Unbemerkt und unerkannt von den Leuten, die sich von Berufs wegen mit Literatur abgeben, Germanisten, Literaturhistoriker, Deutschlehrer, Literaturredakteure, Buchbesprecher, kommt es von Zeit zu Zeit vor, daß ein Produkt der kommerziellen, populären Dichtung, ein Schlager, ein Song, ein Chanson, eine Qualität erreicht, die es einem Werk der anerkannten, hohen Lyrik ebenbürtig macht. So geschehen mit dem Song von Andreas Gabalier „Amoi seg ma uns wieder“ (Einmal sehn wir uns wieder).
Das Lied ist nicht der erste Schlager, dem der Quantensprung in die höhere Klasse der Poesie gelang, und man kann seine Qualität erst dann richtig einschätzen, wenn man es mit den Texten desselben Schicksals vergleicht. Es ist eine unverächtliche Reihe, die manches Gedicht der sogenannten hohen Literatur in den Schatten stellt und als lebloses akademisches Kunstprodukt erscheinen läßt – „Kunst“ ist hier im Sinne von „Kunsthonig“ zu verstehen. Zum Vergleich will ich drei Beispiele aus der Unterhaltungsbranche anführen, die den Rang eines echten Gedichts erlangt haben.
Was hier ästhetisch oder künstlerisch gelungen ist, läßt sich mit einem Vorgang des Unterhaltungsromans vergleichen, genauer mit dem realistischen Kriminal- oder Detektivroman, der als eine Gattung der kommerziellen Unterhaltung auf trivialstem Niveau verachtet wurde. Dann aber kamen Dashiell Hammett, Georges Simenon und Raymond Chandler und machten aus dem verachteten Genre eine hochstehende Kunstform; freilich konnten diese Autoren auf literarisch bedeutende Vorgänger wie Conan Doyle und Chesterton verweisen.
Vielleicht ist der Vergleich mit dem Film noch passender, wo es einigen Regisseuren gelungen ist, in einer total vom Kommerz, vom finanziellen Erfolg abhängigen Sparte, einige Filme herzustellen, die zugleich beste Unterhaltung und unbestreitbar Kunst sind wie nur ein Drama oder ein Roman der zeitgenössischen Dichter. Es gibt Western und Actionfilme, deren epische oder tragische Qualität nur ein Blinder übersehen kann. So kennen wir auch einige populäre Lieder aus dem anrüchigen Show-Geschäft, deren lyrische Qualität nur ein Unkundiger leugnen kann.
♦ An erster Stelle wäre „Lili Marleen (Lied eines jungen Wachtpostens)“ zu nennen:
Vor der Kaserne vor dem großen Tor
stand eine Laterne,
und steht sie noch davor,
so woll'n wir uns da wiederseh'n,
bei der Laterne woll'n wir steh'n
wie einst, Lili Marleen,
wie einst, Lili Marleen.
Der Autor, Hans Leip, bezeichnete den Schlager als „ein einfaches Liebeslied vom traurigen Abschied des Frontsoldaten“. Seine Wirkung aber bestand darin, daß es mitten im Krieg mit seinen Todesgefahren den stärksten Gegensatz zu dieser Sphäre des Tötens und Getötetwerdens zum Ausdruck bringt. Es ist alles andere als ein Heldenlob und frei von jedem nationalistischen Geist, das Schicksal des einfachen Soldaten beschreibend, seine schlichte Grunderfahrung ausdrückend, konnte es auch jenseits der Grenzen Anklang und Zustimmung finden. Das Lied ist einzigartig darin, daß es auch von den Soldaten der feindlichen Heere gesungen wurde. Das Rendezvous eines Soldaten mit seiner Freundin wird zum Sinnbild des Antikriegs, dann auch als Widerspruch zum NS-Regime aufgefaßt und schließlich von Goebbels verboten.
Wer über die Schlichtheit des Textes seine akademische Nase rümpft, sollte sich mal darüber Gedanken machen, warum während des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht mehr als eine Handvoll nennenswerte Gedichte über diese schreckliche Zeit entstanden ist und warum ein einfaches Lied als Einspruch gegen die herrschende Ideologie verstanden werden konnte.
Ludwig Reiners hat das Lied in seine große Anthologie Der ewige Brunnen (1959,474) aufgenommen und der englische Romancier Gavin Lyall hat es noch in dem Politthriller Über dem Jordan (1988,6) zitiert.
♦ Das zweite Beispiel ist ein Antikriegslied, das als solches ausdrücklich gemeint und formuliert ist: „Sag mir, wo die Blumen sind“, von Marlene Dietrich gesungen; das amerikanische Original stammt von Pete Seeger, die deutsche Fassung von Max Colpet.
