In diesem Jahr wird der 800. Geburtstag Thomas von Aquins (1225-1274) gefeiert. Es wäre aber vermessen, über sein riesiges Werk, von dem ich nur einen winzigen Bruchteil kenne, eine Würdigung schreiben zu wollen. Wer eine Würdigung des Aquinaten sucht, ist mit den klassischen, unverändert gültigen Schriften von Chesterton, Grabmann, Gilson, Chenu, Pieper und Kenny bestens bedient. Ich werde auch keinen systematischen Überblick über die Hauptthesen der thomistischen Lehre geben, sondern nur ein paar Gedanken aufzählen, die mich stark beeindruckt und fasziniert haben. Ich meine, daß diese Gedanken den Denkansatz des Aquinaten und die charakteristischen Grundzüge seiner geistigen Physiognomie erkennen lassen. Es war mir immer eine Freude, nachdem mich die Lektüre zeitgenössischer Theologen mit ihren modischen Leerformeln angeödet hat, wieder Thomas zu lesen, seine klaren, gehaltvollen Argumente und Reflexionen.
1. Das natürliche Licht der Vernunft
„Fides praesupponit cognitionem naturalem, sicut gratia naturam, et ut perfectio perfectibile.“ (Der Glaube setzt die natürliche Erkenntnis voraus, wie die Gnade die Natur, und wie die Vollkommenheit das, was vervollkommnet werden kann.) (Summa theologiae I,2,2 ad 1). Zu ergänzen wäre, daß die Gnade die Natur voraussetzt und nicht aufhebt: „Cum enim gratia non tollit naturam, sed perficiat“. (Summa theologiae I,1,8 ad 2).
Damit ist gesagt, daß bei allen Fragen des Glaubens zuerst untersucht werden soll, was sich dazu vom Standpunkt der natürlichen Vernunft sagen läßt. Im Grunde wird damit nichts anderes erklärt, als daß die Theologie ein philosophisches Fundament haben muß.
Auch sieht man, daß nach Thomas der Glaube den mündigen Menschen voraussetzt, der, kantisch gesprochen, sich seines Verstandes zu bedienen weiß – was der Doktrin Bonhoeffers vom mündigen Christen, der dem herkömmlichen Glauben entwachsen sein soll, eklatant widerspricht.
Mit Chesterton gesagt: „Das Vertrauen auf die Vernunft ist der Lebenskern der thomistischen Lehre, während Luthers Lehre von dem gänzlichen Mißtrauen gegen die Vernunft lebt.“ Weiter erklärt er, daß diese Achtung auch dazu führt, daß die Interpretation der Bibel sich nach den begründeten Einsichten der natürlichen Vernunft richten muß. Das bedeutet, „daß die überlieferte Auslegung jenen erfahrungsgemäßen Forschungsergebnissen, die wahrhaft stichhaltig sind, weichen müsse“. In der Konsequenz heißt dies: „Wenn die Angelegenheit ihm und Leuten, die ihm glichen, überlassen geblieben wäre, so würde es nie Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft gegeben haben.“ (Chesterton, Der stumme Ochse. Über Thomas von Aquin 1960, 61f.).
2. Den Glauben verteidigen
Was das Verhältnis von Glauben und Wissen angeht, gilt nach Thomas der erste Grundsatz, daß Aussagen des Glaubens nicht mit Argumenten der natürlichen Vernunft oder der philosophischen Logik bewiesen werden können: „Dahin muß die Absicht eines Christen gehen, wenn er ein Streitgespräch führt: nicht den Glauben zu beweisen, sondern den Glauben zu verteidigen“ (De rationibus fidei 2).
Thomas will die Wahrheit des christlichen Glaubens dadurch aufzeigen, erklären oder kundtun, daß er die Irrtümer über den christlichen Glauben widerlegt: „Propositum nostrae intentionis est veritatem, quam fides catholica profitetur, pro nostro modulo manifestare, errores eliminando contrarios“ (Summa contra gentiles I,c2). (Der Vorsatz unserer Absicht ist, die Wahrheit, die der katholische Glaube verkündet, nach unserem Maß aufzuzeigen, die entgegenstehenden Irrtümer ausscheidend.) Das Schlüsselwort ist hier „manifestare“, sichtbar machen, deutlich zeigen, erhellen. Zu beachten wäre auch die einschränkende Wendung „pro nostro modulo“, nach unserem Vermögen, d.h. soweit wir es durch natürliche Vernunft vermögen. Damit ist die wesentlich apologetische Absicht seiner Lehre doch recht klar ausgesprochen, was einige neuere Umdeutungen nicht mehr wahr haben wollen.
