Die Zeit verlangte ein Bildnis ihrer hektischen Grimasse.
Im Sommer fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die derzeit real existierende Menschheit in unseren Breiten keinen erfreulichen Anblick bietet. Im Gegenteil, sie bietet einen ausgesprochen häßlichen Anblick. Die Zeichen für Geschmacksverirrung, den Verlust des Sinnes für Schönheit, Harmonie, Eleganz, gelungene Form sind zahlreich und unübersehbar; ebenso die Zeichen für das offene Bekenntnis zur Häßlichkeit.
Ästhetisch betrachtet, leben wir in barbarischen Zeiten; denn man wird wohl annehmen dürfen, daß die Kleidermode ein Ausdruck des Zeitgeistes ist, ein Ausdruck der massenhaft verbreiteten Mentalität und Lebenseinstellung. Es ist aber klar, daß barbarische Zeiten den Künsten nicht günstig sind. Und so läßt sich auch kaum bestreiten, daß es einen Literaturbetrieb mit Buchbeilagen und Preisverleihungen gibt, aber keine Literatur, einen Kunstbetrieb mit allerlei Veranstaltungen, aber keine Künstler von Rang und Namen. Selbst die Unterhaltungsbranche scheint von Sterilität getroffen zu sein, hat sie doch seit Jahren keinen sehenswerten Film mehr hervorgebracht.
Vor zweihundert Jahren hat Heinrich Heine etwas voreilig "das Ende der Kunstperiode" verkündet. Wir können heute nicht mehr bestreiten, daß wir in diese Periode eingetreten sind. — In der von Wissenschaft und Technik beherrschten Kultur spielen die Künste nur noch eine marginale Rolle.
Walter Benjamin hat richtig beobachtet, daß bei einem Rundumblick auf die menschlichen Erscheinungen im Sommer die Schwergewichtigen, die mit ihrer eigenen Last Überladenen, zuerst auffallen. Diese Zeitgenossen, die, wie Joseph Conrad in Lord Jim sagt, "einen größeren Leibesumfang haben, als einem Sterblichen zusteht", kommen aber meist nicht auf den Gedanken, ihre Fülle durch eine weite Hülle sachgerecht zu bedecken. Ist es doch die erste Funktion der Kleidung, das natürliche Erscheinungsbild des Menschen zu korrigieren. — Hier wäre der Hinweis auf einen berühmten Heiligen nicht fehl am Platz, der nicht nur ein Geistesriese war, sondern auch ein stattlicher Mann von einigem Umfang, den er allerdings mit der Mönchskutte bequem verdecken konnte: Thomas von Aquin.
Viele Frauen haben niemals begriffen, daß das kleidsamste Kleid der Frau das Kleid, der Rock ist, und daß verhüllen meist ansehnlicher ist als enthüllen. Freilich ist nicht jede Verhüllung von Vorteil. Pluderhosen sind so ziemlich das Gegenteil von Eleganz. Überhaupt scheint Eleganz in der Kleidung ein vergessener, wenn nicht verachteter Gesichtspunkt von gestern zu sein. So sind wir denn glücklich an dem Punkt angelangt, wo „das schöne Geschlecht“, nehmt alles nur in allem, ein veraltetes Klischee geworden ist, von dem die ursprünglich damit gemeinten Figuren nichts mehr wissen wollen.
Auch auf guten Geschmack legen sie keinen Wert mehr. Schlanke große Frauen wirken in kurzen Röckchen wie die sprichwörtliche Bohnenstange, und große Amazonen mit überdimensialen Stempeln gleichen im kurzen Röckchen einem Zerrbild der Weiblichkeit, ein sichtbarer Irrtum der Natur. Schulterfreie Oberteile geben meist Fett-Polster dem Blick frei, die zu sehen ihm meist peinlich ist. Den Gipfel der Geschmacklosigkeit aber hat die Mode der unverhüllten Strumpfhosen erreicht, eine modische Verirrung von Frauen, die nicht die geringste Selbstachtung zu haben scheinen. Dem gegenüber wirken die bodenlangen Gewänder der Musliminnen wie die Mode einer verfeinerten Kultur.
Die derzeitige Mode des Herrenanzugs ist die Kopie eines zu knappen Konfirmationsanzugs, der die Fettleibigkeit des heutigen Durchschnittsmannes betont, statt sie zu kaschieren. Davon abgesehen, scheint die Hose mit Bügelfalte schlechthin verpönt zu sein. An ihre Stelle sind Flatterhosen und kurze, wadenlange Hosen getreten, die männliche Beine enthüllen, die selten ästhetischen Maßstäben genügen. Dagegen scheinen Blue jeans, ursprünglich amerikanische Arbeitshosen, inzwischen fast den Rang der guten Kleidung erreicht zu haben. Gegenüber dem formlosen übrigen Angebot wirken sie fast vornehm.
Die Freizeitmode beherrscht alle Lebenslagen. Sie ist aber nur einer Menschengruppe zum Vorteil ausgeschlagen, den Kindern, deren natürliche Anmut sie schönstens zur Geltung bringt. Sie werden nicht mehr wie ehedem als kleine Erwachsene ausstaffiert, sondern als junge Menschen eigenen Rechts behandelt und bekleidet. Die Kindheit wird als besondere Lebensphase anerkannt, eine Phase, die sich durch höchste Kreativität auszeichnet, getreu der bekannten Einsicht: „Wir werden als Originale geboren und sterben als Kopien“.
