Josef Quack

Gegen ein Zerrbild der thomistischen Lehre




Arno Schmidt erzählt von einem Kneipengespräch, in dem eine Frau sagt: „Bei mir ist alles Natur. Mein Vater war Trommler beim Zaren“ – eine völlig unsinnige Gedankenverbindung. Thomas Ruster, emeritierter Theologieprofessor, beginnt seinen Beitrag zum 800. Geburtstag von Thomas von Aquin (Publik-Forum 1/2025, 38-39) mit dem Bekenntnis, daß sein Vater bei der SS gewesen sei, was mit dem Thema seines Aufsatzes nicht das Geringste zu tun hat, aber eine Menge darüber verrät, wes Geistes Kind der Verfasser ist, nämlich, daß klares und konsequentes Denken nicht seine Stärke ist.

In seinem Beitrag fallen drei schwerwiegende formale Fehler sofort ins Auge:

1. Der Autor behandelt auf zwei Seiten einer Publikumszeitschrft die diffizilsten, hochkompomplexen Kernpunkte des christlichen Glaubens, wie Thomas sie angeblich verstanden habe: die Seinsweise Gottes, die strengen Mysterien der Trinität und der Christologie, besonders die Erlösungslehre. Ein solches leichtfertiges Unternehmen ist natürlich alles andere als seriös, man kann es nur feuilletonistisch nennen, Feuilletonismus verstanden als die journalistische Manier, die ernstesten und schwierigsten Themen im ungeeigneten Medium oberflächlich und gefällig anbiedernd dem Leser zu servieren, mit dem Anspruch, über ein tieferes Wissen zu verfügen.

2. Der Autor stellt Thesen auf, die er nicht begründen kann.

3. Er legt Interpretationen der thomistischen Lehre vor, ohne sie mit den Textstellen zu belegen.

Angesichts dieser Sachlage gilt an sich der Grundsatz der vernünftigen Diskussion: Gratis affirmatur, gratis negatur. D.h. was ohne Gründe behauptet wird, kann man ohne Begründung verneinen. Einen unseriösen Aufsatz braucht man nicht ernstzunehmen und ausführlich zu rezensieren. Ich will aber doch einige Punkte besprechen, um die Sicht Thomas von Aquins zur Geltung zu bringen.

Thomas führt in seinen „fünf Wegen“ jeweils den Beweis, daß Gott existiert und schließt jeden Beweis mit den Worten: was bewiesen wurde, ist das, was alle Gott nennen. Ruster bezweifelt, daß alle Christen dem heute zustimmen können. Er bestreitet, daß es Thomas gelungen sei, den metaphysischen Gott mit dem biblischen Gott zu vermitteln. Er zitiert zwei Theologen, die behaupten, daß Gott „mit seinem Handeln als Person ganz in die Kontingenz der Geschichte verwickelt“ sei.

Dazu wäre zu sagen, daß nach den Beweisen und der Grundüberzeugung des Aquinaten der ewige, unveränderliche Schöpfer der Welt auch Herr der Weltgeschichte ist und als solcher natürlich nicht in die Geschichte verwickelt sein kann.

Ruster selbst beschreibt den biblischen Gott, „der oft scheitert, der sich selbst korrigiert, der immer Neues anfängt … Diesen Gott hat eine theologische Gotteslehre zu bedenken. Bei Thomas aber kommt er gar nicht vor.“

Dem wäre zu entgegnen, daß Ruster den Denkansatz von Thomas überhaupt nicht zu kennen scheint. Für Thomas hat die Theologie ein philosophisches Fundament, was bedeutet, daß der Mensch mit seinem natürlichen Licht des Verstandes fähig ist, die Existenz Gottes zu erkennen. Die entscheidende Konsequenz lautet: „Fides praesupponit cognitionem naturalem, sicut gratia naturam“ (Der Glaube setzt die natürliche Erkenntnis voraus, wie die Gnade die Natur) (Summa theologiae I,2,2 ad 1). Zu ergänzen wäre, daß die Gnade die Natur voraussetzt und nicht aufhebt (Summa theologiae I,1,8 ad 2) (cf. J.Q., Ethische Verpflichtung bei Thomas von Aquin, S.48f).

Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, daß der mit der natürlichen Vernunft erkannte, vergeistigte Gottesbegriff maßgeblich ist und die biblische Gottesvorstellung in diesem Sinne interpretiert werden muß. Dies gilt für die Bibelauslegung im allgemeinen, d.h. die Interpretation der Bibel muß sich nach den begründeten Einsichten der natürlichen Vernunft richten, so daß Chesterton nach Thomas feststellen kann, „daß die überlieferte Auslegung jenen erfahrungsgemäßen Forschungsergebnissen, die wahrhaft stichhaltig sind, weichen müsse“ (Chesterton, Der stumme Ochse. Über Thomas von Aquin 1960, 61f.). D.h. Thomas ist kein Fundamentalist, der die Bibel wörtlich nimmt. Er verlangt vielmehr, daß in Fragen der natürlichen Welt die Ergebnisse der Wissenschaft maßgeblich sind und die Bibel in diesem Sinne zu lesen sei.

Ergänzend sei festgestellt, daß Thomas das Alte Gesetz, und implizit das Alte Testament, als eine Lehre versteht, die dem Verständnis des damaligen, gleichsam noch unreifen Volkes angepaßt war. Er deutet die hebräische Bibel im christlichen Sinn und entwickelt für die Auslegung die Theorie des buchstäblichen, metaphorischen und geistlichen Schriftsinns, der dreifacher Art ist.

