Man muß Hypothesen und Theorien haben, um seine Kenntnisse zu organisieren, sonst bleibt alles bloßer Schutt, und solche Gelehrten gibt es in Menge.
Golo Manns Leistung und Bedeutung besteht darin, daß er die Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und eine Biographie über Wallenstein geschrieben hat, zwei Standardwerke der Geschichtsschreibung mit hohen Auflagen, so daß Mann heute der am meisten gelesene Historiker sein soll. Was uns bei ihm interessiert, ist natürlich sein Werk. Seine Person, sein Privatleben, erst recht sein Intimleben, sind durchaus periphere Themen, allenfalls Unterhaltungsstoff für die Regenbogenpresse, aber doch kein wichtiger Gegenstand für die seriöse Forschung.
Tilmann Lahme hat ihm in Golo Mann. Biographie. (Frankfurt 2009) unnötig viel Platz eingeräumt. Er rühmt sich, daß er seine Schilderung vor allem auf unbekannte und unpublizierte Quellen stützt und gibt so indirekt, ohne es zu merken, den letztlich bescheidenen Rang seines Buches zu erkennen. Er sieht die Qualität seiner Arbeit in erster Linie in ihrem Material, nicht in der theoretischen Durchdringung des Stoffes, der Analyse der Werke und ihrer Würdigung, und in der Tat ist diese Biographie eine überreiche Stoffsammlung, kein tiefgründiges Psychogramm, keine sprachlich glänzende Lebensbeschreibung und keine kritisch durchdringende Werkbeschreibung. Dem Autor fehlt sichtlich die Gabe, Ereigniskomplexe zu resümieren und auf den letztlich entscheidenden Punkt zu bringen, das theoretische Fazit aus der Faktenschilderung zu ziehen.
Diese Gabe besaßt in höchstem Maß Sebastian Haffner, der mit seinen Anmerkungen zu Hitler, 180 Seiten, Wesentlicheres und Treffenderes über Hitler sagte als Ian Kerkshaw mit seiner Biographie von tausend Seiten.
Lahme scheint nicht verstanden zu haben, daß es in der Wissenschaft, überhaupt bei jeder Mitteilung, nicht auf die Häufung vieler wahrer Aussagen ankommt, sondern nur auf relevante Wahrheiten – so die kritische Mahnung Karl Poppers angesichts des überflüssig vorhandenen akademischen Betriebs mit seinen überflüssigen Publikationsausstoß, dessen Produkte größtenteils überhaupt nicht gelesen werden.
Mit anderen Worten, der Biograph ist auf der Kultur- und Wissenschaftsstufe des Sammlers stehengeblieben.
Hier nun ein paar Anmerkungen zu Golo Mann (1909-1994) selbst, wie ihn der Biograph beschreibt und wie ich ihn aus seinen Schriften kenne, und ein paar kritische Punkte zu seinem Werk.
Allgemein gesagt, zum tieferen Verständnis der historischen Werke trägt diese Biographie nichts bei. Man muß sie nicht gelesen haben, um Manns Deutsche Geschichte oder seinen Wallenstein verstehen zu können. Der positive Wert der Lebensbeschreibung besteht vielmehr darin, daß er einen Überblick über Manns publizistisches Schaffen bietet, und dieser Überblick erlaubt wiederum, ein resümierendes Urteil über diese Arbeiten zu fällen, was der Biograph übrigens unterläßt.
Zur Person
Nichts ist für Golo Manns geistige Physiognomie so aufschlußreich wie sein Verhalten bei der Doktorprüfung. Er war 23 Jahre alt, als er nach knapp vier Jahren Studium eine Arbeit über Hegel vorlegte, die Jaspers scharf kritisierte, was Mann ungerecht fand; auch war er nicht willens, die Dissertation zu überarbeiten (Erinnerungen und Gedanken, 1991, 310). Zum Vergleich, weder Theodor Adorno noch Joseph Ratzinger haben es abgelehnt, ihre Habilitationsschrift zu überarbeiten oder neu zu schreiben, als ihre Prüfer es verlangten. Erst später hat Mann eingesehen, daß Jaspers recht hatte (l.c. 437).