3. Die Vernunft widerspricht nicht dem Glauben
Ein weiterer Grundsatz besagt: „Wiewohl die Dinge des Glaubens nicht bewiesen werden können, so können sie doch nicht durch Beweisgründe widerlegt werden“ (In trinitate 2,1 ad 5). Das folgende Argument beherrscht den Gedankengang des ganzen Werkes, es erklärt, daß „der Wahrheit des christlichen Glaubens die Wahrheit der Vernunft nicht widerspricht“ (quod veritati fidei christianae non contrariatur veritas rationis). Die Begründung lautet: „Principiorum autem naturaliter notorum cognitio nobis divinitus est indita, quum ipse Deus sit auctor nostrae naturae. Haec ergo principia etiam divina Sapientia continet. Quidquid igitur principiis hujusmodi contrarium est, est divinae Sapientiae contrarium; non igitur a Deo esse potest. Ea igitur quae, ex relevatione divina, per fidem tenetur, non possunt naturali cognitioni esse contraria.“ (Summa contra gentiles I,c 7). (Die Erkenntnis der auf natürliche Weise bekannten Prinzipien ist uns von Gott eingegeben, da Gott selbst der Urheber unserer Natur ist. Diese Prinzipien enthält also die göttliche Weisheit. Was immer also den Prinzipien dieser Art widerspricht, widerspricht der göttlichen Weisheit; was aber bei Gott nicht sein kann. Diese Aussagen also, die, von der göttlichen Offenbarung, durch den Glauben behauptet werden, können nicht der natürlichen Erkenntnis widersprechen.)
Kurz gesagt, da die Prinzipien der natürlichen Vernunft und die Offenbarung denselben „auctor“ haben, kann die Wahrheit der Vernunft nicht der Wahrheit des christlichen Glaubens widersprechen. Daraus folgert er im selben Kapitel, daß die „Argumente gegen die Zeugnisse des christlichen Glaubens nicht richtig aus den durch sich erkannten ersten Prinzipien der Natur hervorgehen. Sie haben nicht die Kraft eines Beweises, sondern sind entweder Wahrscheinlichkeitsgründe oder sophistische Gründe; und so bleibt Raum, sie aufzulösen.“ (Summa contra gentiles I, c 7).
4. Warnung vor billigen Argumenten für den Glauben
Thomas hält die These, daß man den Glauben nur verteidigen kann, für so wichtig, daß er geradezu emphatisch davor warnt, den Glauben mit billigen Argumenten beweisen zu wollen – das führe nur zu Spott und Gelächter der Ungläubigen über die Christen: „Utile est ut consideratur, ne forte aliquis quod fidei est demonstrare praesumens, rationes non necessarias inducat, quae praebent materiam irridendi infidelibus existimentibus nos propter hujusmodi rationes credere quae fidei sunt“ (Summa theologiae I,46,2) (Es [d.h. die These, daß der Anfang der Welt nicht bewiesen werden kann] ist nützlich, damit beachtet wird, daß nicht etwa einer, der zu beweisen vorgibt, was zum Glauben gehört, nicht zwingende Gründe anführt, die den Ungläubigen Stoff zum Verlachen bieten, da sie meinen, wir würden wegen derartiger Gründe glauben, was zum Glauben gehört).
Er erklärt, die Vernunftgründe, die zum Beweis für den Glauben angeführt werden, seien meistens nichtig, sie „geben den Ungläubigen Anlaß zum Spott, indem diese meinen, wir gäben den Glaubenswahrheiten unsere Zustimmung um solcher Gründe willen“ (Quaestiones quodlibetales 3,31).
Es braucht nicht gesagt zu werden, daß diese Warnung vor unbedarften religiösen Schriften hochaktuell geblieben ist; es genügt, sich die weitverbreiteten Traktätchen über angeblich Spirituelles anzuschauen. Auch findet man bei den modernen Kritikern des Christentums, Bertrand Russell, Hans Albert, Karl Heinz Deschner, Kurt Flasch, Herbert Schnädelbach, Norbert Hoerster, eben jenen Spott und jene, gelegentlich mitleidvolle Ironie über unbedarfte Theologen, vor denen Thomas gewarnt hat.
5. Definition des Glaubens
Um den folgenden Gedanken verstehen zu können, ist es nötig, zuerst die Definition des Glaubens anzuführen, weil gewöhnlich nicht beachtet wird, daß „glauben“ im christlichen Sinne etwas anderes bedeutet als im umgangssprachlichen Sinne zu „glauben“. Thomas definiert: „Credere est actus intellectus assentientis veritati divinae ex imperio voluntatis a Deo motae per gratiam“ (Summa theologiae II-II 2, 9) (Glauben ist ein Akt des Verstandes, der der göttlichen Wahrheit aufgrund einer Entscheidung des Willens zustimmt, der von Gott durch die Gnade dazu bestimmt wird).
