Josef Quack

Verfehlung des Glücks
"Der Witwer" (Simenon)




In diesem Roman, Le veuf (1959; Paris 1977), Der Witwer, behandelt Simenon ein Thema, das ihm selbst viel bedeutet. Es ist nichts anderes als die Maxime seines Lebens, die er als junger Journalist sich vorgenommen und später oft wiederholt hat: „Wenn es jedem Menschen gelänge, nur einen anderen Menschen glücklich zu machen, dann würde die ganze Welt das Glück kennenlernen“ (Intime Memoiren S.435). Mit Le grand Bob (1954) aber hat er eine Romanfigur geschaffen, der es gelingt, diese Lebensweisheit in ihrem Handeln zu verwirklichen. Bob wiederholt wörtlich Simenons Vorsatz: „Im ganzen genommen, wenn jeder sich um das Glück einer einzigen Person kümmern würde, wäre die ganze Welt glücklich“ (Le grand Bob, Paris 1988, 150) (cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons, S.217f.).

In dem vorliegenden Roman aber erzählt Simenon die Geschichte eines Mannes, dem es trotz seiner besten Absicht nicht gelingt, einen anderen Menschen glücklich zu machen.

Bernard Jeantet, 40 Jahre alt, Zeichner für Zeitschriften und eine Druckerei, hat die Gewohnheit, mittwochs seine Runde bei den Redaktionen zu machen, für die er arbeitet. Als er eines Mittwochsnachmittags gegen sechs Uhr in seine Wohnung am Boulevard St.Denis kommt, findet er seine Frau Jeanne wider Erwarten nicht zuhause. Er fragt die Concierge, die nicht informiert ist, sucht Jeanne vergebens in den Straßen des Viertels, fragt bei der Polizei, ob ein Unfall bekannt ist, der sie betreffen könnte. Er selbst ruft bei vielen Krankenhäusern deshalb vergeblich an.

Er hatte Jeanne, heute 30 Jahre alt, vor acht Jahren in seiner Straße kennengelernt, als sie, ein Strichmädchen, von ihrem Zuhälter an der Wange mit dem Messer gezeichnet wurde. Er nahm sie in seine Wohnung und versorgte ihre Wunde. Sie blieb bei ihm und sie heirateten. Jeanne besorgte den Haushalt, während er in seinem Atelier seiner Arbeit nachging. Sein größter Ehrgeiz war es, ein neues typographisches Alphabet zu schaffen, das seinen Namen tragen würde. Jeanne freundet sich mit Fr. Courvert an, einer älteren Näherin, die über ihnen wohnt und Pierre beherbergt, einen 10 Jahre alten Jungen.

Nach langem Warten erfährt Bernard am Freitag, daß seine Frau in einem Hotel nahe den Champs Elysee Selbstmord begangen habe. Er erkundigt sich, ob sie eine Nachricht hinterlassen habe, was die Polizei verneint, ein Zimmermädchen aber bestätigt. Er benachrichtigt die Eltern Jeannes, die nach Paris kommen und Jeanne in ihrer Heimat, in den Charente-Maritime, beerdigen wollen; habgierig nehmen Jeannes Kleider und ihre Nähmaschine mit sich. Die Nachbarn geben Bernard die Schuld am Tode Jeannes, Frau Couvert klärt ihn auf, daß Pierre ihr Sohn sei und sie gelegentlich ihrem früheren Beruf nachging, um die Kosten für den Jungen aufzubringen. Sie sagt ihm auch, daß sie einen reichen Freund hatte, der ihr Zimmer im Hotel und ihre Kleider bezahlt hatte, Monsieur Jacques. Er erfährt von der Polizei seinen Namen, Jacques Beaudoin, Chef einer großen Elektronik-Firma. Er trifft sich mit ihm, hauptsächlich, um von ihm zu erfahren, was Jeanne wirklich über ihn gedacht hat, und um ihm zu sagen, daß er Pierre adoptieren möchte.

Der erste Teil des Romans ist überschrieben „Die vier Mauern“, gemeint ist die Wohnung, in der Bernard und Jeanne eingeschlossen sind, eine isolierte Sphäre, die auf die Bedürfnisse Bernards zugeschnitten ist. Der zweite Teil heißt „Das Leben der anderen“, gemeint ist das andere, Bernard unbekannte Leben Jeannes und auch der Aspekt, wie er selbst „in den Augen der anderen“ erschienen ist (S.145). Daß er Jeannes Leben nicht kannte, wird ihm zur Last gelegt, weil er eine Frau ohne Vergangenheit haben wollte – mit der Folge, daß er niemals ihr Vertrauen gewonnen hat. Im Kontext der Geschichte muß man folgendes annehmen: Daß er impotent war und von Jeanne davon geheilt wurde, ist nicht nur als physisches Versagen zu betrachten, sondern auch als moralisches Versagen. Ihr Tod ist der Beweis dafür, daß sie unglücklich war – entgegen Bernards besten Absichten.

