Josef Quack

Koloniale Gesellschaft
"45° im Schatten" (Simenon)




In dem Roman 45° à l’ombre (1936; Paris 2003) wird die Reise eines Linienschiffes geschildert, die von Matadi, Französisch Kongo, der afrikanischen Küste entlang, bis nach Bordeaux führt. Es kommen in dieser Geschichte vier Gegenstände zur Sprache: die Eigenart einer kolonialen Gesellschaft in den dreißiger Jahren; die Frage der Vorherbestimmung des Menschen und des freien Willens; die Grenzen zwischen gesundem und gestörtem Geist; Risiken und Gefahren der Schiffahrt.

Die Aquitaine ist ein Passagierschiff, das auch Ladungen aufnimmt. Auf dieser Fahrt sind 200 weiße Passagiere und 300 Annamiten, Chinesen genannt, an Bord. Der gesellschaftlich bedeutendste Passagier ist Lanchaux, ein reicher Kolonist, dem zwei Provinzen in Äquatorial-Afrika gehören, ein unsympathischer Reisegenosse mit der Neigung, sich ständig zu beschweren: über eine verbogene Antriebswelle, einen Riß im Rumpf, die Schlagseite des Schiffs, die Rationalisierung des Trinkwassers, eine Familie zweiter Klasse, die in der ersten Klasse logiert.

In formaler und thematischer Hinsicht ist Donadieu, 40 Jahre alt, Schiffsarzt, aber die Hauptfigur, weil die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt wird, und die Personen näher beschrieben werden, mit denen er es zu tun hat. Er beachtet vor allem Jacques Huret, 24 Jahre alt, der ein Kleinkind von sechs Monaten hat, zu dem Donadieu zuerst gerufen wird. Es ist nicht eigentlich krank, sondern schwach und unpäßlich, weil es das tropische Klima nicht verträgt. Seinetwegen hat Huret seinen Arbeitsvertrag gebrochen, um nach Europa zurückzukehren. Seine Frau hat völlig resigniert und jede Pflege ihrer selbst aufgegeben. So muß Donadieu sich mehr um die Frau und Huret sorgen und kümmern als um das Kleinkind, das mit dem Klimawechsel aufleben wird.

Ein weiterer Klient Donadieus ist Dr. Bassot, ein geistesgestörter Arzt, der bei größter Hitze einen Mantel trägt. Er wird auf Befehl des Kapitäns in eine feste Kabine eingeschlossen.

Zugestiegen sind auch zwei junge Leutnants und ein Hauptmann der Kolonialarmee, die nun auf Urlaub sind. Mit diesen jungen Offizieren flirtet ungeniert die Frau Bassots. Die vornehmsten Passagiere ist das Paar Dassonville, der Mann ein hoher Angestellter der Eisenbahn, der sich von den Geselligkeiten des Schiffes fernhält, und seine elegante Frau, die mit Huret eine Beziehung aufnimmt, nachdem ihr Mann in Dakar das Schiff verlassen hat.

Bei der Musterung der Chinesen stellt sich heraus, daß zwei von ihnen starkes Fieber haben; es ist Ruhr und sie sterben mit zwei anderen Kollegen. Die Chinesen haben in Afrika beim Bahnbau gearbeitet, sie fahren nun nach Bordeaux, von wo aus sie ein Schiff nach Fernost nehmen.

Es kommt zu einem Skandal, als Lanchaux die Brieftasche gestohlen wird und Hurets Kabine durchsucht wird. Huret beschimpft den Kolonisten aufs schwerste und lehnt es ab, sich zu entschuldigen. Er hält sich abseits und wagt sich nur im Dunkeln auf das Deck. Dabei verunglückt er und bricht sich das Schienbein. Da er nun ein Kranker ist und als solcher betrachtet und behandelt wird, lösen sich alle mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Probleme gleichsam von selbst: „Donadieu hatte gewonnen! Sie sind nicht mehr drei, eingeschlossen in eine Kabine, um schlechte Gedanken wiederzukäuen. / Jetzt haben sich die Dinge arrangiert. Madame Huret konnte einem geschlagenen Mann keine Vorwürfe machen. Huret brauchte nicht mehr heimlich in der Nacht auf dem Deck zweiter Klasse spazieren zu gehen, um Luft zu schnappen, ohne gesehen zu werden. / Er brauchte nicht mehr Frau Dassonville auszuweichen, noch Lanchaux, noch anderen …“ (S.178).

