Josef Quack

Amouröses Capriccio im Krieg
"Der Zug" (Simenon)




Le train (1961; Paris 2024), Der Zug, gehört zu den wenigen Romanen Simenons, die von der Kriegszeit berichten. Er erzählt aber im Gegensatz zu vielen anderen Romanen Simenons keine traurige Geschichte, sondern ein Glückserlebnis – ein für Simenon typischer Einfall, der seine nahezu unüberwindliche Abneigung gegen die politische Sphäre verrät. Des weiteren wird das Thema des Schicksals ausdrücklich besprochen, so daß wir es tatsächlich mit einem Schicksalsroman zu tun haben, während sonst dieser Name seinen Romanen meist zu Unrecht gegeben wird. Nicht zuletzt aber gilt es zu beachten, daß Le train eine Ich-Erzählung ist, auch dies eine Seltenheit in Simenons Werk. Was in dem Roman erzählt wird, geht auf das Konto einer Romanperson, nicht auf das Konto eines objektiven Erzählers, eines geübten Schriftstellers.

Als am 10. Mai 1940 die deutschen Truppen in Holland einmarschieren, packt Marcel Féron, 32 Jahre alt, Radiotechniker in Fumay, einer Kleinstadt an der belgischen Grenze in den Ardennen, die Koffer und macht sich mit seiner hochschwangeren Frau Jeanne und der vierjährigen Tochter Sophie auf die Flucht. Am Bahnhof werden seine Frau und das Kind in einen Personenwagen gesetzt, während Marcel mit den Männern und einigen Frauen in einem Viehwaggon unterkommt. Der Zug fährt auf Nebengleisen, um die Hauptlinien den Militärtransporten freizuhalten, und mit vielen Wartepausen, zunächst nach Mézieres, dann nach Reims und Auxerre. Unterwegs werden die drei Viehwaggons an einen belgischen Zug angehängt, so landen sie schließlich in La Rochelle, dem Sammellager für belgische Flüchtlinge.

In dem Waggon bildet sich eine merkwürdige, recht derbe Gemeinschaft, ein schwindelfreier Gerüstbauer besetzt die Schiebetür, um alle äußeren Vorkommnisse zu vermelden. Es kommt zu promiskuitivem Verhalten ohne Scham. Féron lernt Anna kennen, eine 22jährige Frau ohne jedes Gepäck, die aus einem Gefängnis in Namur stammt. Sie nehmen eine intime Beziehung auf, das unverhoffte Glückserlebnis Férons. Einmal wird der Zug von deutschen Flugzeugen beschossen, der Mechaniker der Lokomotive wird getötet. Sonst erreichen sie unbeschadet die Endstation ihrer Flucht, bei den Zwischenhalten werden sie von Krankenschwestern und Pfadfindern mit belegten Broten und Kaffee versorgt. Féron betätigt sich in La Rochelle als eine Art Hausmeister des Lagers. Eines Tages erfährt er durch eine Liste, daß seine Frau in der Geburtsklinik in Bressuire liegt, einer Kleinstadt in der Nähe von Poitiers. Er macht sich sofort auf den Weg und kommt ohne Verzug in Bressuire an, wo ihn Anna endgültig verläßt.

Am Ende erklärt Féron, daß er sein Kriegserlebnis hauptsächlich deshalb aufgeschrieben hat, damit seine Kinder, wenn sie erwachsen sind, erfahren können, daß er nicht nur ein normales Leben als Bürger geführt hat, sondern auch einmal einer wahren Leidenschaft fähig war (S.152).

Zu Beginn des Berichts besteht Féron darauf, sofort zu erklären, daß er „kein unglücklicher Mann sei, noch ein trauriger Mann“: „Ich befinde mich im Aufstieg, in allen Plänen, die ich machen konnte, in allen meinen Hoffnungen“ (S.9). Weiter sagt er, daß er anfangs wenig Chance hatte, ein normales Leben zu führen, noch weniger sich eine günstige Situation zu schaffen und eine Familie zu gründen: „Ich bin inzwischen ein glücklicher Mensch geworden, daß man dies gut in seinen Kopf setzt …“ (S.14).

Dies ist bezogen auf den Hintergrund seiner extrem unglücklichen Kindheit und Jugend. Seine Mutter hat ihn nach dem Ersten Weltkrieg unter schimpflichen Umständen plötzlich verlassen, sein Vater kam als Trinker aus dem Krieg zurück, Marcel war zwischen seinem 14. und 18. Jahr in einem Lungensanatorium. Er galt als „aufgegebenes Kind“ (S.70). Er hat es aber geschafft, ein normales Leben aufzunehmen – das ist hier mit Glück gemeint, der Gegensatz zu dem Elend der Jugend, und durchaus glaubwürdig geschildert.