Sag mir wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen,
wann wird man je verstehen?
[…]
Sag mir wo die Männer sind
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Männer sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Männer sind,
zogen fort, der Krieg beginnt,
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Man hat gegen das Chanson eingewandt, daß es als ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, als ein Lied, das in Bars und Tanzlokalen gesungen wird, kein ernstzunehmendes Antikriegslied sein könne. Auch hat man dem Text vorgeworfen, daß darin der Krieg zu einer natürlichen Sache gemacht werde.
Dazu wäre zu sagen, daß darin die Metapher falsch verstanden wird. Ein Autor, der Naturmetaphern für politisch-historische Vorgänge benutzt, hier vergängliche Blumen für im Krieg gefallene Soldaten, faßt die geschichtlichen Ereignisse keineswegs als Naturvorgänge auf. Sie bringen hier die Trauer über die menschliche Vergänglichkeit zum Ausdruck, die hier aber nicht natürlich, sondern erzwungen ist.
Der andere Vorwurf lautete: „Es gibt keine pazifistische Barmusik“. Dieses Lied, das seine Popularität gewiß nicht nur dem Text und der Melodie verdankt, sondern vor allem der Stimme Marlene Dietrichs, dementiert aber diesen Einwand. Es liegt nämlich der seltene Fall vor, daß ein Text der Gebrauchsliteratur eine Qualität erreicht, der ihn über die gängigen Schlager weit erhebt, ohne jedoch seine Funktion als Schlager zu verneinen. So widerlegt er das ideologiekritische Verbot, pazifistische Themen in Vergnügungslokalen im Lied vorzutragen. Im übrigen kann an der lyrischen Qualität des Textes kein Zweifel bestehen, er gehört zur Gattung der Klagelieder, eine klassische Form der Poesie, die ihre Wirkung selten verfehlt. Unnötig anzufügen, daß das Chanson durchaus gleichwertig der anerkannten Nachkriegsdichtung ist.(cf. , Rückschritte der Poesie, S.108f.).
Mit der offenen Frage des Refrains hat das Chanson auch jenes suggestive Quentchen dunklen Sinns, das für die Poesie eigentümlich ist.
♦ Das nächste Beispiel eines populären Chansons erster Güte ist in vieler Hinsicht ein Sonderfall. Es beginnt mit einer Serie von radikalen Verneinungen, um am Ende einen Neuanfang zu verkünden. Gemeint ist „Non, rien de rien, je ne regrette rien“, gesungen von Edith Piaf. Der Text stammt von Charles Dumont, die Melodie von Michel Vaucaire.
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal
Tout ça m'est bien égal
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
C'est payé, balayé, oublié
Je me fous du passé
Nein, gar nichts
Nein, ich bedauere nichts
Nicht das Gute, das man wir angetan hat
Noch das Böse
Das alles ist mir ganz egal
Nein, gar nichts
Nein, ich bedaure nichts
Das ist bezahlt, weggekehrt, vergessen
Ich pfeife auf das Vergangene.
Und die alles erklärende Schlußstrophe sagt dann, daß sie nichts bedauert, weil ihr Leben, ihre Freuden heute mit ihm anfange:
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
Car ma vie
Car mes joies
Aujourd'hui
Ça commence avec toi
Mit triumphierenden, schmetternd artikulierten Verneinungen, einer Litanei von „Nichts“ und „Nicht“, macht die Sängerin reinen Tisch mit ihrer Vergangenheit, alle Freude und allen Ärger wegwischend, um wieder bei Null anzufangen. Trotz der guten Aussicht am Ende des Liedes, entsteht doch durch die Rhetorik des Nichts der Eindruck, der sich bis in die vorletzte Strophe durchhält, daß das Chanson eine Verherrlichung des Nichts, gleichsam eine nihilistische Hymne sei, das Bekenntnis einer Geisteshaltung, der wirklich alles egal ist.