Wie ist dieses uneinsichtige Verhalten zu erklären? Wie konnte er annehmen, daß er über den schwierigsten deutschen Philosophen etwas Belangvolles zu sagen habe? Woher dieses übersteigerte Selbstbewußtsein? Mir scheint, daß hier tatsächlich das Sein das Bewußtsein bestimmte. Er war ein privilegierter Student, der in der damaligen Wirtschaftskrise keine materiellen Sorgen hatte, und er stammte aus einer berühmten Familie, er war der Sohn Thomas Manns und hielt sich in geistigen Dingen durchaus für kompetent. Außerdem glich er seinem Vater auch darin, daß er die Kritik an seiner Arbeit persönlich aufnahm.
Man hat öfter geschrieben, Golo Mann habe darunter gelitten, einen berühmten Vater zu haben. Ich meine, daß er auch stolz auf diese Abstammung war und die Vorteile, der Sohn von TM zu sein, gerne wahrnahm und ausnutzte. Schießlich hat man ihn später nicht nur um seiner selbst willen oft zu Vorträgen eingeladen, sondern als Sohn des berühmten Mannes.
Diese Einschätzung hatte ein Nachspiel als Farce. Er bekam 1968 von der Darmstädter Akademie den Büchner-Preis als Ersatz dafür, daß ihn Thomas Mann nicht bekommen hatte (Lahme S.379).
Zu dem Konflikt mit Adorno
Konkret ging es darum, daß Adorno verhindern wollte, daß Golo Mann einen Lehrstuhl in Frankfurt erhielt. Lahme beschreibt diesen Streit ausführlich mit Hinweisen auf Akte und Archive, gesteht am Ende aber ein, daß sich die Feindschaft kaum noch aufklären lasse (S.301). Er verweist aber auf einen sachlichen Grund für diesen Konflikt, Golo Manns Kritik an dem rein theoretischen Charakter der Philosophie Adornos und Horkheimers. Dies widersprach dem Credo Manns, daß der Intellektuelle helfen solle (S.305)- eine Maxime, die Mann im Internat von Salem gelernt hatte, philosophisch gesehen, eine Parole des Pragmatismus, die Manns pädagogische Einstellung als Publizist und Geschichtsschreiber erklären kann.
In der Tat ist Golo Manns belehrender Gestus nicht zu übersehen und oft genug unerträglich. Er scheint nicht erkannt zu haben, daß seine erzieherische Haltung oft genug einer Bevormundung der Leser und Hörer gleichkommt. Er hat wohl das goldene Wort Max Schelers nicht gekannt: „Ich habe mich nie eine Sekunde lang zu jemand pädagogisch verhalten.“ Die Jahre als Lehrer an kalifornischen Schulen sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Wie wichtig für Adorno der Gesichtspunkt der reinen Theorie war, ersieht man daraus, daß die „Marginalien zu Theorie und Praxis“ der letzte Aufsatz war, den Adorno veröffentlichte. Er behauptet darin, daß in jedem ernsthaften Denken ein praktischer Impuls verborgen sei (Stichworte 2, 1969, 175).
Golo Mann hatte zweifellos ein Vorurteil gegen Adorno, dessen Ursache auch hier nicht aufgeklärt wurde. Er lehnte ausgerechnet die Minima Moralia wegen des „Gestus der Übergescheitheit“ ab (S.289). Diese Schrift, die ursprünglich „Philosophie des Alltags“ heißen sollte, bildet aber noch den leichtesten Zugang zu dem Denken Adornos (cf. , Über das Ethos von Intellektuellen . S.25ff.). Golo Mann aber scheint das Buch überhaupt nicht gelesen zu haben, es ist nicht bekannt, daß er sich mit Adornos Ideen überhaupt auseinandergesetzt hätte. Seine Kritik ist also nur der Ausdruck persönlicher Animosität.
Politisches
Diese Leitartikel, Aufsätze, Vorträge, Interviews aus vier Jahrzehnten, von Kriegsende bis zur Wiedervereinigung, lehren also unmißverständlich, daß ein Historiker eo ipso noch kein kompetenter politische Kommentator ist. Sein Verständnis der aktiven Politik und ihres Handlungsspielraums ist sehr begrenzt. Dafür nur vier Beispiele.
