Es bedeutet keinen Verzicht auf Wertung, wenn man feststellt, daß es Unterhaltungsliteratur immer geben muß, ja daß die Funktion der Unterhaltung vielleicht die Grundlage alles literarischen Lebens darstellt.
Ohne Unterhaltung kein literarisches Leben! An sich eine Binsenwahrheit und doch fällt es Wolfgang Kayser, dem wohl berühmtesten und einflußreichsten Germanisten der Nachkriegszeit, offensichtlich schwer, diese Wahrheit zuzugeben. Sie hat nämlich zwei unangenehme Folgen für das Gewerbe der Germanisten. Sie besagt, daß es keine gute, wertvolle Dichtung geben könne, die nicht auch unterhaltsam wäre. Wie viele Werke der sogenannten hohen Literatur sind aber wirklich unterhaltsam? Und ist das Wort „Klassiker“ nicht oft ein Synonym für gähnende Langeweile? Zweitens besagt jene Einsicht, daß der Hauptbedarf an literarischer Unterhaltung von den Bestsellern, der wenig geachteten Trivialliteratur oder von kultivierten Unterhaltungsromanen gedeckt wird, über die die feinsinnigen Akademiker auch die Nase rümpfen.
Mit der Unterhaltungsliteratur aber hat es die besondere historische Bewandtnis, daß gerade der zu seiner Zeit viel gelesene und meist auch oft besprochene Bestseller recht schnell altert. Die kürzeste Lebensdauer im Reich der schönen Literatur haben gerade die Bücher, die beim Erscheinen den größten Erfolg haben. Heinz G. Konsalik und Johannes Mario Simmel waren vor wenigen Jahrzehnten die am meisten gelesenen deutschen Romanciers; heute finden sie kaum noch Leser. Sie lieferten leichte, mundgerechte Unterhaltung, wobei Konsalik gegen die Kritiker seiner schlichten Erzählwerke seine Beliebtheit beim großen Publikum mit der stolzen, unerschütterlich selbstbewußten Bemerkung rechtfertigte, er sei Volksschriftsteller. Ein durchaus diskutables Argument, das zugleich ein Vorwurf an jene Literatur ist, die entweder vorsätzlich oder anlagebedingt keine Leser erreicht.
Ein längeres Nachleben als diesen Bestsellern ist den Unterhaltungsautoren mittlerer Güte beschieden, sie werden auch noch nach mehreren Jahrzehnten, vielleicht noch nach einem Jahrhundert gelesen. Um diesen Romantyp oder diese Literaturkategorie geht es hier, weil man dazu auch den Schweizer Autor John Knittel (1891-1970) zählen kann, der, englisch und deutsch schreibend, zu den erfolgreichsten Romanciers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte.
Der bekannteste Vertreter dieser Gattung ist aber Karl May, der über ein Jahrhundert nicht nur unter Jugendlichen viele hunderttausend Liebhaber gefunden hat, wenngleich sein Charme in jüngster Zeit seine Wirkung einzubüßen scheint. Der Grund für seine Beliebtheit aber liegt auf der Hand. Er bot mit seinen Abenteuer-Erzählungen eine unterhaltsame, eingängig geschriebene, humorvolle, gediegene Nahrung für die Phantasie jugendlicher oder geistig sich jung fühlender Gemüter, die sich dessen nicht zu schämen brauchen. Denn die Idee des Abenteuers, der Ausnahme im Leben, gehört wesentlich zum Nachdenken über die menschliche Existenz und das anschaulichste Nachdenken über das Abenteuer geschieht in der Erzählung (cf. , Das Abenteuer des Lebens ). Was nur wenigen Schriftstellern gelungen ist, ist Karl May geglückt. Er hat ein paar Figuren geschaffen, die bis heute unvergessen sind: Winnetou, Old Shatterhand und Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossara.
