In seiner Autobiographie kommt Simenon auf eine wichtige Regel der amerikanischen Gesellschaft zu sprechen. Es wird von jedem Bürger erwartet, daß er sich in die Gemeinschaft einfügt: „Here, you have to belong … Sie müssen dazugehören … Ein Teil werden…“ Die Gesellschaft wird als ein Club betrachtet, dessen Mitglied zu werden, das Ziel jeden Bürgers sein sollte (Intime Memoiren 1982, 440). La boule noire (1955; Paris 1992), Die schwarze Kugel, handelt von einem Mann, der den Ehrgeiz hat, in einen Golf-Club aufgenommen zu werden, der einen höheren Status hat als der gesellschaftliche Rang des Mannes. Sein Antrag wird zum zweiten Mal abgelehnt, was den Mann in eine existentielle Krise stürzt. Die Folgen dieser Brüskierung für das Selbstverständnis des Mannes sind das Thema des Romans.
Gattungstheoretisch betrachtet, ist der Roman ein episches Werk, in dem es im allgemeinen um die vielfach gefährdete Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft geht. Hegel beschreibt den gewöhnlichen Konflikt, der im Roman dargestellt wird, mit gewohntem grundsätzlichem Pathos als den „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegengesetzten Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände“ (Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt 1970, III,393).
La boule noire zeichnet sich nun dadurch aus, daß diese Beziehung nicht nur an einem einzelnen Schicksal dargestellt, sondern auch explizit besprochen wird. In der Geschichte kommt das allgemeine Thema der Gattung zur Sprache, in den Reflexionen und Selbstgesprächen der Hauptfigur.
Die Rede ist von Walter Higgins, 44 Jahre alt, Vater von vier Kindern, Leiter eines Supermarktes in der kleinen Stadt Williamson, Connecticut. Er hat den Antrag gestellt, in den Golfclub aufgenommen zu werden, obwohl er einmal abgewiesen worden war. Doch Bill Carney, ein Apotheker, hat ihn zu dem zweiten Versuch überredet und seine Unterstützung versprochen. Higgins wartet ungeduldig auf den Anruf Bills. Als er spät abends die Ablehnung meldet, ist Higgins zutiefst enttäuscht. Bei der Wahl wurde eine schwarze Kugel als Neinstimme abgegeben. Er schwört Rache gegen alle seine unbestimmten Gegner. In der Versammlung der Schulgruppe, einer Elternvertretung, deren Schatzmeister er ist, nimmt er dann Partei gegen die Oberschicht, personifiziert in den Männern jenes Clubs, und für die Partei der Mittelschicht und Arbeiter, er tritt aus der Schulgruppe aus. Sein mutiges Auftreten verschafft ihm die Achtung seiner ältesten Tochter Florence.
Er geht ungestört seiner gewöhnlichen Tätigkeit nach, erwartet aber eine Katastrophe oder einen Schicksalsschlag. An einem Sonntag erreicht ihn ein Anruf, daß seine Mutter, eine 68jährige demente Frau, Kleptomanin und Trinkerin, aus ihrem Heim in Glendale entschwunden sei. Die Nachricht läßt Higgins vermuten, daß ein Mitglied jenes Club gegen ihn gestimmt habe, weil er sich über diese unwürdige Frau informiert habe. Higgins erfährt dann vom Krankenhaus in Oldbridge, New Yersey, seiner Heimatstadt, daß seine Mutter von einem Bus angefahren wurde und im Krankenhaus liege. Er fährt in drei Stunden in jene Stadt, wo man ihm den Tod seiner Mutter mitteilt. Er arrangiert ihr Begräbnis und begegnet vor dem Haus seiner Kindheit einem alten Bekannten, der ihn, den Nichttrinker, zu einem Glas Wein einlädt. Erschöpft und zutiefst deprimiert fährt er nach Hause, unterwegs sich mit ein paar Whiskeys stärkend. Er kommt erschöpft und krank zuhause an. Seine Situation bedenkend, überwindet er seine Depression und beschließt, so zu leben, daß Bill Carney und dessen Freunde ihn eines Tages auffordern werden, in den Club einzutreten.
Die Geschichte wird aus der Perspektive von Higgins erzählt. Es ist im wesentlichen die Geschichte innerer Erlebnisse, von Überlegungen der Hauptfigur, wie sie mit ihrer existentiellen Enttäuschung fertig werden wird. In einem harten Schnitt wird der Erinnerungsbericht von der Gegenwartsschilderung getrennt (S.177), derart formal die Radikalität der geistigen Einstellung betonend.
Und es ist ein typisch amerikanischer Roman, was dadurch angezeigt wird, daß Anfang und Ende der Geschichte durch eine typisch amerikanische Szene beschrieben werden. Der Roman beginnt damit, daß am späten Nachmittag die Männer der Straße ihren Rasen um das Haus mähen, und die Geschichte endet damit, daß die Hauptperson gegen ihre Gewohnheit und moralische Einstellung, zum Schaden ihres Wohlbefindens Wein und Whiskey trinkt, was an den puritanischen Glauben des Landes erinnert, daß für Amerikaner das Trinken von Alkoholika keine unschuldige Sache ist. Simenon hat in seinen amerikanischen Romanen nie versäumt, auf diesen Punkt hinzuweisen. Nach seiner Beobachtung sind die Amerikaner keine fröhlichen Trinker, sondern meist schuldbewußte Trinker.