In den fünfziger Jahren schlägt er vor, daß die Bundesrepublik ihre Ostgrenze anerkennen sollte, ohne zu bedenken, daß dies bei 12 Millionen Vertriebenen, die in die Gesellschaft integriert werden müssen, sich politisch nicht durchsetzen läßt. Erstens sind die Vertriebenen auch Wähler und zweitens ist die Grenzregelung aus gutem Grund einem Friedensvertrag vorbehalten.
Am meisten hat mich verblüfft, zu lesen, daß Golo Mann in der Affäre um Hans Filbinger, der als Marinerichter bei Kriegsende noch Todesurteile fällte, die Partei Filbingers ergriffen hat – eine völlig irrationale, absolut launische Entscheidung, die mit seinem Antinazismus unverträglich ist.
Golo Mann war ein scharfer Kritiker der linken Tendenzen bei den Sozialdemokraten. Dabei hat er übersehen, daß diese Linke keine nennenswerte gesellschaftliche Basis hatte – trotz der Studentenbewegung und dem angeblich linken Zeitgeist, wie er von einigen Blättern propagiert wurde. Er ließ sich nicht mal von Willy Brandt eines besseren belehren (Klaus Harpprecht, Im Kanzleramt. 2001, 281).
Den Tiefpunkt seines politischen Urteils über die aktuelle Entwicklung aber hat er in seiner Sicht der Wiedervereinigung erreicht. Er spottet über Helmut Kohl und zeigt sich unfähig, Kohls einmalige historische Leistung zu erkennen und anzuerkennen. Er spricht sich für die ablehnende Linie Lafontaines aus – Lafontaine aber hat später eingestanden, daß er damals einen kolossalen Fehler begangen hatte.
Zum Historiker
Golo Mann schrieb im Stil der bildungsbürgerlichen Betulichkeit, der in den fünfziger Jahren hierzulande in Mode war, Vom Geist Amerikas (1953; Stuttgart 1961), in dem er das Land seiner Emigration nicht wenig verklärte. So schreibt er über den Völkermord an den Indianern eher beiläufig mit einem Zitat, „daß die Ausrottung der feindlichen Eingeborenen ohne allzu große eigene Verluste rüstig fortschritt“ (S.27). Er schreibt kein Wort über die nach wie vor bestehende gesellschaftliche Diskriminierung der Schwarzen und über ihre Benachteiligung bei den Wahlen, sondern erklärt zur Rassentrennung, daß „schließlich auch die Neger ihre politische und soziale Stellung Schritt für Schritt verbessern konnten“ (S.31).
In der Kontroverse über den Gegensatz von narrativer Geschichtsschreibung und theoriebestimmter Geschichtsforschung wurde Golo Mann zur Schule der Geschichtserzähler gerechnet – was aus zwei Gründen zu relativieren wäre. Jener Gegensatz ist nämlich keine vollständige Disjunktion, da die Erzählung eines Ereignisses sehr wohl ebenso eine Begründung für eine These sein kann wie der Nachweis gesellschaftlicher Strukturen oder wirtschaftlicher Tendenzen. Außerdem liegt sowohl seiner „Deutschen Geschichte“ wie seinem „Wallenstein“ ein bestimmtes Konzept der Geschichte zugrunde. Überdies überwiegt gerade in der Deutschen Geschichte das Räsonnement gegenüber den erzählenden Partien oder der Chronik. Golo Mann scheint einen Horror vor Zahlen zu haben, wo doch die Chronologie das Rückgrat der Geschichtsschreibung ist.
Zur Theorie der Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt 1966) sei nur angemerkt, daß er hier einen fragwürdigen Begriff der Geschichte in der Tradition Hegels vertritt. Er spricht allen Ernstes von der „Schuld der deutschen Geschichte“ (l.c. 595 u. 767), als sei die Geschichte ein Subjekt, oder vom „Eigensinn der Geschichte“ (l.c.41). Er erwähnt das "Gefühl von Hitlers historischem Recht", als habe er dieses Gefül geteilt - angesichts des Versagens der demokratischen Parteien (l.c. 810). Zum Einmarsch Napoleons in Rußland liest man erstaunt die Bemerkung über Napoleons Absicht: „Auf das, was solch ein Mann in solcher Lage selbst glaubt, kommt es geschichtlich wenig an.“ (l.c. 91). Außerdem spricht er davon, daß der Erste Weltkrieg vom „Geist der Zeit“ ausgegangen sei (l.c. 589), als sei der Zeitgeist eine objektive Macht.
