Josef Quack

Unzeitgemäße Betrachtung über Recht und Moral




Das Judentum hat der Menschheit vier bedeutende moralische Ideen vermittelt, ein unschätzbarer Beitrag zum Zivilisationsprozeß des homo sapiens oder zur moralischen Entwicklung des Menschengeschlechts: den Dekalog, die zehn Gebote; das Jus talionis, das Recht der gleichen Wiedervergeltung im Schadensfalle; die Idee der persönlichen Verantwortung und den Sinn für den hohen Wert der Gerechtigkeit.

Der Dekalog enthält bekanntlich religiöse Gebote und sittliche Gebote. Hier aber sind die moralischen Gebote gemeint, die sich vom Naturrecht herleiten und für alle Menschen Geltung beanspruchen. Gemeint sind die Gebote: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“ (Exodus 20,13; 15). Das Naturrecht oder das natürliche Sittengesetz aber heißt deshalb „natürlich“, weil alle Menschen fähig sind, mit der natürlichen Vernunft dieses moralische Gesetz im Prinzip zu erkennen. Sein oberster Grundsatz besagt, daß man das Gute tun und das Böse vermeiden soll. Davon sind die genannten Gebote abgeleitet.

Warum aber war es nötig, sinnvoll und hilfreich, diese natürlich erkennbaren Gebote noch eigens in einem religiös feierlichen Akt zu verkünden und schriftlich festzulegen? Dazu erklärt Thomas von Aquin: „Hinsichtlich der Sittengebote, die als Folgesätze aus den allgemeinen Grundsätzen des Naturgesetzes erschlossen sind, war die Vernunft vieler Menschen dem Irrtum verfallen, so daß die Vernunft vieler als erlaubt beurteilte, was in sich schlecht ist. Gegen dieses Versagen mußte den Menschen durch die Machtvollkommenheit des göttlichen Gesetzes Hilfe geschaffen werden.“ (Summa theologiae I-II,99,2).

Kurz gesagt, die schriftliche Festlegung der sittlichen Gebote war nötig, um jeden Irrtum über sie auszuschließen. Unnötig hinzuzufügen, daß diese Gebote nicht zuletzt gegen Gesellschaften gerichtet sind, die das Töten von Menschen und das Wegnehmen von fremdem Eigentum erlaubt haben, und solche Gesellschaften gab es nicht nur in der Frühzeit, sondern bis in unsere Gegenwart.

Das Jus talionis wird an drei Stellen der Bücher Moses zitiert – allein dies ist ein schlagendes Argument gegen die Interpretation einiger Alttestamentler, daß dieses Gesetz ein bloßes Einschiebsel in den biblischen Text sei. Es ist vielmehr ein gültiger Rechtsgrundsatz, der allerdings, wie nicht anders zu erwarten, verschiedene Auslegungen erfahren hat.

In Bezug auf einen Streitfall heißt es: „Wenn ein Schaden entsteht, dann mußt du geben Leben um Leben. / Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß./ Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.“ (Exodus 21,23-25). Daneben wird dieses Recht zitiert in Leviticus 24,17-20 und Deuteronomium 19,21.

Wie immer man dieses Recht der Vergeltung interpretieren mag, selbst in der wörtlich zu verstehenden Fassung ist es innerhalb einer archaischen Gesellschaft eine Begrenzung des ungezügelten Rachegeistes und insofern ein moralischer und rechtlicher Fortschritt gegenüber der Praxis der vielfachen Vergeltung eines Unrechts oder eines Mordes.

Am plausibelsten für unser Verständnis ist jedoch die Auslegung, daß die Rechtsvorschrift nicht wörtlich zu nehmen ist und dem Übeltäter nicht tatsächlich ein Auge ausgestochen oder eine Hand abgenommen wurde, wie es bis in unsere Zeit noch in einigen Gesellschaften üblich war, zum Beispiel in Tibet, wo noch in der Nachkriegszeit den Räubern die Arme abgehackt wurden (H. Harrer, Sieben Jahre in Tibet 1980,90).

