Josef Quack

Ländliches Drama
"Der Bericht des Gendarmen" (Simenon)




Im Themenkreis der Werke Simenons nimmt Le rapport du gendarme (1944; Paris 2000) eine Schlüsselstellung ein. Es wird darin nämlich ein originelles Tatmotiv für einen Mord, das in anderen Romanen im verschwiegenen Hintergrund bleibt, offen eingestanden und genau überlegt. Zweitens, über dem Geschehen liegt von Anfang an eine beklemmende Stimmung, die Ereignisse bergen eine unerklärliche Bedrohung in sich, die Handlung erweckt den Anschein ungelöster Rätsel. Zudem beherrscht das ländliche Milieu alles Geschehen. Die häuslichen Verrichtungen und die Arbeiten auf dem Feld werden mit seltener Genauigkeit, aber in der gebotenen Kürze geschildert. Simenon vermeidet jede Langatmigkeit. Viertens dient die Erzählweise dazu, die Themen und Motive möglichst klar auszuführen und zu präsentieren. Formale Etüden auf Kosten des Gehalts liegen dem Romancier wie immer fern. Schließlich ist der Bericht des Gendarmen der Roman mit dem grausamsten Ende, den ich von Simenon kenne. Ich vermute, daß dieser Aspekt nur aus der gewalttätigen Zeit des Krieges zu erklären ist, während der diese Geschichte erfunden und geschrieben wurde.

Eines Tages im Oktober wird in Sainte-Odile, einem Dorf in der Nähe von La Rochelle, vor dem Bauernhof „Gros Noyer“ (Großer Nußbaum) ein unbekannter Mann von einem Auto schwer verletzt. Da er nicht transportfähig ist und im Koma liegt, bringt man ihn in das Haus, wo er von der Frau des Hofes, Josephine Roy und ihrer Tochter Lucile gepflegt wird. Als er nach Tagen aus der Bewußtlosigkeit erwacht, stellt sich heraus, daß er sein Gedächtnis verloren hat. Der einzige Anhaltspunkt für seine Person ist ein Zettel mit der Adresse des „Gros Noyer“, den er bei sich trug. Der Gendarme Liberge sucht herauszufinden, worin die Beziehung zwischen ihm und dem Hof bestehen könnte. Der Herr des Gutes ist Etienne Roy, 43 Jahre alt, während sein Vater, Evariste Roy, 72 Jahre alt, gleichsam die Stelle eines Knechtes einnimmt. Ihre Beziehung ist dadurch belastet, daß Etienne weiß, daß er nicht der Sohn des alten Roy ist. Liberge vermutet, aus dem freizügigen Vorleben Evaristes könnte sich eine Verbindung zu dem Unbekannten ergeben. Zugleich ermittelt er, daß Josephines Mutter noch lebt; sie war eine Marktfrau und ist wegen kleinerer Delikte vorbestraft.

Josephine fürchtet nun, daß ihr Mann ihr eigenes unrühmliches, unbürgerliches Vorleben und den Umstand erfahren könnte, daß Lucile nicht seine Tochter ist. Sie glaubt, daß er in diesem Fall sie und ihre Tochter aus dem Haus werfen würde. Um den sicheren Sturz in die Armut, das Leben auf der Straße, zu vermeiden, beschließt sie, Etienne zu ermorden. Sie vergiftet ein Pilsgericht, doch Etienne schmeckt das Gift heraus. Er verläßt wortlos die Wohnung, betrinkt sich in der Stadt, kommt zurück und erschlägt in rasender Wut seine Frau, deren Tochter und den Unbekannten, bevor er sich selbst im Stall erhängt.

Der alte Roy erbt den Hof, die Mutter Josephines bekommt nach drei Monaten einen Brief von ihrem Sohn Justin, der wegen Mordverdacht nach Panama geflohen war. Er hatte den Unbekannten mit 60.000 Franken für seine Mutter zu dem „Gros Noyer“ geschickt, weil er damals keine andere Adresse wußte.

Wiederum ist es Simenon gelungen, unsere Aufmerksamkeit von der ersten bis zur letzten Zeile zu fesseln. Die Erzählung ist so angelegt, daß jede Frage eine andere Frage hervorruft, die eine Antwort verlangt. Zunächst geht es darum, ob der Schwerverletzte überhaupt am Leben bleibt, dann, ob er zu Bewußtsein kommt, ob er sich erinnern kann, warum er die Adresse des „Gros Noyer“ bei sich hatte, warum Josephine sich fürchtet, warum sie beschließt, Etienne zu ermorden, wie Etienne reagieren wird.

