Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes.
Wie soll sich ein Vater zu seinem Sohn verhalten, der zum Mörder geworden ist? Das ist das Thema, genauer gesagt, das überaus belastende Problem oder die tragische Situation, das unausweichliche Geschick in L’horloger d’Everton (1954: Paris 1972), Der Uhrmacher von Everton. Bekanntlich hat Simenon wie ein Maler das gleiche Thema in verschiedenen Romanen behandelt, um jeweils andere Aspekte der Sache zu beleuchten. Den klassischen Roman über dieses Thema, der mit Recht zu seinen großen Romanen zählt, hat er zwei Jahre später geschrieben: Le fils (1956), ein ausgesprochener Gesellschaftsroman, die französische Bourgeoisie schildernd, das höhere Beamtentum und den diplomatischen Dienst, und einen Vertreter dieser Klasse, der anstelle seines Sohnes, der durch ein Mißgeschick straffällig geworden ist, die Strafe für dieses Mißgeschick auf sich nimmt (, Über Simenons traurige Geschichten, S.54ff.).
Der Uhrmacher von Everton aber ist ein durch und durch amerikanischer Roman. Die Geschichte und das Verhalten der Personen setzen amerikanische Verhältnisse voraus, amerikanische Polizei, amerikanische Gerichte, amerikanische Rechtsverhältnisse, amerikanische Mentalität. Das singuläre Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist dadurch extrem belastet, daß der Sohn mit voller Absicht zum Mörder geworden ist und daran auch keinen Zweifel läßt. Er nimmt in keiner Weise mildernde Umstände für sich in Anspruch. Der Vater sieht sich mit dieser Situation konfrontiert, ein Verhältnis, das zwei Seiten hat: eine moralische und eine psychologische Seite, und die Frage ist, wie der Vater mit dieser widersprüchlichen Konstellation fertig wird.
Im Unterschied von Le fils ist L’horloger d’Everton kein ausgesprochener Gesellschaftsroman, sondern ein reiner Beziehungs- oder Familienroman, wenn man einen Zwei-Mann-Haushalt eine Familie nennen kann.
Dave Galloway, 43 Jahre alt, Uhrmacher in Everton, einem Dorf nahe New York, kommt an einem Samstagabend im Mai, nach einem Besuch bei seinem Freund, Frank Musak, nach Hause und stellt fest, daß sein Sohn Ben, 16 Jahre alt, mit seiner Freundin Lillian Hawkins, 15 ½ Jahre alt, und Daves Auto verschwunden ist. Am nächsten Morgen wird Dave von der Polizei nach seinem Auto gefragt. Er erfährt, daß es irgendwo abgestellt ist und sein Sohn einen Fahrer erschossen hat, um dessen Wagen zu stehlen. Ben ist auf der Flucht in die Südstaaten, wo er seine Freundin heiraten will. Dave wird in Everton von Journalisten bedrängt, die eine Hintergrund-Story über ihn schreiben möchten. Er spricht eine Botschaft für Ben auf das Band fürs Radio, in der er Ben auffordert, sich zu ergeben, und ihn seiner Solidarität versichert.
Das emotionale Verhältnis zwischen Dave und Ben ist dadurch charakterisiert, daß der Vater allein Ben aufgezogen hat, da Daves Frau, Ruth, ihn verließ, als Ben sechs Monate alt war. Ben wird in der Nähe von Indianapolis gefangengenommen. Er weigert sich zunächst, seinen Vater zu treffen. Bei einer späteren Begegnung verhält er sich distanziert. Erst nach seiner Verurteilung zu lebenslänglicher Haft kommt es allmählich zu einem Verständnis zwischen Vater und Sohn.