Auch Via Mala (1934) wird immer noch gelesen, es ist noch in den Buchläden zu finden und die Fernsehverfilmung 1985 hatte die höchste Einschaltquote, die das Medium jemals erzielte! Das aber ist kein Wunder, da Via Mala ein selten fesselnder Roman ist. John Knittel kann die Spannung über knapp 700 Seiten ununterbrochen aufrechterhalten, eine erstaunliche Leistung, die selbst der kritischste Kritiker anerkennen muß. Knittel gelingt dieses Kunststück zunächst dadurch, daß er die drei Hauptstücke des Romans jeweils in eine besondere moralische, physische und emotionale Atmosphäre getaucht hat. Das erste Hauptstück ist mit seiner Verbrechensgeschichte düster und nächtlich gefärbt, das zweite Hauptstück wird vom hellen Tag der Hoffnung auf ein mögliches Glück beherrscht und das dritte Hauptstück ist von zwielichtiger Dämmerung, der Bedrohung durch Gesetz und Strafe, durchweht. Hinzukommt, daß der Roman einen geradezu genialen Titel hat, der nach der konkreten Bedeutung des Namens fragen läßt.
Im ersten Teil des Romans erzählt Knittel die Verbrechensgeschichte der Familie Lauretz. Jonas Lauretz, der Vater, ist Besitzer einer Sägemühle, die er von seinem Sohn und einem Tagelöhner bedienen läßt. Er ist ein Säufer und Weiberheld, der selbst nicht arbeitet, ständig Wirtshauskrawalle anzettelt und seine Familie grausamst traktiert. Seine Frau trägt die Male seiner Gewalttätigkeit im Gesicht, sein Sohn Niklaus hinkt, weil sein Vater die Axt nach ihm geschleudert hat. Seine Frau, Niklaus und seine Schwester Hannah leben am Rande einer unerträglichen Verzweiflung. Ein wenig besser geht es ihrer Schwester Silvia, die den berühmten Maler Matthias Lauters während dessen Urlaub betreut. Komplettiert wird die Familie von einem mißgebildeten Jungen, der nur kaum artikulierte Laute ausstoßen kann und mit einem Wasserkopf begabt ist.
Im zweiten Teil des Romans wird die Liebesgeschichte zwischen Silvia und Andreas von Richenau erzählt, der Untersuchungsrichter ist und aus einer wohlhabenden Familie stammt. Es ist eine unsentimentale, aber doch anrührende Liebesgeschichte. Ihre eigentümliche Spannung entsteht daraus, daß Andreas, ein Liebhaber unverfälschten ländlichen Lebens, mit einer echten Bourgeoisen verlobt ist, mit der er sich auseinandersetzen muß. Silvia wiederum ist durch ihre schlimme Familiengeschichte ihm gegenüber gehemmt.
Daß es Knittel gelungen ist, diese auch heute noch glaubwürdige Liebesgeschichte zu erfinden, muß man ihm hoch anrechnen, da gerade Liebesgeschichten das kürzeste Leben in den Annalen der Literatur haben. Es wäre durchaus der Mühe wert, Sinn und Qualität der hier vorgestellten Gemütsverfassung, trotz des selbstverständlich unbestreitbaren Niveauunterschied der Werke, mit der "Liebe von Swann" (Marcel Prousts) zu vergleichen. Knittel beschreibt ein unverfälschtes und unverächtliches Gefühl des menschlichen Daseins, ohne jede Ironie und ohne zynische Blasiertheit, weil er die Personen seiner Geschichte durchaus ernstnimmt.
Das dritte Hauptstück läuft auf eine kritische Entscheidung zu, ob Andreas und Silvia sich trennen oder wiederfinden, ob das Verbrechen der Familie ans Licht kommt und bestraft wird oder ob man Gnade vor Recht ergehen läßt.