Der Bericht des Gendarmen ist in hohem Grad ein realistischer Roman. Dieser Eindruck entsteht bekanntlich auch hier durch nichts anderes als durch genau beschriebene signifikante, kleine Beobachtungen: das Einlagern von Äpfeln, die Aussaat von Hafer, das Herausziehen von Rüben und Schwarzwurzeln, das Bügeln von Wäsche, der Rhythmus eines „häuslichen Menuetts“, mit dem zwei Frauen die Bettüchter zusammenfalten (S.67), die Gewohnheit des alten Roy, beim Essen sein Taschenmesser zu benutzen. Es sind nebensächliche Verrichtungen, die zum Hintergrund der Handlung gehören, sie sind aber der Stoff, aus dem die Wirklichkeit ist, unfehlbare Mittel der anschaulichen Vergegenwärtigung (J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.13f.).

Berichtet wird die dramatische Geschichte, dem Titel entsprechend, von einem auktorialen Erzähler, der gelegentlich in erlebter Rede die Überlegungen der Personen wiedergibt. Anfangs ist der Brennpunkt auf den wortkargen Etienne gerichtet, und es ist ein aparter Einfall, daß man in erlebter Rede oder im stummen Monolog die Gedanken eines Mannes erfährt, der außer den nötigsten Worten sonst keine Silbe von sich gibt. Gegen Ende des Dramas ist der Fokus, sozusagen natürlicherweise, auf Josephine gerichtet, in dieser Phase die maßgebliche Akteurin des Geschehens.

Die alles durchdringende bedrohliche Atmosphäre der Geschichte geht von zwei Faktoren aus: von dem schwerverletzten Unbekannten, der eine Gefahr für Josephine und Lucile darzustellen scheint, und von dem undurchsichtigen Charakter Etiennes, der am Ende sich tatsächlich noch erheblich bedrohlicher verhält, als Josephine es befürchtet hatte. Als Lucile den Unbekannten auf der Straße erblickt, spürt sie „eine Art Schock“ (S.9).

Etienne hat als Junge zufällig erfahren, daß er nicht der Sohn von Evariste Roy ist. Dieser nimmt die Tatsache stumm hin, weil Etienne den Hof von seiner Mutter erbt und er praktisch nur ein Knecht ist. Die verschwiegene Tatsache prägt aber Etiennes Charakter tief und folgenreich. Er lebt in der Erwartung eines Schlages (S.32), er hat einen „Sinn für das Unglück“ (S.38). „Er war linkisch, weil er immer einen Spott fürchtete, furchtsam, weil er unaufhörlich eine Katastrophe fürchtete“ (S.42). Da er immer das Schlimmste fürchtet, verzichtet er darauf, Genaueres über das launische Verhalten der halbwüchsigen Lucile herauszubekommen. Lucile aber, die selbst herausgefunden hat, daß er nicht ihr Vater ist, faßt das belangloseste Wort Etiennes als Bedrohung auf (S.24).

Die Beziehungen dieser Familie sind durch Mißtrauen und Distanz, fehlende Offenheit belastet. Etienne kann Josephine nicht glauben, weil sie ihn über ihre Mutter belogen hat (S.103). Er erlebt aber einen Schock, als er Josephine bleich im Gespräch mit dem ihr zusetzenden Gendarmen antrifft (S.100). Selbst Josephine und Lucile sind uneins, was die Behandlung des Unbekannten angeht: „Es gab zwischen ihnen geheimnisvolle, beunruhigende, unaussprechliche Dinge“ (S.73).

Die Ehe zwischen Josephine und Etienne ist seitens der Frau eine reine Angelegenheit der Vernunft, sie wollte bürgerliche Sicherheit nach den Jahren des Marktbetriebs und als Kellnerin. Obwohl sie Etienne nie geliebt hat und er wegen ihrer Überlegenheit vor ihr ein wenig Angst hat, spürt sie in den Tagen drohender Gefahr, daß es zwischen ihnen ein Band gibt; doch ist es für sie zu spät, sich ihm anzuvertrauen: „Aber ja! Sie hatte das Verlangen, sich an ihn anzuklammern. In der schwarzen, feuchten und kalten Unendlichkeit, waren sie zwei, sie konnten, sie mußten zwei sein.“ (S.135) Die Schilderung bezieht sich auf eine nächtliche Heimfahrt auf einem Pferdewagen, spielt aber doch auch auf die kosmische Dimension im Sinne Pascals oder Joseph Conrads an, ein Gedanke, der selten bei Simenon fehlt.

Josephine wird zunächst durch die Nachforschungen des Gendarmen, das Leben ihrer Mutter betreffend, beunruhigt. In wirkliche Angst aber versetzt sie eine Postkarte ihrer Mutter mit der chiffrierten Nachricht, daß Gefahr drohe. Zunächst erwägt sie, den Gendarmen zu töten, dann entscheidet sie, ihren Mann zu töten. Sie fürchtet, wenn er die Wahrheit über sie erfahren würde, würde er sie aus dem Haus werfen: „Eines Tages müßte ich vielleicht auf die Straße zurückkehren. / Während zwanzig Jahren, hatte sie niemals aufgehört, daran zu denken. Der Geruch des Elends preßte ihr noch die Kehle zu. Sie hatte davon noch feuchte Schläfen.“ (S.119) Und wiederum: „Die Straße … Sie hatte alles getan, um nicht dorthin zurückzukehren mit ihrer Tochter, denn, wenn Etienne endlich wissen würde …“ (S.125).