Das Chanson, 1960 bekannt geworden, erinnert tatsächlich an den nihilistischen Existentialismus des Nachkriegs in seiner populären Variante, wonach alle menschliche Tätigkeit gleichviel wert sei, eine Mentalität, die nach Sartres Worten besagt, daß es auf das gleiche hinauslaufe, „ob man sich im Stillen betrinkt oder ob man die Geschicke der Völker lenkt.“ (Sartre, Das Sein und das Nichts 1980, 784)
Der Literaturwissenschaftler George Steiner hat bekannt, daß dieses Chanson ihn zutiefst beeindruckt habe: „Die Anfangsakkorde … verlocken jeden Nerv in mir, gehen mit einem kalten Brennen bis auf die Knochen und verleiten mich zu Gott weiß welcher Unvernunft, jedesmal wenn ich das Lied höre.“ (Steiner, Von realer Gegenwart 1990, 242). Steiner schreibt diese Wirkung einzig und allein der durch die Stimme Piafs vermittelten Melodie zu, ganz unabhängig vom Text, den er schlicht verachtet. Er dürfte sich aber gründlich täuschen, da es kaum möglich ist, das Chanson anzuhören und dabei den Text zu ignorieren, vielmehr bilden die suggestiven Worte und die Musik eine unlösbare Einheit und fraglos teilt der Sinn des Textes sich der Melodie mit.
♦ Es ist, wie gesagt, riskant, in der Unterhaltungsbranche ein Lied über ein ernstes Thema zu schreiben, zum Beispiel ein Chanson mit einem pazifistischen Text, der dazu noch poetisch anspruchsvoll geformt ist. Nun aber hat Andreas Gabalier es gewagt, ein Lied über ein Thema vorzutragen, das ernster nicht sein könnte. Denn was könnte ernster sein als ein Text über das Leben nach dem Tod? Ein sehr eingängiges Lied, das trotz seines Themas keineswegs fehl am Platz der Unterhaltungsszene zu sein scheint. Dafür gibt es einige Gründe. Es ist ein zurückhaltendes Lied mit einer gedämpften, ruhigen, getragenen Melodie und einem diskreten, persönlich gefärbten Text in einem volkstümlichen Stil ohne religiöse Formeln und abstrakte Wendungen.
Vor allem aber ist für den Song bezeichnend, daß er in steirischem Dialekt geschrieben ist, und die Dialektform läßt den Text in einem hochsprachlichen Milieu verfremdet erscheinen. Dieses Moment der Verfremdung, des Ungewöhnlichen, verleiht dem Lied seinen besonderen Charakter und wir sind bereit, uns diese Worte anzuhören, die alles andere als heiter und unbeschwert sind. Doch sprechen sie eine starke Zuversicht aus, die Überzeugung des Sängers, daß er seine gestorbenen Verwandten einmal wiedersehen werde.
Uns oin is die Zeit zu gehen bestimmt
Wie a Blattl trogn vom Wind
Geht's zum Ursprung zruck als Kind
Wenn des Bluat in deine Adern gfriert
[...]
Amoi seg ma uns wieder
Amoi schau i a von obm zua
Auf meine oitn Tag leg i mi dankend nieder
Und moch für olle Zeitn meine Augen zua
— — —
Uns allen ist die Zeit zu gehen bestimmt
Wie ein Blatt getragen vom Wind
Geht’s zum Ursprung zurück als Kind
Wenn das Blut in deinen Adern gefriert
[...]
Einmal sehen wir uns wieder
Einmal schau ich auch von oben zu
Auf meinen alten Tagen leg ich mich dankend nieder
Und mach für alle Zeiten meine Augen zu.
Zum Sinn des Liedes, der sich ohne weitere Erklärung leicht versteht, wäre noch zu sagen, daß darin die traditionelle christliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele vorausgesetzt wird, während es heute modische Theologen gibt, die davon nicht mehr sprechen mögen – ein Umstand, den man nur ironisch nennen kann. Man findet heute Glaubenswahrheiten nicht mehr bei den Dozenten dieser Sparte, sondern gelegentlich oder ausnahmsweise mal sozusagen auf der Straße, im Show-Geschäft. Gabalier verwendet ohne irgendwelche intellektuelle Skrupeln volkstümliche Glaubensvorstellungen, um auszudrücken, wie er sich die Sache mit dem Leben im Jenseits denkt.
Dazu kann man mit Karl Rahner sagen: Die Überzeugung des Menschen, daß er am Ende nicht ins Nichts verschwindet, werde gewöhnlich als Lehre von der „Unsterblichkeit der Seele“ aufgefaßt — es ist das, „was wir als ‚Auferstehung der Toten‘ in der Sprache der Christen meinen“. Er betont auch, daß es prinzipiell unmöglich sei, sich eine nicht zeitlich weiterlaufende Existenz des Menschen vorzustellen oder genauer auszumalen. Er gesteht aber zu, daß man dennoch in Bildern und Gleichnissen über dieses nichtzeitliche Leben sprechen könne, wenn man sich nur bewußt sei, daß man nicht wörtlich, sondern nur bildlich rede (Karl Rahner im Gespräch 1982, Bd.1,229 u. 178). Damit ist Gabaliers Song sozusagen auch im Sinne seriöser Theologen gerechtfertigt.