Hinweis für den Leser. Das Buch ist überaus spannend. Ich muß aber die Handlung nacherzählen, um die Geschichte sinnvoll besprechen zu können. Wer sich also die Spannung erhalten will, sollte den Roman vor diesem Artikel lesen.
Le haut mal (1933; Paris 1977) ist einer der frühesten seriösen Romane, die Simenon geschrieben hat. Le haut mal ist nach dem Petit Larousse das alte Wort für Epilepsie, auf deutsch also Fallsucht, nicht Unheil, wie die deutsche Ausgabe heißt. Der Roman präsentiert eine negative Heldin, die moralisch zu verurteilen ist, jedoch eine der imposantesten Frauengestalten ist, die Simenon je geschaffen hat. Dieses Paradox glaubhaft darzustellen konnte nur einem Romancier wie Simenon gelingen.
Im Buch der Sprüche (31,10f.) ist von der starken Frau die Rede, die sich tatkräftig der Fürsorge für die Ihren widmet. In Le haut mal geht es um eine starke Frau, die sich herrisch um die Ihren kümmert, zu diesem Zweck aber ihren Schwiegersohn heimtückisch ermordet. Gemeint ist Frau Pontreau aus Nieul, einem Küstendorf in der Nähe von La Rochelle. Sie ist Witwe und hat drei Töchter: Hermine, 30 Jahre alt, die sich nicht verheiraten will und nicht von ihr trennen kann; Gilberte, verheiratet mit Jean Nalliers, 26 Jahre alt, Epileptiker, Landwirt; Geneviève, genannt Viève, 18 Jahre alt, in einer Buchhandlung in La Rochelle arbeitend, befreundet mit Albert Leloir, einem jungen Bankangestellten.
Der Vater Pontreau war der größte Austernzüchter und Muschelbauer der Küste. Doch mit dem Kauf eines Fischdampfers hatte er sich übernommen, er war finanziell ruiniert und mußte alles verkaufen. Er ist bald darauf gestorben. „Die vier Frauen Pontreau waren seit vier Jahren vielleicht die Ärmsten von Nieul … und man fragte sich, von was sie lebten, durch welches Wunder ihr Haus noch nicht öffentlich versteigert worden war“ (S.61f.). Ihre Lage verbesserte sich, als Gilberte den Landwirt Jean Nalliers heiratete. Dessen Vater erklärt: „Ich habe dem Jungen einen Bauernhof gekauft und wer befiehlt? Die Alte, wie wenn der Junge und der Hof ihr gehörte!“ (S.49).
Die Geschichte beginnt an einem Tag der Kornernte und des Dreschens. Jean Nalliers, schmächtig, hat Mühe sich gegen die Landarbeiter durchzusetzen. Einen Anfall spürend, zieht er sich auf einen Kornspeicher zurück. Frau Pontreau findet ihn dort bewußtlos, schleift ihn zum Fenster und stürzt ihn auf dem Hof, wo er wenig später tot aufgefunden wird. Der Sturz wird als Unfall verbucht. Die geistig zurückgebliebene Putzfrau Naquet redet in der Folge immer wieder von ihrem bevorstehenden Reichtum, auf das Haus Pontreau hindeutend.
Eines Tages taucht ein junger Hilfsarbeiter, Gérard Noirhomme auf, der sich mit Frau Naquet in Verbindung setzt. Nach einem Versuch, in die Post einzubrechen, wird er auf der Flucht von einem Auto erfaßt und schwer verwundet. Im Krankenhaus macht er die Aussage, daß er Frau Pontreau geholfen habe, Nalliers aus dem Fenster zu werfen. Die Aussage erscheint durch eine Indiskretion in der Zeitung und bringt die Pontreaus in Verruf, so daß sie von allen geschnitten und öffentlich geächtet werden. Frau Pontreau läßt sich von dem öffentlichen Boykott aber nicht beirren, sondern verklagt die Justizbehörde wegen der Indiskretion. Nach einer Befragung der Frau Naquet, die alles abstreitet, gesteht Gérard, daß seine Aussage erfunden war.
Gilberte, immer an ihren Mann denkend, erkrankt, verfällt einer „schrecklichen Gleichgültigkeit“ (S.92) und stürzt sich, um ihrer Mutter zu entkommen, verzweifelt in den Tod. Viève flüchtet am Tag der Zeitungsmeldung mit Albert nach Lyon und später nach Gabun, wo Albert eine lohnende Stelle gefunden hat. Nach zehn Jahren kehren sie mit zwei Kindern zu einem Urlaub nach La Rochelle und Nieul zurück. Dabei sehen sie aus der Distanz Frau Pontreau, Hermine und Frau Naquet, die inzwischen in das Haus aufgenommen worden war. Der Mord an Jean Nalliers bleibt unentdeckt und ungesühnt.
Die Spannung der Geschichte ergibt sich aus der Frage, ob das anfangs geschilderte geheime Verbrechen entdeckt und aufgeklärt wird. Ein zweites Moment, das uns fesselt, ist die Frage, ob die Hauptfigur ihre stolze Einstellung gegen die öffentliche Anfeindung durchhalten kann. Denn, wie Schiller beobachtet hat, liegt es an einer geschickt und zweckmäßig verfahrenden Bosheit, daß sie in der literarischen Darstellung unser Interesse erregen kann, obwohl wir den Schurken moralisch verurteilen (cf. Über Simenons traurige Geschichten, S.180).
