Der Roman mit dem an die Bergpredigt erinnernden Titel Ceux de la soif (1935; Paris 1938), Die Durst haben …, ist einer der seltenen Romane Simenons, die eine wahre Begebenheit erzählen, die Abenteuer der Baronin de Wagner, die sich 1934 auf einer Galapagos-Insel niedergelassen hatte und wenig später unter rätselhaften Umständen verschwunden ist. Eine Affäre, die bis in die jüngste Zeit erforscht wurde und zu diversen Mutmaßungen über das Ende dieses Abenteuers geführt hat.
Simenon hatte die Inseln 1935 auf seiner Weltreise besucht und über die Affäre in einer Pariser Zeitung geschrieben: „Auf dem Archipel haben einige Menschen zu leben versucht, aber sie sind auf Feinde getroffen: die unbezwingliche Einsamkeit und die unnachgiebige tropische Natur … Die berühmte Baronin erreicht Floreana und baut ein ‚Hotel des wiedergefundenen Paradieses‘ … Das irdische Paradies von Floreana wurde durch fremde Konflikte zerstört, wobei die Liebe sich mit dem Burlesken verband. … Eines Nachts verschwanden die Baronin de Wagner und Philippson, ihr junger Begleiter“ (Pierre Assouline, Simenon. Paris 1992, 292).
Im selben Jahr schrieb Simenon auf Tahiti den vorliegenden Roman, dazu erklärend, daß es sich um „das kaum in Romanform umgewandelte Abenteuer der Baronin de Wagner und des Dr. Ritter“ handle (l.c. 364f.). Auch schlug er vor, in einer Notiz auf die aktuelle Affäre hinzuweisen. Dem widersprach aber aus guten Gründen sein Verleger, der den Roman erst drei Jahre später herausbrachte.
Abgesehen von den hier erwähnten Personen der Reportage und den angegebenen Umständen ihres Abenteuers hat die Romanerzählung mit der wahren Begebenheit aber nichts gemeinsam. Simenon hat die Namen und Biographien der Personen geändert und ihnen auch größtenteils einen anderen Charakter zugeschrieben, zudem Ereignisse und Gegensätze erfunden, die in der Wirklichkeit nicht vorkamen. Der Roman hat einen eigenen Sinn, den man verstehen kann, ohne daß man die wirkliche Affäre kennen müßte. Freilich hat Simenon vergessen, alle Spuren seiner Reportage im Romantext zu tilgen. An einer Stelle wird statt der Romanperson Rita „Dora“ erwähnt, der Name des realen Vorbildes Dore Strauch (S.142).
Im Roman wird die winzige Galapagos-Insel Floreana seit fünf Jahren von folgenden Personen bewohnt: Frantz Müller, ca. 50 Jahre alt, ehemals Professor der Medizin in Berlin; Rita Ehrlich, ca. 30 Jahre alt, seine ehemalige Assistentin; Herrmann, Präparator aus Bonn, seine Frau Marie und Jef, ihr halbwüchsiger Sohn, lungenkrank, Epileptiker, geistig behindert, den die Ärzte in Deutschland aufgegeben haben. Seinetwegen sind Herrmann und Marie auf die tropische Insel gezogen, dessen Klima dem Jungen tatsächlich gutzutun scheint. Auch heißt es in einer klugen Bemerkung, daß der Junge sich begeistert handwerklichen Tätigkeiten hingibt.
Müller ist auf die Insel gekommen, weil er „seinem Traum von Einsamkeit und philosophischer Reinheit“ folgte (S.171). Er beginnt, sein Hauptwerk zu schreiben, „jenes, in dem er versuchte, die Kette zwischen den verschiedenen Welten zu rekonstruieren: die physische, die psychologische, die seelische und die religiöse“ (S.49). Es dürfte die empfindlichste Leerstelle des Romans sein, daß der Autor das ehrgeizige philosophische Werk Müllers nicht näher beschreibt; so bleibt unklar, wie „psychologisch“ und „psychisch“ gleichermaßen Attribute von Welten sein können. „Physisch“, natürlich, „psychisch“, seelisch, und „religiös“ kann man als eigene Sphären oder Welten des Menschenlebens oder der „Condition humaine“ auffassen (S.103), während die Psychologie als die Wissenschaft von der Psyche von anderer Art ist und schlecht in diese Einteilung der Welten paßt. Doch ist es möglich, daß mit dem Gegensatz von „psychologisch“ und „psychisch“ zwischen Geist und Seele unterschieden werden soll.