Die kleine Gesellschaft des Schiffes ist als exemplarisch für die große Gesellschaft Frankreichs und anderer Kolonialmächte zu verstehen. Es ist eine strenge Klassengesellschaft, die reichen Besitzenden und die höheren Beamten herrschen unerbittlich über die niedrigen Angestellten. Die Grenze zwischen dem ersten und zweiten Deck ist nur bei Spielen und Maskenfesten überschreitbar.

Es ist eine rassistische Gesellschaft, die Kluft zwischen Weißen und Gelben ist unüberbrückbar. Während die weißen Passagieren ein Fest feiern, stirbt ein Chinese unbemerkt und ohne daß das spielerische Vergnügen der Weißen gestört würde (S.123). Es heißt, aus Klugheit habe man den Chinesen ihr Geld weggenommen und in den Panzerschrank gelegt, um zu verhindern, daß sie es auf dieser Reise verspielten. Sie hatten zusammen ungefähr 300.000 frs. (S.66). Was die Frage aufwirft, ob diese Fürsorge nicht auch eine Art von Bevormundung ist.

Am signifikantesten für diesen Roman und ganz ungewöhnlich für Simenons Selbstverständnis als Romancier sind jedoch die philosophischen Überlegungen, die Donadieu über die Vorbestimmung des Menschen anstellt: „Er fühlte, daß bestimmte Wesen für die Katastrophe gemacht sind wie andere geboren sind für eine lange friedliche Existenz.“ (S.47) Und dieses Vorgefühl hat er, als er Huret sieht – deshalb sein dauerndes Interesse an dessen Verhalten, sein Glaube, daß dem jungen Mann eine Katastrophe drohe (S.74).

Donadieu hat „schon auf dem Gymnasium über das Geheimnis der Vorherbestimmung nachgedacht“ und über den Satz des Lehrers, daß der Mensch in seinen Handlungen frei sei; er verstand aber nicht, „wie der Mensch frei sein könnte, während seine Erlebnisse, Abenteuer (avatars) vorhergesehen seien“ (S.74). Er sagt sich, Huret sei frei in seinen Akten, und erinnert sich an die frühe Sentenz: „Die Absichten der Vorsehung sind undurchschaubar" (les desseins de la Providence sont impénétrables), wobei er „dessein“ als Bilderrätsel mißverstand (S.86).

Donadieu wollte mit seinem Verhalten, „nicht in ihre Existenz eindringen, nicht, um sich Bedeutung zu geben, sondern weil er nicht gleichgültig bleiben konnte gegenüber den Wesen, die vor ihm vorbeizogen, die unter seinen Augen lebten, gegen eine Freude oder eine Katastrophe hingleitend“. Deshalb nannte man ihn scherzhaft „Gottvater“ (S.100). Ihn stört die Entwicklung der konfliktreichen Beziehungen einiger Passagiere wie „das Quietschen eines ungeölten Rades. Er hätte gern einen Daumendruck gegeben, um die Vorsehung auf die gute Bahn zu versetzen.“ (S.148). Er hat zwar eine Katastrophe bei Huret geahnt, nicht die Art seiner Wut bei dem Skandal des Diebstahls. Als er Donadieu das geliehene Geld zurückgibt, handelt er, als verachte er „die ganze Menschheit“ (S.149).

Zu diesem Thema wäre zweierlei sachlich zu bemerken. Simenon beschreibt meistens das konkrete Verhalten der Figuren, ihre unmittelbaren Gefühle und Absichten in einer Situation, aber nur selten stellt er prinzipielle Reflexionen an über das menschliche Verhalten an sich. Die anschauliche Vergegenwärtigung der Erlebnisse ist ihm wichtiger als abstrakte Überlegungen. Ich kenne nur einen anderen Roman, in dem Simenon das philosophische Problem des freien Willens innerhalb der Faktizität des menschlichen Daseins erörtert, Les quatre jours du pauvre homme (Paris 2002,193; cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons, S.182).

Zum Thema selbst wäre zu sagen, daß die Freiheit des Willens insofern mit der Voraussicht oder der Vorbestimmung zu vereinbaren ist, als man annehmen könnte, daß die Entscheidungen und Handlungen des Menschen ja ebenfalls vorausgesehen werden. Donadieu spricht aber mit Recht hier von einem „Geheimnis“. Dies gilt erst recht für die weitere, delikate und höchst umstrittene Frage, wie sich die Mitwirkung des Schöpfers an den Handlungen des Menschen mit dessen Freiheit vereinbaren lasse.

Erzähltechnisch wäre zu diesen Gedanken nachzutragen, daß die Spannung des Romans sich vor allem aus der Frage ergibt, ob und wie die Befürchtungen Donadieus in seiner Rolle als Gottvater schließlich eintreffen oder widerlegt werden.