Simenon hat der Geschichte nach allen Regeln der Kunst von der ersten bis zur letzten Seite Spannung eingehaucht. Im zweiten Satz heißt es, daß dies „sein letzter Abend als glücklicher Mensch“ sei (S.7) und als er zuhause feststellt, daß Ben verschwunden ist, erklärt er, daß er eine Katastrophe erwartet habe (S.25). Man fragt nun, was für ein Unglück bevorsteht. Dies aber wird Schritt um Schritt enthüllt. Zunächst geht es darum, was mit dem Auto Galloways geschehen ist, dann um das Verbrechen Bens, anschließend darum, ob seine Flucht gelingt; nach seiner Festnahme um die Anklage und das Urteil des Gerichts; schließlich hauptsächlich darum, wie Ben sich zu seinem Vater verhält, und erst im letzten Kapitel findet Dave eine ihn befriedigende Erklärung für das Verhalten seines Sohnes. Insgesamt eine Kette von Ereignissen, die höchste Spannung erzeugt, bis das Geschehen am Ende halbwegs plausibel erklärt wird.
Der typisch amerikanische Charakter dieser Geschichte fällt sofort ins Auge. Nur in diesem Land ist es möglich, ohne viel Umstände vor einem beliebigen Friedensrichter zu heiraten; nur in einigen Südstaaten des Landes kann man im frühen Alter von 16 Jahren heiraten. Nur in Amerika heiratet man so gern und so oft. Nur in dieser Gesellschaft ist eine so leichtfertige Verbindung denkbar, wie sie Ben und Ruth eingegangen sind, und wo sonst kommt man so umstandslos an Revolver wie hier?
Wenn man sich wundert, daß Bens Freundin ein Mädchen von fünfzehneinhalb Jahren ist, sollte man sich daran erinnern, daß die Julia der Tragödie erst dreizehn Jahre alt ist. „Mein Kind ist noch ein Fremdling in der Welt, / Sie hat kaum vierzehn Jahre wechseln sehn“, sagt ihr Vater.
Die alles entscheidende Frage dieses Romans ist natürlich die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Dave und Ben am Ende gestaltet und entwickelt. Dave wendet sich übers Radio an Ben, er sollte sich ergeben: „Ich werde immer mit dir sein, was auch passiert … Ich bin dir nicht böse.“ (S.101) Er meint, daß das Wort „nicht böse sein“ im weiteren Sinn zu verstehen sei (S.151). Er will mit seiner Botschaft nicht sagen, daß er auf der Seite des Gesetzes sei. Er weiß, daß Ben seine Verantwortung anerkannt habe. Dave selbst "klagt nicht an, er erklärt aber auch nicht … Selbst wenn er an Charles Raston (den Ermordeten) dachte, der am Straßenrand lag, und an die Szene, die sich im Auto abgespielt hat, gelangte er nicht dazu, ihm böse zu sein. Er war nur entsetzt, wie man es bei einer Katastrophe ist“ (S.106).
Aus diesen Worten ergibt sich, daß Dave zwar den moralischen Aspekt, der sein Verhältnis zu Ben berührt, nämlich dessen Mordtat, nicht leugnet, jedoch den psychologischen Aspekt des Verhältnisses weit stärker betont. Er behauptet: „Der Charakter ihrer Beziehungen waren nicht nur die Beziehungen eines Vaters und eines Sohnes“ (S.140). Als Ben sich weigert, ihn zu sehen, heißt es: „Es war, wie wenn sechzehn Jahre gemeinsamen Lebens und täglicher Intimität plötzlich aufgehört hätten zu existieren“ (S.148). Am Ende bekennt er: „Mein Sohn und ich sind solidarisch“ (S.149). Er meint aber von sich, es sei gerecht, auch ihn verantwortlich zu machen (S.166).
Im letzten Kapitel legt Ben dann seine Erklärung für Bens kriminell abweichendes Verhalten vor. Er hält es für eine Revolte und vergleicht es mit der Revolte seines Vaters und seiner eigenen Revolte. Sein Vater, ein Bankfachmann, hat einmal in seinem Leben eine Nacht durchgefeiert und außer Hauses verbracht, was man ihm sein Leben lang vorhielt. Dave betrachtet seine Heirat mit Ruth, einer freizügigen Frau, ebenfalls als eine Revolte, als Aufruhr oder Erhebung gegen die anerkannten Sitten der Normalität. Er meint, in dem Gesicht der drei Personen den gleichen Ausdruck geheimen Lebens und einer beständigen Revolte zu erkennen (S.181). Er betont aber, daß diese drei Personen für ihr Verhalten verantwortlich waren und daß er, außerhalb des Gefängnisses, den gleichen Preis bezahle wie sein Sohn“ (S.188).