Im übrigen hat der Erzähler aus guten Gründen verzichtet, Müller aus der Innenperspektive zu beschreiben. Was er denkt und erlebt, gibt er in seinem distanzierten, überlegenen Verhalten und in seinen sparsamen Aussprüchen zu erkennen, zudem in einigen Aufzeichnungen zu aktuellen Vorkommnissen, Notizen, die er offen auf dem Tisch des Häuschens liegen läßt, das er mit Rita bewohnt. Sie ist dem Professor in die Tropen gefolgt, sie geht hier unbekleidet, „weil sie auf die Galapagos-Inseln gekommen sind, um sich dem Zustand der Natur anzunähern“. Weiter heißt es dazu, daß sie in Berlin „eine leidenschaftliche Studentin philosophischer Ideen“ war (S.11).
Sie wird als die typische Verehrerin eines Gelehrten vorgestellt, Müller war für sie „ein Halbgott“ (S.105). Sie leben zusammen, ohne eine intime Beziehung zu unterhalten, sie schlafen in einem Bett, das durch ein Brett geteilt ist. Herrmann, der ehemalige Präparator, aber ist der Typ des Untertans, der den unüberwindlichen Abstand gewöhnlicher Menschen gegenüber den Gelehrten kennt und immer einhält (S.120). Er und seine Frau übernehmen später denn auch dienstfertig Arbeiten, die ihnen die Gräfin zumutet. Da es auf der Insel keine amtliche Hierarchie gibt, wird der Professor als die Hauptperson angesehen und respektiert.
An der Charakterisierung der Personen sieht man, warum Simenon für sie Deutsche gewählt hat. Die Hochachtung der Gelehrten, das gesellschaftliche Ansehen des Professors, die Dienstfreudigkeit oder Knechtseligkeit sind Eigenschaften oder Klischees, die man gewöhnlich den Deutschen mit mehr oder weniger Berechtigung zuschreibt. Schließlich spielt die Romanhandlung während der Jahre, in denen Deutschland von einer Diktatur beherrscht wird. Ein Gesichtspunkt, den Simenon keineswegs betont, auf den seine Erzählung aber doch unübersehbar anspielt.
Es braucht nicht eigens gesagt zu werden, daß Simenon auch hier durch die Schilderung der Atmosphäre brilliert, die Atmosphäre in zweifacher Gestalt verstanden, als natürliche und gesellschaftliche. Hier aber fällt auf, daß, noch bevor die Gräfin die Insel betritt und für Konflikte und Unruhe sorgt, von einem traurigen Frieden der Insel die Rede ist. „Traurigkeit" und „traurig“ bezeichnen ein Leitmotiv, das den Roman ohne weiteres in die Reihe von Simenons traurigen Geschichten einordnet. Es heißt anfangs über die schüttere Busch-Landschaft mit Zitronenbäumen neben schwarzen Felsen: „Dies alles war sanft und düster. Es herrschte auf der Insel ein trauriger Frieden, aber niemals haben weder Müller, noch Rita, noch die Herrmanns darauf eine Anspielung gemacht“ (S.15). Nach einem heftigen Gewitter wird bemerkt: „Es war noch Feuchtigkeit in der Luft und der Himmel blieb grau, von einer traurigen Helligkeit, wie eine verschleierte Lampe.“ (S.75)
Aber nicht nur die Natur zeigt ein trauriges Aussehen, Rita nimmt im Laufe der Ereignisse auch bei dem beherrschten, selbstsicheren Müller eine „wahre Traurigkeit“ in den Augen wahr (S.97; 103). Er scheint seinen Charakter verändert zu haben und statt sein philosopisches Werk zu beenden, zimmert er lieber Kästchen oder repariert Stühle. Schließlich hat dann die Gräfin den „Frieden seiner Insel“ gestohlen (S.107).
Jenes Leitmotiv erinnert natürlich an die Traurigen Tropen (1955), den berühmten Forschungsbericht des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, eine wissenschaftliche Klage über die Schäden, die die Segnungen der modernen Zivilisation der Tropenwelt zufügen (cf. , Leidenschaft im Werk Simenons. S.37). Bei Simenon bezeichnet "Traurigkeit" die harte Realität der exotischen Insel, die Ernüchterung gegenüber der romantischen Sicht des südlichen Paradieses.