Neben der spannenden Handlung ist es natürlich vor allem die Gebirgslandschaft, deren Schilderung den unwiderstehlichen Reiz dieses Romans ausmacht, der einmal ein Weltbeseller war, und John Knittel ist zweifellos ein Landschafter von Gnaden, der auch weiß, daß man dieses Darstelllungsmittel immer, wenn‘s nötig, aber nur sparsam anwenden darf. Die Einleitung des Romans beschreibt die Szene der Haupthandlung, das Tal der Yzolla, ein schmales Seitental des Vorderrheins, eine enge Gebirgsschlucht, durch die die künstlich befestigte Straße, Via Mala, neben dem reißenden Fluß entlangführt. In dieser feuchten, nebligen Schlucht liegt die Sägemühle und das Wohnhaus der Familie, zwei Stunden entfernt ist das Dorf Nauders mit wenigen Hütten, danach folgt das Städtchen Andross mit Hospiz und Bahnhof. Via Mala heißt auf deutsch: schlechter Weg. Als Titel des Romans bedeutet das Wort dann auch Weg des Bösen, das hier in übermenschlicher Dimension auftritt. — Dabei wäre zu beachten, daß die Via Mala des Romans nicht mit der geographischen Via Mala am Hinterrhein identisch ist und die Ortsnamen erfunden sind, natürlich aus verständlichen juristischen Gründen.
Was die Kunst der Personenbeschreibung angeht, so hat Knittel mit gewandter Feder einige Prachtexemplare anschaulich vorgestellt, so vor allem natürlich den überdimensionalen Bösewicht der Geschichte: „Lauretz war ein massiger Kerl, der viel mehr Gewicht am Leibe trug, als die Natur ihm eigentlich zugedacht hatte. Kopf und Nacken waren fast zu einer einzigen Masse verwachsen, das runde Kinn und die kantige Nase, die auffälligsten Partien seines Gesichts, leuchteten purpurrot. Der struppige, dichte Schnurrbart und das kurzgestutzte Haar auf seinem runden Kopf verliehen ihm einen Ausdruck zügelloser Rohheit, und seine blauen, hervorstehenden, trotz aller Lebhaftigkeit finsteren Augen verrieten deutlich die unersättliche Sinnlichkeit des Mannes. / Seine Körpergröße und seine Kraft gaben ihm das Gefühl despotischer Überlegenheit.“ Abgerundet wird dieses Porträt durch einen diabolischen Zug der Blasphemie, die Lauretz bei jeder festlichen Gelegenheit äußert.
Überschaut man die Galerie der Romanpersonen, so kann man Knittel nicht den Vorwurf ersparen, daß er die melodramatischen Aspekte ein wenig übertrieben hat. Er läßt mehr Menschen mit körperlichen Gebrechen auftreten, als wahrscheinlich ist.
Via Mala ist zweifellos ein echter Heimatroman, jedoch ohne den typischen Fehler dieses Genres, die idyllische Schönfärberei des ländlichen Lebens. Knittel beschreibt dagegen die unglaubliche Mühsal des Alltags in einem Tal, das acht Monate lang im Jahr von Schnee bedeckt ist.
Andreas hat zwar ein Faible für das bäuerliche Dasein, er wirkt bei der Geburt eines Kalbes tatkräftig mit, fühlt sich unter seinen Bauern recht wohl, seine auf "Schweizer Blut, Vaterland, den Boden" gerichtete Empfindungen sind zweifellos das Echo nationalsozialistischer Parolen, doch seine Zivilisationskritik lebt von der Ideologie Rousseaus, die keineswegs das Volk sans phrase verherrlicht: "Wir stehen im Schatten eines moralischen Bankrotts. Wir sind ein krankes Volk. Zuviel Gelehrsamkeit, zuviel Bildung, zuviel Theorie! Zuviel Kanzleimenschen, Bürokraten, Spezialisten, Sparkassen!" Er selbst beläßt es bei gelegentliche Ausflügen aufs Land, während er sonst ein fleißiger Rechtsbeamter ist, schnelle Autos liebt, die ja ohne technische Theorie undenkbar sind, d.h. seine Kulturkritik bestimmt nicht sein Leben. Die genannte Empfindung scheint nur eine gelegentliche Anwandlung gewesen zu sein. Außerdem darf man nicht vergessen, daß Knittel die „Idiotie des Landlebens“, von der Karl Marx spricht, nämlich das ärmlich mühselige Leben samt geistiger Enge, durchaus sachlich dargestellt hat.