Higgins erlebt die Ablehnung durch den Club als seine Zurückweisung durch die ganze Gesellschaft, d.h. als Einsturz seiner bisherigen Existenz: „Einsturz von ihm selbst, in der Summe von Walter J.Higgins wie die Leute ihn kannten und wie er sie kannte, dann gab er sich Rechenschaft, daß dieser da nicht mehr existierte , niemals mehr existieren wird“ (S.35).
Er hat den Eindruck, daß man sie, ihn und seine Familie, für Parias hält, von den anderen verschieden zu sein, gut genug als Verkäufer, aber „unwürdig am sozialen Leben der Stadt teilzunehmen“ (S.62). Als seine Mutter ins Spiel kommt, denkt er: „Er war in einen Kampf gegen die ganze Stadt engagiert, schlug sich auf eine Art dafür, was er als seine Würde als Mensch betrachtete. Aber, der Schlag, der ihn erreichte, kam nicht von den Bewohnern von Williamson, sondern von seiner eigenen Mutter.“ (S.104)
Thematisch wird die Frau in diese Geschichte eingeführt, weil sie bewußt die Gegenposition zur Gesellschaft, ihren Vorschriften und Verboten einnimmt. Als Louisa Fuchs in Hamburg geboren, mit 18 Jahren nach New York eingewandert, als Serviererin und Hoteldienerin sich durchschlagend, einen unzuverlässigen Mann heiratend, sich kaum um ihre beiden Kinder kümmernd, im Alter zur Trinkerin und Kleptomanin geworden, das Heim öfter verlassend, kann man sie, salopp gesagt, nur als asozial bezeichnen. Stehlend und trinkend macht sie sich über die Gesellschaft lustig, eine bewußte, unbelehrbare, überzeugte Außenseiterin der Gesellschaft.
Anderen Sinnes als sie, muß Higgins schmerzlich erfahren, daß er angesehen wird als anderer – „different“ heißt das diskriminierende Wort im Amerikanischen (S.126). Er fühlt sich als Fremder (S.132) und muß erleben, daß er sich nur noch auf sich selbst verlassen kann. Das Beispiel der Außenseiterin spielt aber im Prozeß der Selbsterkenntnis und Selbsterforchung von Higgins doch eine verschwiegene Rolle, die niemals ausdrücklich erwähnt wird. Ihre Opposition zur Gesellschaft bestärkt Higgins mehr oder weniger bewußt in seinem Widerstand gegen die Stadt-Gemeinschaft.
Er erlebt die Leere (le vide), welches von Simenon vielfach gebrauchtes Motiv hier nichts anderes als gesellschaftliche Isolierung bedeutet (S.138). Ein weiteres Leitmotiv Simenons ist der Wunsch, niemals mehr Hunger und Kälte zu erleiden, als Beweggrund für ein Leben in menschlicher Würde (S.136). Auch deutet Simenon wiederum den Gedanken an, daß die Kinder als Zeugen zu betrachten seien, die über ihre Eltern richten (S.54).
Merkwürdig ist die Phase, in der Higgins seine Depression überwindet. Er möchte resignieren und die weitere Entwicklung dem Schicksal überlassen. In den Tagen der Gesundung erstarkt aber sein Lebenswille: „Er würde niemals umkehren und es war nicht unmöglich, daß eines Tages, ihn eine gewisse Zeit beobachtet habend, sie es sein werden, die Carneys und Gesellschaft, die ihn aufzufordern kommen, in den Country Club einzutreten“ (S.187). Man hat Simenon gelegentlich vorgeworfen, daß in seinen Romanen das Schicksal das Geschehen beherrsche (cf. , Leidenschaft im Werk Simenons, S.87f.). Hier sieht man, daß Higgins den Gedanken, dem Schicksal das Weitere zu überlassen, aufgibt, um als er selbst zu handeln.
Zusammenfassend kann man sagen, daß Higgins’ Selbstverständnis zunächst ganz und gar durch die Achtung seiner Mitbürger gegen ihn geprägt ist. D.h. er ist zunächst völlig fremdbestimmt. Die Ablehnung seines Antrags zur Aufnahme in den Club erlebt er als Ausschließung aus der Gemeinschaft und zugleich als Erschütterung seines Selbstverständnisses, als existentielle Einsamkeit, um zu erkennen, daß er nur auf sich selbst zählen kann (S.93). D.h. er muß einsehen, daß er selbst über sein Leben bestimmen muß, nicht die Anderen, die Gesellschaft.
Um mit Heidegger zu reden, Higgins lebte und dachte, wie "man" lebte und dachte. Die existentielle Krise brachte ihm die Einsicht, daß er sich entschied, zu leben und zu denken, wie er selbst es eigentlich wollte. Hier haben wir einen weiteren Beleg, daß Simenons Romane, ihrem geistigen Gehalt nach, zum literarischen Diskurs des zeitgenössischen Existentialismus gehören.
Ein trauriger, hintergründiger, letztlich aber doch ermutigender Roman eines Einzelnen in seiner Stellung gegen seine Gesellschaft. Ein programmatischer Roman, der das Wesen des Menschenbildes bei Simenon einsichtig beschreibt.