Vielmehr wurden körperliche Schädigungen wahrscheinlich durch materielle, finanzielle Ersatzleistungen ausgeglichen. Statt Rache zu üben, ist ein angemessener Schadenersatz zu leisten: „‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’ ist kein törichtes Prinzip der Rache, sondern ein weises Prinzip der Mäßigung von Rachegelüsten. Es tut der Gemeinschaft gut, auf Rache, ja sogar auf Strafe zu verzichten und "nur" den gerechtem Ausgleich zwischen allen Gliedern der Gesellschaft ohne Ansehen der Person und des Standes zu suchen. Wie Paragraph 249 des BGB ist die Talio als Grundsatz des angemessenen Schadenersatzes zu verstehen. In seiner theologischen Perspektive will dieses Recht zu ethischer Verantwortung erziehen, leichtfertige Täter abschrecken, die Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit stärken und gerade dadurch Wege zum Gewaltverzicht eröffnen (Prediger Salomo, Jesus). … Wer gegen die Spirale der Gewalt protestieren will, sollte dies tun, aber ohne dem alttestamentlichen Grundsatz dabei Gewalt anzutun.“ So die überaus wohlwollende Deutung von Manfred Oeming (Universität Heidelberg).

Eine der fundamentalsten ethischen Einsichten verdanken wir dem Propheten Ezechiel, dessen Wirksamkeit in die Jahre von 592-571 v. Chr. fällt. Gemeint ist die Idee der persönlichen Verantwortung in moralischer Hinsicht. Er schreibt:

„Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes. Die Gerechtigkeit kommt nur dem Gerechten zugute und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen.“ (Ezechiel 18,20)

Das heißt, daß die moralische Schuld ein Prädikat ist, das nur auf den Täter zutrifft. Die moralische Schuld ist eine Sache der individuellen Person, nicht eines Kollektivs, einer Familie, eines Stammes, eines Volkes, einer Rasse. Damit wird jede Art von Kollektivschuld verworfen. Alfred Döblin hat für dieses Konzept der Ethik den schönen Ausdruck gefunden: "Moral existiert nur im Singular" (A.Döblin, Kleine Schriften IV. 2005, 194).

Das Erstaunliche an diesem wahrhaft humanen Gedanken ist, daß dieses sublime ethische Ideal schon in so früher Zeit erkannt wurde, über hundert Jahre vor Sokrates, der von 469 bis 399 v. Chr. lebte. Daß diese tiefe ethische Einsicht schon im alten Judentum aufkommen konnte, zeigt wie nichts anderes die hohe ethische Kultur dieses Volkes und seiner Religion.

Jener Gedanke ist der Ausdruck eines ethischen Individualismus. Er erinnert an die mentalitätsgeschichtliche Feststellung Rudolf Bultmanns, daß die Vorstellung der „absoluten Vereinzelung des Menschen vor Gott“ von Paulus stammt und in seinen Briefen näher erläutert wurde und zwar nach gedanklichen Vorstufen im Alten Testament (R. Bultmann, Das Urchristentum 1992, 235). Die Verse Ezechiels sind eine dieser Vorstufen.

Ein weiterer Höhepunkt der ethischen Geschichte der Menschheit ist mit dem Namen des Sokrates verbunden. Er gilt als Begründer der philosophischen Ethik und kann deshalb hier nicht ungenannt bleiben. Er hat als erster Philosoph gefragt, worin das sittlich Gute besteht, und er hat den guten Handwerker oder den guten Feldherrn scharf vom guten Menschen unterschieden.

Vor allem aber ist er durch das wahrhaft selbstlose Ideal seines persönlichen Verhaltens bekannt geworden. Er wurde gefragt: „Du also wolltest Unrecht leiden lieber als Unrecht tun?“ Und antwortete: „Ich wollte keines von beiden; müßte ich aber eines von beiden, Unrecht tun oder Unrecht leiden, so würde ich vorziehen, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.“ (Platon, Gorgias 469c). Eine moralische Maxime, die der christlichen Ethik so nahekommt wie sonst kein Prinzip der antiken Ethik.

