Josef Quack

Zu Benns Gedicht "Einsamer nie als im August"




Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde; im Gelände
Die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, die Himmel weich,
Die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegbeweise
aus dem von Dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge -,
dienst Du dem Gegen-Glück, dem Geist.

Gottfried Benn

Zu diesem Gedicht schrieb Heinz Friedrich, Gründer und langjähriger Leiter des Deutschen Taschenbuch Verlages, ein überzeugter Benn-Verehrer: „Auch er beschwor das Nichts, auch er verachtete den Menschen, ‚das Schwein ...‘. Aber er versuchte zugleich, dem ‚gezeichneten Ich‘ seine Menschenwürde zu erhalten, indem er dem Nichts das ‚Gegenglück‘ des Geistes als humanitäre Waffe entgegenhielt.“ (H. Friedrich, Erlernter Beruf: Keiner. München 2006, 300.)

Diese offensichtlich verharmlosende Deutung des Gedichts ist durchaus typisch und bezeichnend für die Art, wie man in der Nachkriegszeit die Dichtung Benns rezipierte. Man feierte und bewunderte sie als große artistische Poesie, spielte aber das nihilistische Bekenntnis des Dichters gerne herunter, wenn man es nicht einfach ignorierte.

Der Nihilismus aber ist die Verneinung aller menschlichen Werte, die Verneinung der sozialen, ethischen und religiösen Werte, eine Doktrin der existentiellen Sinnlosigkeit, und es ist evident, daß man nicht zugleich das Nichts beschwören und die Menschenwürde erhalten kann; denn Nihilismus und ethischer Humanismus lassen sich nun einmal nicht vereinbaren. So leicht kann man es sich mit Benns nihilistischen Auslassungen gewiß nicht machen.

Wie aber sollen wir das Gedicht richtig verstehen? Wir haben hier einen der seltenen Fälle bei Benn vor uns, wo es aufschlußreich ist, sich die Umstände der Entstehung des Gedichts anzuschauen. Das Gedicht ist im August 1936 entstanden, Benn schickte es am 4. September 1936 an seinen Brieffreund und intellektuellen Sparringspartner F.W. Oelze mit der Bemerkung: „Bedarf keiner besonderen Antwort!“.

1936 aber war ein Krisenjahr für Benn. Im April kam es zu einer ernsten Verstimmung zwischen ihm und Oelze, so daß er die Beziehung unterbrechen, wenn nicht sogar ganz aufgeben wollte. Doch kam es nicht zu dem Abbruch der Verbindung, hauptsächlich deshalb, weil anfangs Mai Benn im Schwarzen Korps, einer Zeitschrift der SS, wegen seiner angeblich pornographischen Dichtung scharf angegriffen wurde und der Völkische Beobachter die Kritik übernommen hatte. Benn fürchtete, daß dieser Angriff ihm „unter Umständen Uniform und Stellung kosten“ könnte. Das war zwar nicht die Folge der Affäre, doch mußte er auf jede weitere Publikation verzichten.

Im Juni erfuhr er dann, daß er und seine ganze Familie von einer "schrecklichen Erbkrankheit" belastet seien. Er versteht sie als ein Verdikt der Natur über sich als Lebewesen, als eine reine Degenerationskrankheit, meint aber, daß an dem Punkt der Degeneration der Geist beginne. Er faßt also den Geist als Widerpart der Natur, als eine Art schwächeren Ersatz für die Natur auf. Im August kam es zu neuen Angriffen nazistischer Stimmen gegen Benn; vor allem aber fanden in diesem Monat in Berlin die olympischen Spiele statt, "dieser Hellenenklamauk", ein Fest des Massenrausches, eine Apotheose des Gemeinschaftserlebnisses, während Benn längst davon abgekommen war, die Deutschen für ein "auserwähltes Volk" zu halten.

Dazu wäre noch eine briefliche Bemerkung anfangs September zu erwähnen, wo er erklärt, die Religion habe ihm persönlich zwar nichts gegeben, doch stehe sie den Reichen immer noch am nächsten, „zu denen es mich zog; und ihr Wort: ‚Das Reich ist nicht von dieser Welt‘ will ich ihr nicht vergessen“. Er deutet also das neutestamentliche Wort rein ästhetisch in dem Sinne, daß die Kunst eine Sphäre sei, die mit der gewöhnlichen Welt des gesellschaftlichen Lebens und des kulturellen Betriebs nichts zu tun habe.

Wenn man sich diese Umstände der Entstehung des Gedichts vor Augen hält, kann man kaum bestreiten, daß das Gedicht nicht nur, aber doch auch wesentlich eine Antwort auf diese historische Situation ist, in der der Dichter sich befand. Ich meine, daß man die Radikalität und Entschiedenheit, mit der der poetische Sprecher sich von Natur und dem Massenwesen der Menschenwelt distanziert, sich nur aus diesen biographischen und zeitgeschichtlichen Umständen erklären lassen.