Die Begriffsbestimmung enthält vier Merkmale: die geoffenbarte Wahrheit, die Zustimmung des menschlichen Verstandes, den Willensakt des Zustimmenden und den Beistand der Gnade.
Die letzten beiden Aspekte von „glauben“ aber werden in religiösen oder weltanschaulichen Diskussionen oft übersehen: daß man nur glauben kann, wenn man glauben will und daß ein Glaubensakt im christlichen Sinne nur zustande kommt mit dem Beistand der Gnade. Von „glauben“ im umgangssprachlichen Sinn unterscheidet sich jener Glaubensbegriff dadurch, daß hier die Zustimmung einem geoffenbarten Wort des Schöpfers gilt, während es beim alltäglichen „glauben“ um eine zwischenmenschliche Beziehung handelt – was ein absoluter Unterschied ist, da man an einen Menschen niemals in dem Sinne glauben kann, wie man an Gott glaubt.
Daß aber mit dieser Art von „glauben“ enorme intellektuelle Schwierigkeiten verbunden sind, kommt in dem folgenden Gedanken zum Ausdruck. Es ist der merkwürdigste, ungewöhnlichste, sonderbarste Gedanke, den ich bei Thomas gefunden habe, aufschlußreich für Thomas wie für seine oft mißverstandene Epoche.
6. Der Kritik des Glaubens standhalten
Thomas erklärt, daß es für Wissende (sapientes), d.h. für Intellektuelle, für philosophisch oder wissenschaftlich gebildete Menschen, außerordentlich schwierig ist, im christlichen Sinn zu glauben, und er erläutert diese rationale Schwierigkeit mit einem überaus kühnen Vergleich. Er stellt den Denker, der den religionskritischen Einwänden der Philosophen standhält, auf die gleiche Stufe mit dem Märtyrer, der trotz der Folterungen seinen Glauben nicht aufgibt. Wohlgemerkt, Thomas spricht von den Wissenden seiner Zeit, des Mittelalters, und von den Wissenden der Antike.
Wir müssen also die weit verbreitete historistische Illusion aufgegeben, als sei es in alten Zeiten leichter gewesen zu glauben, als sei die Schwierigkeit, in einem christlichen Sinn zu glauben, ein spezifisch modernes Phänomen. Schwerwiegende intellektuelle Einwände gegen das Christentum gab es zu allen Zeiten, seit es existiert, wie es auch zu allen Zeiten Atheisten gegeben haben mag. Dies ist keineswegs eine Erfindung der säkularen Moderne.
Thomas erklärt wörtlich: „Das, was dem Glauben widerstreitet, sei es in der Überlegung des Menschen, sei es in der äußeren Verfolgung, vermehrt insofern das Verdienst des Glaubens, als der Wille sich eher bereit und fest im Glauben erweist. Und deshalb hatten auch die Märtyrer, die vom Glauben nicht abließen wegen der Verfolgungen, ein größeres Verdienst des Glaubens; und auch die Wissenden haben ein größeres Verdienst des Glaubens, wenn sie vom Glauben nicht ablassen wegen der Einwände der Philosophen und Häretiker, die von diesen gegen den Glauben vorgebracht wurden.“ Der letzte Satz lautet im Urtext: „Et ideo etiam martyres majus fidei meritum habuerunt, non recedentes a fide propter persecutiones; et etiam sapientes majus meritum fidei habent, non recedentes a fide propter rationes philosophorum vel haereticourm contra fidem inductas.“ (Summa theologiae II-II 2, 10 ad 3)
Diese Bemerkung wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf Thomas selbst. Sie verrät nämlich mit dem drastischen Vergleich des glaubenden Intellektuellen mit dem Märtyrer, daß er selbst die rational begründete Einwände gegen das Christentums überaus ernst genommen und als Anfechtungen aufgefaßt hat. Deshalb die Sorgfalt, mit der er die Gegenargumente gegen seine Glaubensthesen jeweils ausarbeitet, zu widerlegen und zu entkräften sucht. D.h. die sachlichen, nüchtern formulierten Gegenargumente hatten für ihn nicht nur eine logisch-rationale, sondern auch eine große existentielle Bedeutung. Im modernen Jargon ausgedrückt, er fühlte sich von ihnen zutiefst betroffen. Sein Denken war alles andere als leidenschaftslos.