Ezechiel geht es bei der Bestimmung der moralischen Schuld um eine Frage der Gerechtigkeit, und in der Tat gilt die Idee der Gerechtigkeit meist als das zentrale moralische Vermächtnis des Judentums an die Menschheit. So auch im Lexikon der Ethik von Otfried Höffe (2002, 132), wo der religiöse und der soziale Sinn der Gerechtigkeit innerhalb der „Jüdischen Ethik“ besprochen wird. Genannt wird auch das „lex talionis“, jedoch ohne weitere Erklärung, die doch dringend nötig wäre. Nicht erwähnt jedoch wird die für eine Stammesgesellschaft geradezu revolutionäre Idee der persönlichen Verantwortung.

Im griechischen Denken ist die Gerechtigkeit ein soziales und ein politisches Ideal. Sie regelt die Beziehungen der Menschen untereinander. Im Alten Testament ist Gerechtigkeit außerdem aber auch eine religiöse Tugend, die sich auf das religiöse Gesetz bezieht. Wer das Gesetz befolgt, gilt als gerecht. Überdies aber ist die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf ein Verhältnis der Gerechtigkeit. Das politische und soziale Ideal der Gerechtigkeit erhält durch diese religiöse Begründung eine besondere Würde und eine eminente Bedeutung.

Dieses Gewicht behält die Gerechtigkeit selbst in ihrer säkularen Form. Ein uns nahes Beispiel dafür ist Karl Kraus, der sich in seiner Kultur- und Gesellschaftskritik an dem biblischen Gerechtigkeitsideal orientierte, wie Walter Benjamin hellsichtig erkannte (W.Benjamin, Gesammelte Schriften 1977, Bd.2,349).

Die Anwendung dieser Ideen auf die gegenwärtige Lage in Nahost bedarf nicht vieler Worte. Jedermann sieht, daß die feindlichen Akteure sich auf einer Stufe der Steinzeitmoral bewegen.

Israel wurde wegen der enormen Zahl getöteter Palästinenser etlicher Kriegsverbrechen angeklagt. Ungefähr 35.000 Palästinenser wurden im Gaza-Krieg getötet, davon konnten 25.000 identifiziert werden. – Zum Vergleich: Durch die verheerende Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 1945 wurden 40.000 Bewohner getötet (J. Friedrich, Der Brand 2002, 358).

Zweitens, das Gesetz der gerechten Vergeltung wurde selbst in seiner primitivsten Form verletzt. Die israelische Aktion zeigte mit der Masse der Toten und der Vernichtung des Lebensraums einen „ungezügelten Rachegeist“.

Drittens, die Palästinenser wurden wegen der Morde und der Geiselnahme vom 7. Dezember 2023 kollektiv bestraft, sie wurden Hunger und Krankheit ausgesetzt, der Wohnung beraubt, verwundet und getötet.

Viertens, die Militäraktion hat dazu geführt, daß die alten Untugenden der Israelis, die Eberhard Piltz, ein intimer Kenner des Landes, schon vor Jahrzehnten als schädliche Tendenzen benannt hatte, wieder exzessiv gepflegt werden: "Bunkerdenken, Nabelschau und Selbstgerechtigkeit" (in W. Höfer, So kam ich unter die Deutschen. 1988, 195). Die Selbstgerechtigkeit aber ist eine der übelsten Perversionen der Gerechtigkeit.

Die einzige Hoffnung besteht derzeit darin, daß sich in Israel eine starke politische Opposition bildet, die dem Krieg in Gaza ein Ende macht.

Was die öffentliche Meinung und die politische Reaktion hierzulande angeht, so wirft man den Sympathisanten der Palästinenser Antisemitismus vor – was unsinnig ist. Denn die Palästinenser sind ja selber Semiten und ihre Sympathisanten können keine Antisemiten sein. Schlimmer aber ist, daß diese Begriffsverwirrung mit einem Unverständnis für jene Proteste verbunden ist, mit einer Gefühlskälte angesichts der zig-tausend getöteten Palästinenser. Man gesteht den Protestierenden nicht mal zu, darüber zu trauern. Soviel zur Menschlichkeit unserer Vertreter einer Menschenrechtspolitik.

J.Q. — 16. Juni 2024

© J.Quack


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