Der Roman schließt mit den kryptischen Worten, daß Dave bald mit seinem Enkel sprechen werde, um „ihm das Geheimnis der Menschen zu offenbaren“ (S.189).
Die Sache mit der Revolte ist natürlich nicht die Meinung des Autors, sondern die Erklärung einer Romanperson; sie ist ganz gewiß nicht klar und plausibel ausgefallen, denn zwischen dem Verhalten der drei Personen gibt es gravierende Unterschiede. Es ist nicht das gleiche, ob man einen Tag blau macht oder einen Menschen tötet. Trotz dieser Diskrepanz ist die Erklärung in einer Hinsicht verständlich: sie deutet das revoltierende Verhalten als Aufbegehren gegen den typisch amerikanischen Konformismus, wird doch in dieser Gesellschaft unerbittlich gefordert, daß man sich ihr anpaßt und ihre Verhaltensweisen übernimmt. Dem entspricht die Doktrin amerikanischer Psychologen, daß die Verletzung dieser Norm, wie bei Mord, zeige, daß die Verbrecher geistesgestört sein müssen, wie der Anwalt es bei Ben annimmt.
Aus amerikanischer Sicht sind Mörder Psychopathen, aus Simenons Sicht normale Menschen. Dave Galloway vertritt Simenons unamerikanische Ansicht, er hält seinen Sohn nicht für verrückt (S.158), während etwa ein Autor wie James Hadley Chase die amerikanische Ansicht in seinen Psychothrillern spektakulär zum Ausdruck bringt.
Schließlich wäre noch ein autobiographischer Aspekt des Romans zu beachten. In dem Film Citizen Cane gibt es ein Stichwort des Helden, das an ein glückliches Kindheitserlebnis erinnert und die innerste Sehnsucht des Mannes, das Geheimnis seines Lebens, ausdrückt. Pierre Assouline meint nun, daß für Simenon die Uhr auf ein vergleichbares Lebensgeheimnis deute. Simenon nämlich hatte von seinem Vater kurz vor dessen Tod seine Taschenuhr geschenkt bekommen, Simenon aber hat sie für eine Begegnung mit einer Frau leichtfertig geopfert. Der Autobiograph meint nun, das Motiv der Uhr in Simenons Werk spiele mehr oder weniger deutlich auf jenes Erlebnis des Romanciers an (Assouline, Simenon. Paris 1992, 792f.).
In der Geschichte des Uhrmachers von Everton kann man aber eine derartige Anspielung nicht entdecken. In ihr steht das Motiv für die Sorgfalt und Genauigkeit, die Dave in seiner Arbeit befolgt, und allenfalls für die Zuverlässigkeit seines Charakters.
Wenn man nun nach dem Rang dieses Romans fragt, sollte man daran denken, daß Simenons Werk drei Kategorien von Romanen umfaßt: die Romanskizze, die Darstellung von Personen und Ereignissen in sparsamen, für das Thema unbedingt nötigen Umrissen; der durchgeformte Roman, der ein Thema umsichtig, originell und glanzvoll ausführt; schließlich der oberste Rang, der Roman als großer Wurf, einzigartig in Simenons Oeuvre und einzigartig in der Epoche (, Leidenschaft im Werk Simenons, S.8f.).
Der Uhrmacher von Everton gehört zur zweiten Kategorie. Den ersten Rang hat erst Le fils erobert, wo die singuläre Beziehung von Vater und Sohn sowohl in ihrer moralischen wie in ihrer psychologischen Beziehung im Milieu der französischen Gesellschaft sachgerecht und vollauf überzeugend beschrieben wird.