Was die Frisur angeht, so scheint hier absolute Freiheit der Wahl zu herrschen - man sieht viele scharf geschorene Glatzen, die aber nicht zu jeder Schädelform passen, da nicht jeder Mann ein Ringertypus ist oder einen klassischen römischen Kopf vorzuweisen hat. Gelegentlich sieht man das blau oder knallrot gefärbte Haar einer Punkfrau, die derart ihren gesellschaftlichen Nonkonformismus zur Schau stellt, eine Gesinnung, die außer der schlichten Abweichung vom gesellschaftlichen Konsens sonst nichts zu sagen hat. Humoristisch mag man den Aspekt nennen, daß manche Buben sich einen Irokesen-Schnitt verpassen lassen und so an die Indianer erinnern, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter dem Druck der Politischen Korrektheit nicht mehr genannt werden dürfen.
Die beste Überleitung zu der Fußbekleidung bildet ein schöner Satz von William Beckford. In seinem phantastischen Roman Vathek (1783) ist die Rede von Pantoffeln, „die den Füßen beim Gehen helfen“, eine ideale Aufgabe, die unsere Schuhe aber nur selten erfüllen können. Gewöhnlich dienen sie dazu, in der Form auszugleichen, was der Natur nicht gelungen ist. Daß die unnatürlich hohen Stöckelschuhe seltener getragen werden, scheint kein kultureller Verlust zu sein; die Gesinnung, sie zu tragen, dürfte wenig sympathisch sein. Flaubert hat einmal den Zusammenhang aufgewiesen, der zwischen den Stiefeln oder Stiefeletten seiner Zeit und der Literatur bestand. Die bevorzugte Fußbekleidung ist heute der Turnschuh, er ist leicht, bequem und braucht fast keine Pflege. Man findet heute aber keine Literatur von einer Güte mit vergleichbaren Attributen.
In der unmittelbaren Jetztzeit besteht zwischen Werktags- und Sonntagskleidung kein Unterschied mehr. Ein Symptom, das zu weitergreifenden Gedanken Anlaß gibt. Es ist nämlich ein Zeichen, daß der Sinn für Festlichkeit weitgehend verloren gegangen ist. Das gilt selbst für die Kirchen, die in einer besseren Tradition einmal die Hüter echter Festlichkeit waren. Man kann heute beobachten, daß Männer in Hawaii-Hemden liturgische Dienste verrichten und Frauen mit schulterfreien Kleidern Lesungen vortragen.
Auch im Berufsleben scheint die Kleiderordnung gelockert zu sein. Handwerker tragen meist zur Arbeit passende bequeme Monteursanzüge mit Firmenlogo; Angestellte haben durchweg die Freiheit der Kleiderwahl; allein die Bankangestellten scheinen an der Sargträgermode der schwarzen Anzüge mit Krawatte festhalten zu müssen.
Um jenen Gedanken aber aufzugreifen und seine Bedeutung ein wenig zu präzisieren: Da der Sinn für wahre Feste abhanden gekommen ist, hat das gewöhnliche Menschenleben eine den Alltag übersteigende Dimension unwiederbringlich verloren. Das Leben der Jetztzeit ist unbestreitbar banaler und trivialer geworden. Man muß das nüchtern registrieren und einsehen, daß man alte, aufgegebene und verworfene Traditionen nicht willkürlich, sozusagen auf Kommando, wiederbeleben kann. Alle Versuche, diesem enormen geistigen Verlust oder Verlust an Geist mit immer stärkeren Reizen abzuhelfen, müssen wohl als gescheitert betrachtet werden.
Einer dieser Versuche ist übrigens die vielfältige Drogensucht, die ein existentielles Defizit anzeigt, das natürlich durch chemische Mittel nicht zu befriedigen ist. Ernst Jünger, ein Experte in diesen Dingen, hat darauf mehrfach hingewiesen. Man braucht nicht lange nachzuweisen, daß das unstillbare Trinken in dieselbe Rubrik gehört. Auch hier geht es um einen Mangel, der auf keine Weise behoben werden kann. Ein Literaturkundiger hat über Joseph Roth einmal treffend bemerkt: "Er trank zu allen Jahreszeiten aus Durst nach einem ewigen Sommer" (David Bronson, Joseph Roth. München 1981, 463). Roth aber hat seinerseits den Typus mit der "Legende vom heiligen Trinker" literarisch verewigt (cf. , Lesen um zu leben. S.40f.).
Ein Beweis für die vergebliche Mühe, den banalen Geist des Gewöhnlichen zu überwinden, hat nicht zuletzt auch die Lichter-Schau der Pariser Olympiade geliefert. Es war ein gigantisches Spektakel, eher eine Stadtreklame als eine Kunstvorführung, ein buntes, luminöses Spektakel visuellen Scheines, aber ein Schauspiel reinsten Kitsches, einer Kunst des bloßen Scheines, aber gewiß nicht, um mit Ernst Bloch zu reden, des Vorscheines einer größeren Hoffnung.