Kurzum, man müßte die Theorie der Geschichte genauer untersuchen, die der Erzählung der Geschichte zugrundeliegt. Später vertritt Golo Mann dann einen nüchternen Begriff der Geschichte: „Die Geschichte hat keine Identität, keine Persönlichkeit, also auch keine Dämonie. Sie ist ein bloßer Sammelname für das, was unzählbar viele Menschen treiben.“ (Erinnerungen und Gedanken, S.495).
Zu fragen bleibt aber, inwiefern seine Deutsche Geschichte von einem pädagogischen Gesichtspunkt geprägt wurde - so etwa in seinem Urteil über die Brandstiftung am Reichstag oder seine Manie, öfter von H. als von Hitler zu reden.
Als ich die Arbeit über Döblins Wallenstein-Roman schrieb, habe ich natürlich Golo Manns Biographie genau studiert und mich vielfach auf seine Darstellung der historischen Fakten bezogen, um die Differenz zwischen Roman und Historiographie festzustellen und zu beschreiben (cf. , Geschichtsroman und Geschichtskritik ) . Freilich gibt es in der Biographie nicht wenige Erklärungen zur narrativen Darstellung, die erheblich irritieren. Er spricht von dem „Komplott unseres Romans“ und von dem „wahren, blutigen Roman, der hier erzählt wird“ (Golo Mann, Wallenstein. Frankfurt 1972, 110; 269), "Roman" uneigentlich, metaphorisch gebrauchend.
Doch hat er die Grenze zwischen Bericht der Fakten und Dichtung angeblicher Fakten, zwischen der erzählerischer Wiedergabe der Fakten und dichterischer Formung, Darstellung und Erfindung historischer Figuren und Ereignisse, öfter eindeutig überschritten – so etwa, wenn er sich vorstellt, wie bestimmte Szenen abgelaufen sein könnten. Auch schreibt er: „In Wallensteins Seele können wir nicht schauen“ (l.c. 100), was ein Privileg des Romanciers ist; er fügt aber dann eine „Nachtphantasie“ Wallensteins ein, die nichts anderes ist als ein Blick in dessen Seele (l.c.665f.).
Auch dies ist ein Thema, das eine genauere Untersuchung verlangte, nämlich die Kompetenz und der Umfang faktengetreuen Erzählens; ebenso das Problem, was der Autor zu der These sagt, ob einzelne Menschen wirklich Geschichte gestalten können oder dies nur unbeinflußbaren Vorgaben und Ereignissen möglich ist.
Zum Schluß
Schließlich zeigt die Biographie doch wohl zutreffend, daß Golo Manns Unglück darin bestand, daß er nach dem Wallenstein (1971), abgesehen von seiner späten Autobiographie, kein Thema für eine größere Arbeit mehr fand. Er plante, eine Cicero-Biographie zu schreiben, gab den Vorsatz aber bald auf, um sich in beliebige Vorträge, politische Leitartikel, meist ungeschickte Fernsehauftritte, zu verzetteln. Dann das eher kuriose als sachgerechte politische Engagement zunächst für Brandt, dann für Strauß.
Meines Erachtens hängt das publizistische Wirken, der Wille, politisch Einfluß zu nehmen, nicht nur mit der Eitelkeit zusammen, wegen seines Namens gefragt zu sein, sondern wesentlich mit der selbsteigenen Helfer-Ideologie, seinem volkspädagogischen Ehrgeiz, wohl ein Erbteil seiner großbürgerlichen Gesinnung. Nach der Biographie zu urteilen, spielte das Programm der "Reeducation" der Deutschen in Manns Rundfunkbeiträgen während des Krieges und danach keine Rolle - obwohl doch diese Idee seiner pädagogischen Einstellung hätte zusagen müssen. Die Sache bleibt unerwähnt.
In der Biographie heißt es, er sei einer der „beachtesten politischen Kommentatoren der Bundesrepublik“ gewesen (S.328) – es mag schon sein, daß er sehr beachtet wurde, doch hat man seine Ansichten kaum je so ernst genommen wie die Meinung oder Diagnose eines Sebastian Haffner oder Rudolf Augstein, die vom politischen Geschäft ungleich mehr verstanden als der gefeierte Historiker berühmten Namens.