Die Geschichte der Gräfin von Kleber, die eines Septembertages mit dem Dampfer, der zweimal im Jahr die Insel ansteuert, eintrifft, hat Simenon dann zur reinsten Satire zugespitzt. Sie läßt ein Fertighaus aus Holz errichten, genannt „Hotel der Rückkehr zur Natur“. Es ist für Gäste gedacht, die „vom modernen Leben ermüdet“ sind (S.20; 42). Die zwielichtige Gräfin, zum internationalen Jet-Set gehörend, erwartet den Besuch reicher Yachtbesitzer. Ihre Herkunft ist undurchsichtig, ähnlich wie ihre Begleiter, Nic Arenson, ehemaliger Verkäufer, ihr derzeitiger Favorit, und dem lungenkranken Kraus, 20 Jahre alt, der, von dem müßigen Paar ausgenutzt, die meiste Arbeit erledigen muß. Entgegen dem Motto, zur Natur zurückzukehren, führt das Paar, Zigaretten rauchend, ständig Whisky trinkend, nächtelang Grammophon spielend, hauptsächlich von Konserven lebend, ein mondänes Leben, das allmählich verwahrlosende Züge annimmt. Zudem hat die exaltierte, hysterische, freizügige Gräfin eine „Atmosphäre des Erotismus“ geschaffen (S.100).
Der Konflikt zwischen den Besuchern und dem Professor erreicht in zwei Ereignissen brisante Höhepunkte. Nic veranlaßt, daß der zahme Esel Müllers erschossen wird, und er und die Gräfin stehlen während der Trockenzeit das Wasser des spärlich fließenden Bächleins (S.167). Da sie für diese Zeit, auf die der Romantitel anspielt, nicht vorgesorgt haben und vergebens auf den Besuch einer Yacht warten, kommen sie in ärgste Bedrängnis. Eines Tages bemerkt Kraus, der sich von dem Paar getrennt hatte, daß sie verschwunden sind.
Müller schließt nicht ganz aus, daß Kraus sie ermordet und die Leichen in das von Haien wimmelnde Meer geworfen haben könnte. Er erwägt aber auch die Möglichkeit eines Selbstmordes, der zu ihrem Image passen würde: „Ich frage mich manchmal, ob die Gräfin und Nic wirklich genug Adel hatten, um sich in das letzte Abenteuer zu stürzen. Das war dennoch die einzige Art, ihr Ansehen zu retten und in der Öffentlichkeit ein wenig Bewunderung zu wecken.“ (S.197) Dem folgt die stoische Bemerkung, daß die „verzauberten Inseln nicht ein Ort für die Besiedlung seien, noch für ein Unternehmen, was es auch sei. Die Natur verteidigt sich selbst gegen den Stolz des Menschen.“ (S. 198)
Zur Fauna der Insel wäre noch zu erwähnen, daß neben den einheimischen Tieren, den Leguanen und Riesenschildkröten, auch noch verwilderte Rinder, Esel und Schweine genannt werden, Abkömmlinge von Haustieren früherer Versuche der Besiedlung. Diese Tiere suchen während der Trockenzeit die Hütten der Menschen auf, die sie jedoch nicht vor dem Verdursten retten können. Heute scheinen diese Tiere ausgestorben zu sein; sie werden in den neuesten Beschreibungen der Galapagos-Inseln nicht mehr erwähnt.
Der Aspekt der feindlichen Natur, hier durch die lange Trockenzeit angedeutet, zeigt sich in den großartigen Schilderungen der Atmosphäre, die zugleich eine kosmische Dimension enthalten: „Außer daß die Bäume in der Dämmerung aufloderten, nahmen die Dinge hier unmenschliche Gestalten an, erstarrt, scharf umrissen, zugespitzt durch einen Tag, der von anderswo als unserer Sonne kam, wie wenn die Erde plötzlich abgekühlt wäre, wie wenn sie ihrer gewöhnlichen Bahn entkommend, in einen neuen Kreis der Planeten eingedrungen sei“ (S.157). Von Müller heißt es, er trotze dem „Universum“, und die Enttäuschung, die Verzweiflung der Menschen wird auf einen „gigantischen Kampf“ der Sterne zurückgeführt (S.158f.).
Die Geschichte der Abenteurer endet in einem vollkommenen Desaster. Kraus, der mit dem norwegischen Fischer Jean Larsen Floreana verließ, erleidet mit diesem Schiffbruch. Müller stirbt nach einem Schlaganfall, Rita kehrt in ihre Heimat zurück. Es sind wirklich die „Gescheiterten des Abenteuers“ (les ratés de l’aventure), wie Simenon einen ähnlichen exotischen Roman einmal nennen wollte (cf. , Leidenschaft im Werk Simenons. S.59).