Im einzelnen bedarf das Gedicht keiner näheren Erläuterung. Der August ist deshalb der Monat, in dem der Dichter sich seiner Einsamkeit am stärksten bewußt ist, weil es der Monat der Ernte, der Höhepunkt des natürlichen Lebens ist und der Dichter als Vertreter des Geistes auf der Gegenseite der Natur steht. Der Gegensatz der beiden Sphären zeigt sich niemals augenfälliger als in dieser Jahreszeit der Pracht der Natur. Daß das Ideal des Dichters nichts mit Massenrausch, feuchtfröhlicher Verbrüderung und nationalem Gemeinschaftserlebnis zu tun hat, versteht sich nahezu von selbst, zumal es sich um einen Dichter der Moderne handelt, der sozusagen an und für sich immer in Opposition zum großen Publikum, zum gemeinen Haufen der Unverständigen, stand. Hinzukommt natürlich die zeitgenössische Verdammung der modernen oder entarteten Kunst durch die Nazis. Nicht zu überhören ist die polemische Implikation des Textes, daß das Reich des Dichters nichts mit dem Dritten Reich zu tun hat. "Sieg und Siegesbeweise" verweisen offensichtlich auf die olympischen Spiele dieser Tage.

Die Pointe des Gedichts wird man nur erfassen, wenn man beachtet, daß im Text der Geist als Gegenprinzip zur biologischen Natur begriffen wird, nicht jedoch als eine Degenerationserscheinung, wie es Benns briefliche Meinung nahelegen könnte. Die Aussage der Verse lautet demnach, daß der Dichter, als Vertreter der geistigen, künstlerischen Sphäre, sich als exemplarischer Einzelner versteht, dessen Glück von völlig anderer Art ist als das Glück der kunstfernen Menge.

Daß dieses Gedicht formal nur ein Monolog sein kann, bedarf keiner besonderen Begründung.

Die seltene Güte des Gedichtes besteht nun darin, daß es sub rosa zu verstehen gibt, daß das geistige Leben des Menschen, das diesen Namen verdient, prinzipiell ein Leben des Einzelnen ist. Das soll heißen, daß es geistige Tätigkeiten gibt, die man nicht als Gemeinschaftswesen, sondern nur als Einzelner bewußt in eigenem Namen vollziehen kann, wie etwa sich entscheiden, unkonventionell denken und vor allem schöpferisch tätig sein. Es sind dies gerade die eigentlich menschlichen Tätigkeiten, und ihnen ist eine besondere Art der Befriedigung, der Freude und des Glücks eigen, das mit dem Massenglück nichts zu tun hat.

Für Benn hat die Einsamkeit keineswegs eine pejorative Bedeutung, im Gegenteil, ist sie doch die notwendige Bedinung für die dichterische Kreativität. Im dem Gedicht "Wer allein ist", das im Juli dieses Jahres entstanden ist, einer programmatischen Hymne an die Einsamkeit, erklärt er: "Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, / immer steht er in der Bilder Flut".

Schließlich kann man unschwer erkennen, daß die Aussage des Textes an wichtige Ideen des zeitgenössischen Existentialismus erinnert. So hatte etwa Heidegger beschrieben, daß die meisten Menschen gewöhnlich nicht als selbstbewußte Einzelne leben, sondern so, wie "man" lebt. Dies ist erklärtermaßen auch die Annahme des Gedichts, das ein Gedicht der happy few ist, das auf die historische Situation seiner Entstehung antwortet und zugleich die conditio humana beschreibt.

Wie steht es nun mit dem nihilistischen Problem? Nun, das Gedicht ist kein einfaches Statement des Nihilismus, seine Aussage ist jedoch mit einem nihilistischen Standpunkt verträglich. Sie ist Ausdruck einer ästhetischen Weltanschauung. Darin stimmt er mit Nietzsche überein, er ist seiner Philosophie zutiefst verpflichtet. Nietzsche aber schreibt in der Geburt der Tragödie, "daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist", und daß hinter allem Geschehen nur ein Künstler-Sinn stecke, kein moralischer (Nietzsche, Werke in drei Bänden. 1966, Bd.1,14). Schließlich, nur ein Intellektueller im Sinne des Gedichts, der eigenständig urteilen kann, ist überhaupt fähig, sich für oder gegen eine nihilistische Weltanschauung zu entscheiden.

J.Q. — 19. Aug. 2019 / 10. Aug. 2024

© J.Quack


Zum Anfang