„Er wollte sie glücklich. Das war seine Hauptsorge. / Nicht aus Egoismus, um sich gut zu fühlen, noch aus Anerkennung. Er hatte das Bedürfnis zu wissen, daß ein Wesen in der Welt ihm sein Glück verdankte“ (S.143) – seine Worte, die Lebensweisheit Simenons fast wörtlich zitierend. Frau Couvert aber wirft ihm vor, daß Jeanne nicht mal versucht habe, bei ihm glücklich zu werden (S.102). Am Ende bringt Jacques Beaudoin dann die Schuld und das Versagen Bernards auf den Punkt: „Sie, Sie haben ihr nichts gegeben. Sie haben von ihr alles verlangt. Begreifen Sie denn nicht, daß ein menschliches Wesen ein anderes Bedürfnis hat, als zwischen vier Mauern den ganzen Tag zu leben, darauf wartend, daß einer, der an andere Dinge denkt, ihr ein Zeichen macht und ihr mit einer zerstreuten Hand den Kopf streichelt?“ (S.184)

Über den Selbstmord Jeannes läßt sich nur sagen, daß er beweist, daß sie unglücklich war – was aber im Grunde keine Antwort auf die Frage nach den näheren, ausschlaggebenden Motiven ist und den Tod letztlich unerklärt läßt. Dies entspricht der Darstellung des Themas in anderen Romanen, wo auch nicht versucht wird, das schlimme Ereignis wirklich aus dem Grunde genau zu erklären. So in La Porte, ein Roman, der eine ähnliche Konstellation der Personen beschreibt: ein Mann, der aus Eifersucht seine Frau unglücklich macht. Ihren Freitod faßt er als Antwort auf die Leere (le vide) auf, die sie umgibt (La Porte, Paris 1977, 186). Mit „le vide“ aber ist bei Simenon die absolute Sinnlosigkeit des Lebens gemeint (cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons, S.237.).

Man begegnet dieser Erklärung schon in der frühen Skizze eines schwierigen Romans, „Les suicidés“ (1934). Sie handelt von einem jungen Paar, das aus Enttäuschung und Verzweiflung, das Leben nicht meistern zu können, beschließt, Selbstmord zu begehen. Bei dem Mann ist die Rede von „einer Art angeborener Ohnmacht, glücklich zu sein (Les suicidés, Paris 1998, 45), und bei der jungen Frau wird „eine in ihr ganzes Sein verbreiteten Traurigkeit“ festgestellt und als Steigerung verdeutlicht: „Sie war nicht traurig, nicht verzweifelt. Es war vielmehr eine Leere (un vide), die sich in ihr bildete.“ (l.c. 134) Damit ist angedeutet, daß die erlebte Sinnlosigkeit buchstäblich das erlebte Nichts ist, das sogar die düstersten Stimmungen der Traurigkeit und der Verzweiflung auslöscht. Wie gesagt, wird dieser Gedanke angedeutet, aber nicht explizit ausgesprochen oder klar reflektiert. Die Deutung des Selbstmordes, so richtig sie ist, bleibt eine Andeutung.

In einem einzigen der mir bekannten Romane hat Simenon versucht, die Tat der Selbstvernichtung aus der Sicht des Täters verständlich und plausibel zu machen, in La fenêtre des Rouet (Paris 1976). Es ist die Geschichte einer verarmten Tochter eines Generals, die die gesellschaftliche Isolierung, die absolute Einsamkeit unter den Menschen erlebt, die das Leben als frühzeitigen „freudlosen Abstieg“ betrachtet und als „Leere“ erlebt. Dieser existentiellen Situation entsprechend will sie sich „auslöschen“ (S.175; 185).

Dies dürfte die genaueste Erklärung der Motive für diese Tat sein, die zu erhalten ist. Genau genommen bleibt der letzte, entscheidende Grund, der spezifisch subjektive Faktor, aber unerforscht. Es gibt nämlich unzählige Menschen, die von der Sinnlosigkeit ihres Daseins überzeugt sind, in ihres Nichts durchbohrendem Gefühl aber nicht daran denken, ihm ein Ende zu machen. Ihre geistige oder weltanschauliche Einstellung läßt sich als Nihilismus bezeichnen, den sie entweder bewußt heroisch, wie Benn, oder gedankenlos und dumpf, wie die meisten sind, dennoch ertragen oder einfach ignorieren.

Jene Romanperson aber gleicht darin Jeanne Jeantet, daß sie ihr Bett mit Rosen umstellt, bevor sie sich zu dem langen Schlaf niederlegt, besorgt um ihr Aussehen in den Augen der andern – eine bezeichnende Geste, ein freundlicher Zug des Charakters Jeannes wie jener Frau.

Die subtilste, aufschlußreichste und menschenfreundlichste Beschreibung des letzten Erlebnisses des fraglichen Menschentyps findet sich aber nicht in einem „schwierigen“ Roman, sondern in Maigret et les vieillards (1960; Paris 1996). Es geht darin um den Versuch, einen Selbstmord als Mord erscheinen zu lassen, und um die Frage, wie die Tat im christlichen Glauben zu verstehen und zu bewerten ist. Zu dem letzten Moment des Täters erklärt ein alter Abbé, Gedanken Pascals aufgreifend: „Nichts beweist uns indessen, daß er seine Geste nicht im letzten Moment bereut hat. Kein Tod ist in den Augen der Kirche augenblicklich. Das Unendliche gibt es in der Zeit wie im Raum und ein unendlich kleiner Zeitraum, der den Maßen der Mediziner entgeht, genügt für die Reue.“ (S.182f.)

Eine höchst ungewöhnliche Sprache für einen Detektivroman und ein weiterer Beleg, daß Simenon gelegentlich in den Maigrets ernstere Themen behandelt als in den „schwierigen“ Romanen. Die mit leichter Hand geschriebenen Unterhaltungsromane geben ihm mitunter ernstere, geistig bedeutendere Gedanken ein als die Werke der höheren Literatur.

Simenon aber hat „Le veuf“, den er im Juli 1959 geschrieben hat, seinem Sohn Pierre gewidmet, der im Mai 1959 geboren wurde, ein anderes Zeichen für die Wertschätzung des Romans durch den Autor.

J.Q. — 24. Feb. 2025

© J.Quack


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