Damit ist die Gesellschaftskritik in diesem Roman angedeutet, die kein Leser überhören kann. Knittel schildert vor allem auch die Berufsbedingungen der Kellnerin recht sachkundig, die Belästigungen durch Kunden und Wirte, die Bevormundung durch Geschäftsinhaber, der harte Dienst während vieler Stunden ohne Ruhe, die knappe Bezahlung.
Außerdem registriert Knittel die gesellschaftlich unruhige Stimmung während der Wirtschaftskrise anfangs der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, die Konflikte zwischen der besitzenden und der nun von Arbeitslosigkeit bedrohten Klasse. Er erwähnt auch das aufgewühlte geistige Klima der Zeit, die Debatten, die von Ideen Nietzsches und Spenglers phrasenhaft beherrscht werden.
Darauf bezieht sich wohl der Tadel eines Lexikons, die Nationalsozialisten hätten den Roman als „Verkörperung einer trivialisierten Übermenschen-Moral“ begrüßt – was durchaus eine Fehlinterpretation des Buches ist, da die Haupthandlung nichts von dieser Ideologie enthält, sie wird nur von einer Nebenfigur, Dr. Scherz genannt, vertreten. Der Name aber deutet doch klar genug an, daß dessen Meinung allein nicht den Sinn des Romans ausmacht. Wir haben es vielmehr mit einem vielstimmigen Roman zu tun, dessen Bedeutung sich sowohl aus mehreren Ansichten als auch aus dem Verhalten der Personen ergibt, das nicht immer ihrer Ansicht entspricht.
Als Pendant zu diesem ideologischen Ausfall schildert der Roman das Fest einer Glockenweihe, ein humorvolles Gemeinschaftserlebnis, das Schweizer Tradition und das vom Zeitgeist gepriesene kollektive Empfinden merkwürdig vereint. Bei diesem Fest wird der Gegensatz zwischen den Katholiken der Mehrheit und den Protestanten der Minderheit wenigstens für einen Tag überspielt. In dieser Hinsicht muß man jedoch gegen Knittel einwenden, daß er die katholische Einstellung doch wohl ein wenig zu primitiv dargestellt hat.
Erzählt wird die ganze spannende Geschichte von einem auktorialen, unaufdringlichen Erzähler, der die Aufmerksamkeit ohne jeden Bruch auf das beklemmende, oft kaum erträgliche schlimme Geschehen zu lenken versteht. So preiswürdig aber die Erzählkunst des Romans ist, so fragwürdig ist seine intellektuelle Seite. In der Tat ist es das entscheidende Manko, das diesen Roman von der höheren Literatur trennt, daß er die weltanschaulichen Konflikte zu oberflächlich, letztlich wohl undurchschaut und unbegriffen, darstellt.
Wie also soll man diesen Roman bewerten? Auf der Skala der literarischen Möglichkeiten wäre Via Mala wegen der Darstellung des abgrundtief Bösen und des daraus entspringenden Verbrechens zwischen den Brüdern Karamasow von Dostojewski und dem Mord im Orient-Expreß einzuordnen. Knittels Roman weist dasselbe kriminelle Muster auf wie der Roman Agatha Christies. Da beide Romane fast zur gleichen Zeit 1934 erschienen sind, haben beide Autoren zufällig den gleichen Einfall hinsichtlich der Verbrechensphantasie gehabt. Der oben zitierte Satz, daß Lauretz mehr Gewicht am Leibe trage, als die Natur ihm zugedacht habe, klingt wie ein Echo auf die Schilderung in Lord Jim von Joseph Conrad, ein dicker Kapitän habe eine größeren Leibesumfang, als einem Sterblichen zustehe. Nun, die Romankunst Conrads hat Knittel in Via Mala bestimmt nicht ganz erreicht, doch ist er Conrad doch wohl näher gekommen als Agatha Christie. Es ist übrigens bezeichnend, daß die Filme, die nach Christies Romanen gedreht wurden, erzähltechnisch oft besser ausgefallen sind als die Romane selbst.