Der Roman ist eine gelungene Kombination einiger ausgezeichneter Motive und Themen, die wir aus Simenons Universum kennen: eine beeindruckende Frauengestalt, die Fabel eines unbestraften Verbrechens, die moralische, gesellschaftliche und natürliche Atmosphäre des Fischer- und Bauerndorfes, die Massenpsychose und das Vorurteil der Menge – mit der Pointe, daß ihr Verdacht gegen Frau Pontreau in Wirklichkeit durchaus begründet ist. Das Ergebnis der Kombination ist aber wiederum originell, vor allem wegen der Heldin, schrecklich und unerschrocken.
Sie ist natürlich in jeder Hinsicht die alles beherrschende Figur. Einmal heißt es: „Frau Pontreau war undurchdringlich und ihr Blick hatte vielleicht niemals eine derartige Festigkeit, ihre Haare niemals auch so sauber, ihr Mieder so steif, ihr Kleid so korrekt.“ (S.81) Dann liest man: „Elle réfléchissait“, sie überlegte (S.124), es wird aber nicht gesagt, worüber sie nachdachte. Ähnlich an anderer Stelle: „Fühlte Frau Pontreau, daß sie ihrer Tochter Angst machte?“ (S.133). Man sieht, diese Gestalt wird immer nur von außen geschildert, niemals aus der Innenperspektive. Dies unterstreicht ihre Verschlossenheit, ihre Dominanz und ihre Unerschütterlichkeit, und der Erzähler muß nicht das Innenleben dieses boshaften Wesens, die Gedanken und Motive einer hochintellekten, energischen, aber heimtückischen, unzweifelhaft bösen Mörderin darstellen.
In der Tat läßt der Roman die wichtigste Frage, das Tatmotiv der Frau, unerwähnt und unerklärt. Sie findet aber indirekt eine Antwort in der Schilderung der Jahre nach dem Tod ihres Mannes, die Jahre der peinlichsten Armut für die stolze Frau waren, und sie will um alles in der Welt verhüten, wieder arm zu werden. Daher ihre tödliche Habgier, übrigens ein Laster der Bauern, das, salopp gesagt, zur Folklore des Landlebens gehört.
Die erhellendste Beschreibung dieser Einsicht findet man in einem Maigret-Roman, was wiederum beweist, daß die Maigrets den gleichen literarischen Rang haben wie die eigentlichen Romane: „Das wahre Elend … bringt zwei Arten von Leuten hervor: Verschwender und Geizige. Es bringt häufiger Geizige hervor, und diese haben oft eine solche Furcht, die schlechten Tage wiederkommen zu sehen, daß sie zu allem fähig sind, um sich dagegen zu sichern.“ (L’amie de Madame Maigret, Paris 1971, 170; cf. Grenzen des Menschlichen, S.49).
Ungewöhnlich ist sodann, daß der Romancier hier unübersehbar beim Erzählen experimentiert. Ein auktorialer oder objektiver Erzähler beschreibt die Ereignisse mit einer gelassenen Sachlichkeit und Distanziertheit im Sinne Flauberts und es fällt auf, daß der Autor sich an der Filmtechnik orientiert, indem er häufige Szenenwechsel vornimmt, gewöhnlich als harte Schnitte ohne Überblendungen. Auf diese Art schildert er das öffentliche Leben des Ortes, die Gegnerschaft der Personen, hier die Dorfbewohner und dort die Familie Pontreau in ihren Verrichtungen und Äußerungen abwechselnd beschreibend. Auch überrascht uns Simenon in dem Text, indem er zwei gleichzeitige Ereignisfolgen nacheinander erzählt (S.127) – die kunstvolle Darstellung der Gleichzeitigkeit aber war eine Errungenschaft des modernen Romans.
Nicht zu vergessen die komischen Ansprachen und Rodomontaden des alten trinkfreudigen Nalliers, der seinen Anteil an dem Hof seines Sohnes von Frau Pontreau vergeblich zurückzukaufen versucht.
Schließlich noch ein kurzer Blick auf Romane Simenons mit verwandten Themen und Figuren. Die gesellschaftliche Ächtung von Personen ist ein mehrfach variiertes Leitmotiv Simenons. So am markantesten in den Verlobungen des Monsieur Hire (Leidenschaft im Werk Simenons, S.42ff.) und besonders in Der kleine Mann von Archangelsk (cf. Über Simenons traurige Geschichten, S.16ff.) – die Titelhelden beider Romane werden von der öffentlichen Meinung und der Verdächtigung der Menge in tödliche Verzweiflung getrieben, während die Heldin von Le haut mal der Menge die Stirn bietet und sich nicht einschüchtern läßt, der selbstsicherste, unbeirrbarste, willensstärkste Mensch in Simenons Romanwelt, eine äußerlich streng bürgerliche, innerlich monströse Gestalt. In ihrer Tatkraft und Unerschütterlichkeit gleicht sie am ehesten der Frauengestalt Hortense in Der Wellenschlag, einem Roman, der am gleichen Ort und in dem gleichen Milieu spielt wie Le haut mal (cf. Leidenschaft im Werk Simenons, S.93ff.). Das Motiv des unbestraften Verbrechens hat Simenon dann in Crime impuni ausdrücklich behandelt (Über Simenons traurige Geschichten, S.46ff.).
Simenon hat die Physiognomie mancher Mörder erforscht und geschildert — die Heimtücke, Durchtriebenheit und reine Bosheit betreffend, gleicht Frau Pontreau am ehesten aber dem Mörder in Simenons schwärzestem Roman Der Schnee war schmutzig (cf. Über Simenons traurige Geschichten, S.25f.).
Übrigens, Le haut mal war der erste Roman von Simenon, den André Gide las, der Beginn und der Grund für seine nahezu uneingeschränkte Bewunderung für Simenon. Daß der Roman sonst kaum beachtet wurde, hängt wohl mit seinem unerfreulichen Thema und der schrecklichen Heldin zusammen, zugegeben schlimme Sachen, vor denen man gerne die Augen verschließt.