Gemeint ist auch: Der begründeten Kritik am Christentum zu widerstehen und am Glauben festzuhalten, erfordert ein großes Maß an Tapferkeit – und den Beistand der Gnade, ein Aspekt, der erst im Lichte dieser Bemerkung eigentlich verständlich wird.
7. Lob des Seins
Der zentrale Gedanke der Lehre des Thomas ist die These, daß die Welt von einem Schöpfer geschaffen wurde. So kann man sagen, daß „natürlich“ für ihn soviel bedeutet wie „geschaffen“, und so kann man als seine Kernidee das Lob des Seins betrachten: „Niemand wird auch nur die Anfangsgründe der thomistischen oder vielmehr katholischen Philosophie verstehen, der nicht begreift, daß ihr wichtigster und grundlegender Teil ein Lobpreis auf das Leben ist, das Lob des Seins, das Lob Gottes als des Weltenschöpfers.“ (Chesterton, S.74f.)
8. Irrtümer über die Schöpfung
Der zentrale Gedanke hat aber weitreichende Folgen für die Erforschung von Welt und Natur: „Errores qui circa creaturas sunt, interdum ab fidei veritate abducunt“. (Irrtümer über die Schöpfung führen zuweilen von der Wahrheit auch des Glaubens ab.) Genauer gesagt: „Offenkundig falsch ist die Meinung derer, die sagen, es sei – im Hinblick auf die Wahrheit des Glaubens – völlig gleichgültig, was einer über die Schöpfung denke, wofern er nur über Gott die rechte Meinung habe: ein Irrtum über die Schöpfung aber wirkt sich aus in einem falschen Denken über Gott.“ Der letzte Satz wörtlich: „Nam error circa creaturas redundat in falsam de Deo scientiam“. (Summa contra gentiles II,3).
Damit aber ist nichts anderes bezeichnet als der religiöse Sinn aller wissenschaftlichen Forschung. Falsche wissenschaftliche Theorien sind falsche Aussagen über die Schöpfung, letzten Endes falsche Behauptungen über den Schöpfer, und so ist die wissenschaftliche Idee der Wahrheitssuche nach strikt wissenschaftlichen Methoden auch religiös begründet.
9. Empirische Erkenntnis
Auch ist man überrascht, bei Thomas eine Bemerkung zur empirischen Forschung zu finden, die höchst modern ist und der Wissenschaftstheorie Karl Poppers durchaus entspricht. Über astronomische Theorien sagt Thomas: „Wenn auf solche Weise auch die Erscheinungen erklärt werden könnten so folge daraus noch nicht die Wahrheit dieser Theorien; denn möglicherweise könnten die Erscheinungen auf eine ganz andere, den Menschen noch unbekannte Weise, secundum alium modum nondum ab hominibus comprensum, gleichfalls erklärt werden.“ (De caelo et mundo 2,17; Nr. 451; zit. Josef Pieper, Thomas von Aquin 1986, 84)
Thomas behauptet also wie Popper, daß es kein sicheres empirisches Wissen gibt, sondern nur ein hypothetisches Wissen. Erfahrungswissenschaftliche Theorien können widerlegt, aber nicht endgültig bewiesen werden.
Manche Kritiker, die über das mittelalterliche Weltbild des Thomas spotten, haben nicht beachtet, daß dieses Weltbild, insoweit es auf empirischen Theorien und Forschungsergebnissen beruht, einen vorläufigen, korrigierbaren Charakter hat.
10. Gutes unterlassen
Thomas ist über die theologischen Fachkreise hinaus vor allem bekannt geworden durch seine Lehre vom sittlichen Naturgesetz und vom irrenden Gewissen, Themen, die ich ausführlich behandelt habe (cf. , Ethische Verpflichtung bei Thomas von Aquin). Hier will ich nur eine Bemerkung anfügen, die wiederum verrät, daß er auch in ethischen Fragen dem gesunden Menschenverstand folgt und vertraut.
Er sagt nämlich: „Das Böse ist auf jegliche Weise zu meiden: darum darf man auf keine Weise Böses tun, damit daraus etwas Gutes erwachse. Das Gute aber soll man nicht auf jegliche Weise tun; darum muß man bisweilen etwas Gutes unterlassen, damit große Übel vermieden werden.“ (Quaestio disputata de correctione fraterna 1 ad 4).
Eine immer aktuelle Maxime der praktischen Vernunft. Wie Politik und Gesellschaft uns vor Augen führen, besteht der Hauptfehler gut meinender Menschen darin, daß sie diese Regel mißachten, blindlings und naiv ihre besten Absichten realisierend, ohne die Folgen zu bedenken. Jener Grundsatz aber ist eine Maxime der Verantwortungsethik.