Damit hat Simenon eines der oft verkannten, aber stärksten Tatmotive für Mord beim Namen genannt, die Angst vor dem Rückfall in bitterste Armut. Der Beweggrund wird in Die Fallsucht verschwiegen, obwohl er allein das Verhalten der handelnden Person erklären kann; dagegen hat Simenon das Motiv in L’amie de Madame Maigret (Paris 1971, 170) klar ausgesprochen (J.Q., Grenzen des Menschlichen, S.49).

Bemerkenswert ist schließlich, wie Simenon die Gefühlsstimmung Josephines beschreibt. Zunächst ist ihre Emotion angesichts der Bedrohung seltsam unbestimmt: „Sie hatte Furcht (peur), wahrhaftig. Vor nichts Genauem. Vor allem. Vor ihm, der Zukunft. Furcht vor dem Schicksal.“ (S.132) Damit ist genau die Befindlichkeit der Angst bezeichnet, die sich auf nichts Bestimmtes bezieht, während die Furcht einen genau angebbaren Gegenstand hat – so nach der Analyse Heideggers. Josephine findet ihre Selbstsicherheit wieder, als sie sich zu töten entschließt, obwohl sie noch nicht weiß, ob es der Gendarme oder ihr Mann sein wird: „Niemals! / Die Entscheidung getroffen, fühlte Josephine sich mehr Herrin ihrer selbst als jemals“ (S.154). Die Entscheidung, Etienne zu töten, kommt allmählich zustande: „Mittags, in dem Augenblick, als ihr Mann seine großen Augen von seinem Teller hob, hatte Josephine beinahe schon das Schicksal akzeptiert.“ (S.160)

Wohlgemerkt, sie ist es, die die Tat vollzieht, aber gewissermaßen unter unausweichlichen Umständen, so daß man in der Aussage eine Entschuldigung für die Tat sehen könnte. Schließlich werden ihre Überlegungen, wie die Vergiftung im einzelnen auszuführen sei, in einem inneren Monolog wiedergegeben – ein Beweis für die von ihr zu verantwortende Täterschaft (S.163).

Am Ende wären noch drei Punkte anzuführen. Als Etienne die Tür aufbricht, um seine Opfer zu töten, heißt es: „Der Mann stieß Knurrlaute eines Bären aus … Man nahm ihn eine Sekunde wahr, man spürte seinen Blick, in dem es nicht mehr einen Funken von Menschlichkeit gab.“ (S.176) Der schärfste Ausdruck Simenons dafür, daß ein Mörder eine humane Grenze überschritten hat und auf die Stufe eines Tieres zurückgefallen ist (J.Q., Grenzen des Menschlichen, S.69f.) Auch kann man sich daran erinnern, daß Maigret selbst bei einem geistig gestörten Mörder „den kleinen menschlichen Funken“ erwecken will (Maigret tend un piège (1970, 173)

Das neunte Kapitel beginnt mit einem Hinweis auf Kranke, denen der Arzt ankündigt, daß sie noch zwei, drei, vier Jahre zu leben haben (S.159). Hier spricht Simenon aus eigener Erfahrung; denn kurz bevor er diesen Roman schrieb, hatte ein Arzt ihm nur noch zwei Jahre zu leben gegeben – eine unverantwortliche Fehldiagnose eines inkompetenten Arztes (Simenon, Intime Memoiren 1982, 112).

In der Geschichte ist öfter, als man erwarten könnte, von Uhren die Rede. Nun hat Pierre Assouline herausgefunden, daß die Uhr ein überaus häufiges Motiv im Werk Simenons ist und gemeint, es gehe auf ein peinliches Erlebnis Simenons zurück. Sein Vater hatte ihm einst eine Uhr geschenkt, die er aber leichtfertig weggegeben habe (Assouline, Simenon, 1992, 792f.). In dem Bericht des Gendarmen wird das Motiv gegen Ende der Handlung geradezu liebevoll erwähnt – in stärkstem Kontrast zu den unmenschlichen Morden. Der alte Roy unterhält sich mit Bekannten in der Wirtschaft: „Man plauderte so, zusammenhanglos. Die Zeiger der Uhr gehen gemütlich ihren Weg (vont leur bonhomme de chemin)“ (S.179). Eine versteckte autobiographische Anspielung für den Kenner unter den Lesern, sonst aber eine Aussage, die zweierlei konkret bedeutet: die völlige Ahnungslosigkeit des Alten und die Tatsache, daß es nach dem schrecklichen Drama ein anderes Leben gibt.

J.Q. — 15. Dez. 2024

© J.Quack


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