wahrheit erfahrungsgemäß widerspricht. Die meisten Ärzte werden bei harmlosen Symptomen keine Maßnahmen ergreifen, sondern den Patienten über die Harmlosigkeit seiner Beschwerden aufklären.
Genug der Hinweise auf falsche oder unbegründete Behauptungen in diesem Buch angeblich klaren Denkens. Es ist ein Rätsel, wie ein solches Werk, dessen intellektueller Anspruch ebenso hoch ist wie die intellektuelle Enttäuschung, die es bereitet, überhaupt erscheinen konnte, vorabgedruckt in großen Zeitungen und publiziert in einem seriösen Literaturverlag.
Für seriös aber kann ich das Buch nicht halten. Es ist ein Musterbeispiel für die Misere der Ratgeberliteratur, das Exemplar eines unkritischen Amerikanismus, das naive Vertrauen auf die Wissenschaftlichkeit der amerikanischen Psychologie und ihrer meist trivialen Erkenntnisse, amerikanische Fachausdrücke mit Beweisen verwechselnd. Feuilletonistisches Blendwerk, ein Kompendium historischer Halbbildung, angemaßten Wissens anderer Sparten. Kein Ruhmesblatt für den Zustand unserer öffentlichen Kultur.