Dagegen steht die Affäre mit Anna, im besonderen die Schilderung eines Aufenthalts unter einer Tanne neben einem kleinen Bahnhof: „Wenn ich den Ort beschreiben müßte, könnte ich nur von den Flecken des Schattens und der Sonne sprechen, dem Rosa des Tages, dem Grün des Weinbergs und der Johannisbeersträucher, von meiner Erstarrung, einem animalischen Wohl-Sein und ich frage mich, ob, an diesem Tag dort, ich nicht so nahe wie möglich an das vollkommene Glück gekommen bin.“ (S.99)

Im gleichen Sinne heißt es: „Jeden Tag, der verging, verzehrte sich mein mageres Glückskapital. Das ist nicht das genaue Wort. Da ich kein anderes finde, da die Menschen immer vom Glück sprechen, bin ich gezwungen, mich auch mit diesem Wort zu begnügen.“ (S.129) Féron ist sich bewußt, daß ihm das passende Wort fehlt, um seinen Glückszustand zu beschreiben. Das heißt aber auch, daß er irgendwie spürt, daß er nicht angemessen oder treffend sagen kann, wie er sein Zusammensein mit Anna empfindet oder innerlich erlebt. Mit anderen Worten, diesem Erzähler ist es nicht gegeben, seinen Glückszustand glaubwürdig zu schildern. Es ist eine Kunst, die nur den größten Schriftstellern auszuführen gelungen ist, eine Kunst, die man nicht von einem literarischen Laien, einem Radiotechniker, verlangen kann. So ist die Wahl des Erzählens in der Ich-Form gerechtfertigt.

Dem entspricht, daß die Stärke des Romans darin liegt, daß er eine getreue Reportage der Flucht und ihrer Umstände durch halb Frankreich ist. Diese Art der Schilderung ist eine Sache, die man einem Mann, der kein Romancier ist, schon eher zutrauen kann. Übrigens beruht die Schilderung über das Lager in La Rochelle auf persönlichem Erleben. Simenon war 1940 als Hochkommissar verantwortlich für die Versorgung der belgischen Flüchtlinge.

Erstaunlich ist nun, daß Férons Reflexionen über das Schicksal durchaus glaubwürdig und verständlich sind – sie sind seiner Mentalität, der Denkart eines gewöhnlichen Menschen, angepaßt. Er erklärt zu Beginn der Flucht, von den konkreten politischen Umständen absehend: „Dieser Krieg, der plötzlich nach einer falschen Befriedung ausbrach, war eine persönliche Sache zwischen dem Schicksal und mir.“ (S.14) Die Abfahrt war für ihn „die Stunde der Begegnung mit dem Schicksal, die Stunde einer Begegnung, die ich seit langem, seit immer mit dem Schicksal hatte.“ (S.26) Konkret meint er, daß die Flucht im Krieg mit der Trennung von der Familie die Voraussetzung für seine Affäre mit Anna geschaffen hat – das meint er mit der Schicksalsfügung (S.54). In einem Augenblick glücklichen Erlebens fragt er: „Habe ich mich getäuscht, denkend, daß ich ein Rendezvous mit dem Schicksal hatte?“ (S.75)

Nach dem Waffenstillstand, der Niederlage Frankreichs, weitet sich jedoch der Blick des Erzählers, wenn er von einer abgelaufenen Epoche und der Unsicherheit der Zukunft spricht: „Nicht nur unser Geschick steht auf dem Spiel (notre sort), sondern das der Welt, von der wir einen Teil bilden.“ (S.137)

Zur Intention des Erzählers, warum er diesen Bericht schreibt, wäre zu sagen, daß er seinen Kindern eine Wahrheit über sich mitteilen will, die sie nicht kennen können – fähig für eine Leidenschaft gewesen zu sein (S.152). Er faßt seine Kinder als Zeugen auf, die über die Eltern urteilen – ein Motiv, daß Simenon anderswo sachgerecht und gebührend ausführlich behandelt hat, so in Le fils (1956) und in Le confessional (1966; cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons, S.249f.)

Die Affäre mit Anna Kupfer, eine Tschechin, aber hat ein trauriges Ende. Sie wird ein dreiviertel Jahr später im Gefängnis von Mézieres als Spionin mit einem Engländer erschossen, wie Féron kommentarlos berichtet (S.156).

So fällt denn doch ein Schatten auf das Glückserlebnis des Erzählers und der Roman hat einen Schluß, der dem unbeirrbaren Realismus des Autors entspricht. Dem Leser aber bleibt, die Frage zu beantworten, welchen Schriftstellern in der gesamten Weltliteratur es denn jemals überhaupt gelungen ist, Momente des Glücks glaubwürdig zu schildern.

J.Q. — 29. April 2025

© J.Quack


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