Ein anderes grundsätzliches Problem ergibt sich für Donadieu bei der Krankheit Bassots. Gelegentlich hat er den Eindruck, daß Bassot nicht wirklich verrückt sei, sondern eine Komödie spiele: „Auf jeden Fall hat er einen gewissen gesunden Verstand bewahrt“ (bon sens) (S.51). Er fragt sich zweifelnd: „Kann man genau wissen, in welchem Grad ein Verrückter verrückt ist?“ (S.97) Seine Diagnose lautet schließlich: „Er war kein Simulant. Sein Fall war eigenartiger. Man könnte sagen, daß er mit Erleichterung einen Anfang von Gehirnstörung bekommen hat und daß er sein Mögliches tat, um sie zu betonen“ (S.98). D.h. er schreibt Bassot die Fähigkeit zu, seine Geisteskrankheit bis zu einem gewissen Grad beeinflussen zu können. In dieser Meinung erkennt man unschwer die humane Einstellung Simenons, der selbst im Geistesgestörten ein respektables menschliches Wesen sehen möchte.

Ein letztes Wort zu der Anspielung auf ein Buch von Joseph Conrad, das Donadieu liest, ein Buch, „dessen Handlung an Bord eines Frachtschiffes spielt“ (S.46). Gemeint ist Taifun, eine Erzählung über ein Schiff, das zweihundert chinesische Kulis an Bord hat, um sie in ihre chinesische Heimat zu bringen. Bei dem schweren Sturm werden die Kisten mit ihren Habseligkeiten und Ersparnissen zerstört, was zu blutigen Streitigkeiten führt. Der Kapitän duldet keine Schlägereien auf seinem Schiff, läßt die Chinesen beruhigen und ihre Dollars einsammeln. Am Ende verteilt er das Geld gleichmäßig an alle, in der richtigen, von den Chinesen geteilten Meinung, daß die einheimischen Beamten das Geld für sich behalten hätten, wenn er ihnen die Verteilung überlassen hätte.

Nachdem der Kapitän für Ruhe bei den Kulis gesorgt hat, gibt er seine humane Absicht zu erkennen: „Wir mußten tun, was recht und billig ist, wenn es auch nur Chinesen sind. Mußten ihnen dieselbe Chance geben, die wir haben, hol’s der Teufel, das Schiff ist noch nicht verloren. Schlimm genug, unten eingeschlossen zu sein, wenn’s draußen stürmt.“ (Conrad, Taifun. Frankfurt 2003, 101).

Die Pointe dieser Geschichte besteht übrigens darin, daß der Kapitän, ein Mensch ohne jede Phantasie, nur die gegenwärtige Situation im Auge, ein einfaches, um nicht zu sagen, einfältiges Gemüt, genau der richtige Mann ist, um das Schiff durch den schwersten Sturm zu bringen. Eine der wunderbarsten Geschichten Conrads, hochdramatisch, aber auch ironisch und nicht ohne Witz, unserer Achtung würdig, um in seiner Manier zu reden.

Simenon ließ sich natürlich von dieser Geschichte zu der Darstellung der chinesischen Passagiere anregen. Daß in seinem Roman ihr Geld vorsorglich verwahrt wird, erinnert offensichtlich an das kluge Verhalten des Kapitäns bei Conrad.

Im übrigen aber sind die Unterschiede zwischen dessen Erzählung und 45 Grad im Schatten gravierend. Conrad beschreibt den Kampf der Seeleute und ihres Schiffes gegen die Gewalten der Natur; die See und der Wind, spielen als Elemente tödlicher Gefahr, in der Erzählung eine größere Rolle als das Verhalten der Seeleute. Der Sturm stellt freilich für sie eine moralische Prüfung, eine Charakterprobe dar.

Bei Simenon aber spielen die maritimen Elemente eine untergeordnete, durchaus nebensächliche Rolle. Einzig die tropische Hitze ist ein natürlicher Faktor, der den Passagieren gewaltig zu schaffen macht, exponiert im Leiden des Kleinkindes. Simenon ist vor allem an dem gesellschaftlichen Aspekt interessiert, dem Verhalten der Männer, Frauen und Kinder in dieser zufällig vereinten kleinen Gruppe verschieden gearteter Charaktere.

Ein Gesellschaftsroman, eine Verurteilung des zeittypischen Kolonialismus, eine einfache Geschichte mit einigen brisanten abstrakten Überlegungen über die conditio humana.

J.Q. — 16. Jan. 2025

© J.Quack


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