Ruster vergißt zu erwähnen, daß im Alten Testament eine Entwicklung, d.h. eine Vergeistigung der Gottesvorstellung stattfindet. Zunächst ging es um einen archaischen Gott, der Tieropfer verlangte, während es später um geistige Opfer ging. Dies war die Voraussetzung dafür, daß Thomas nachweisen zu versuchen konnte, daß die Kultvorschriften einen christologischen geistlichen Sinn haben, was Ruster nicht zu wissen scheint.

Außerdem erwähnt er nicht, daß der frühe alttestamentliche Monotheismus nicht die Existenz fremder Götter bestreitet, sondern nur deren Wirksamkeit (Wörterbuch des Christentums 2001,425). Solche Vorstellungen sind natürlich mit dem philosophisch begründeten Gottesbegriff des Thomas und der christlichen Kirche unvereinbar. Es ist unannehmbar, daß Gott scheitern könne, wie die archaisch bestimmte, mythisch naive Vorstellung bei Ruster lautet.

Es ist für diesen Autor bezeichnend, daß er die tiefsten und subtilsten Fragen der Christologie gleichsam hemdsärmlich präsentiert und beantwortet. Er kommt auf die Lehre der zwei Naturen in Christus zu sprechen und fragt: „Wie kann jemand gleichzeitig die göttliche Vollkommenheit und die menschliche Begrenztheit in sich haben?“ Thomas komme zu keiner Lösung, „die menschlich und psychologisch nachvollziehbar ist“.

Ich habe nun nicht die Absicht, den gleichen Fehler wie Ruster zu machen und hier die Christologie auch nur im Umriß darzustellen. Ich möchte nur erwidern, daß Ruster weder den Begriff der Natur noch den Begriff der Person definiert – er erwähnt „Person“ nicht einmal, sondern spricht nur von „jemand“. Wenn er dann behauptet, Thomas habe in dieser Frage keine nachvollziehbare Lösung gefunden, verrät er, daß er offenbar ein heutiges Verständnis von „Natur“ und „Person“ hat. Mit anderen Worten, er hat Thomas mißverstanden und falsch interpretiert. Thomas hat einen anderen Begriff von Natur und Person, als wir sie heute haben.

Zum genauen Verständnis der Christologie will ich nur auf die luzide, begrifflich scharfe Erläuterung von Michael Gorman in den Werkinterpretationen zur Summa theologiae, herausgegeben von Andreas Speer (Berlin 2005, 377-400) hinweisen. Hier findet sich auch eine treffende Antwort auf den von Ruster erhobenen Einwand.

Zeitgenössische Leser neigten, wie Gorman schreibt, „gemeinhin dazu anzunehmen, daß eine ‚Personeinheit‘ zwischen zwei Dingen nur bestehen kann, wenn eine geistige oder psychologische Einheit zwischen beiden besteht. Bei Thomas ist dies schlechterdings nicht der Fall. Er meint daher nicht, daß der menschliche Geist Christi wissen muß, was im göttlichen Geist vorgeht, damit beide zusammen eine Person bilden können.“ (l.c. 384) Damit ist erwiesen, daß Ruster die Glaubenslehre von den zwei Naturen in Christus nicht begriffen hat.

Er spricht dann von der „monströsen Kreuzestheologie“ und behauptet: „Erlösung denkt Thomas wie einen grausamen Ehrenmord“, wie er heute nur noch bei der Mafia „zu finden ist“. Eine völlig abstruse und groteske Behauptung, die mit der Passionstheorie bei Thomas nichts zu tun hat. Allein, daß Christus freiwillig gelitten hat, widerspricht diesem journalistisch auftrumpfenden, skandalösen Vergleich mit einer kriminellen Rachemoral. Thomas schreibt: „Es war nicht notwendig, daß Christus litt wegen einer Notwendigkeit der Gewalt, weder von Seiten Gottes, der Christus zu leiden bestimmt hätte, noch von Seiten Christi, der freiwillig gelitten hat“ (qui voluntarie passus est) (Summa theologiae/ III, 46, 1).

Benedikt XVI. sagte in seinen Letzten Gesprächen (2016, 266): „Die deutsche Universitätstheologie ist sicher in einer Krise und braucht neue Köpfe, braucht neue Energien, braucht eine neue Intensität des Glaubens.“ Ruster ist eine sprechende Bestätigung dieser Diagnose. Sein Artikel über Thomas markiert einen erschreckenden Tiefpunkt des theologischen Denkens in diesem Lande, das einmal, zu Zeiten Guardinis, Rahners, Schliers, Ratzingers, in der Glaubenswissenschaft führend war.

Man würde seine Zeit für nichts und wieder nichts verschwenden, wenn man sich mit den Produkten solcher Geistesgrößen wie Ruster beschäftigen wollte. Man kann hier nicht mal von „falschen Lehrern“ (2 Petr. 2,1) sprechen, da diese immerhin über beachtliche Intelligenz verfügen müssen; sonst wären sie keine geistige Gefahr. In dem beschriebenen Fall kann davon keine Rede sein. Doch sollte ihnen einmal widersprochen werden, damit auch Leser, die Thomas nicht studiert haben, sehen können, wes Geistes Kind der Verfasser ist.

J.Q. — 3. Feb. 2025

© J.Quack


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