Josef Quack

Gruppenbild mit Flüchlingen
"Der Clan der Leute aus Ostende" (Simenon)




Der Roman Le clan des Ostendais (1947; Paris 2011) beruht anfangs auf einem persönlichen Erlebnis Simenons. Er wurde im Mai 1940 zum Hochkommissar in La Rochelle für die belgischen Flüchtlinge ernannt mit dem Auftrag, für ihre Unterbringung und mögliche Arbeit zu sorgen. Seine erste Aufgabe war, vier Fischdampfer aus Ostende, die in den Hafen von Ostende gelandet waren, in einen anderen Hafen zu verlegen. Es gelang Simenon, der noch ein wenig Flämisch sprach, nach einem langen Palaver den Kapitän davon zu überzeugen, daß sie Ostende verlassen müßten. In seinen Intimen Memoiren (1982, 103ff.) ist ihm allerdings ein Erinnerungsfehler unterlaufen. Er schreibt, die Fischdampfer seien in dem kleinen Hafen von Charron vor Anker gegangen. Im Roman heißt es richtig, daß der Clan mit Kind und Kegel zwar nach Charron, einem Dorf 19 km von La Rochelle entfernt, gebracht wurde, die Schiffe jedoch in den Hafen von La Pallice verlegt wurden.

Übrigens heißt es auf der Rückseite der französischen Ausgabe, die fünf Fischdampfer seien aus den Niederlanden gekommen. Ostende aber liegt in Belgien.

Le clan des Ostendais ist neben Le train der einzige Kriegsroman Simenons. Er beschreibt darin die Zustände in der Gegend von La Rochelle während der ersten Wochen nach der Eröffnung der Westfront durch die Deutschen. Am letzten Sonntag im Mai 1940 landen fünf Fischdampfer aus Ostende gegen jede Regel im Hafen von La Rochelle. Die städtischen Ämter sind unbesetzt und, als zufällig ein Beamter vorbeikommt, um die telefonische Nachricht entgegenzunehmen, ist er ratlos, da die Verantwortlichen nicht zu erreichen sind, auch spricht er kein Flämisch. Schließlich findet sich eine Krankenschwester, Frau Berthe, die flämisch spricht und die Verhandlung zwischen dem französischen Offizier und dem Chef des Clans, Omer Petermans, einem fünfzigjährigen Koloß, übersetzt. Omer stimmt schließlich zu, daß seine Leute nach Charron mit ihrem gesamten Hausrat gebracht und die Schiffe nach La Pallice verlegt werden.

In Charron kommen sie in einer verlassenen Gendarmerie und den Nebengebäuden unter, die sie sofort säubern und bewohnbar machen. Sie verweigern aber jede Hilfe und Nahrung von den Dorfbewohnern. Petermans erreicht es durch seine Hartnäckigkeit, daß sie mit den Schiffen zum Fischen auslaufen dürfen. Als er zurückkehrt, stellt er eine Kiste mit Fischen vor das Empfangszentrum in La Rochelle und vor das Bürgermeisteramt in Charron ab. Die Leute von Charron lassen jedoch die Fische verfaulen. Das ändert sich in der Folge, als das Dorf von Flüchtlingen überlaufen wird und Lebensmittel rar werden. Nun muß die Verteilung der heftig begehrten Fische durch den Feldhüter überwacht und geregelt werden. Zunächst besteht zwischen den Flamen und den Einheimischen eine unüberwindlich scheinende Spannung, die erst allmählich so weit abgebaut wird, daß die Flamen die Geschäfte des Ortes besuchen. Auch gibt es Konflikte zwischen den reichen Flamen und ihren ärmeren Landsleuten.

Der selbstbewußten Frau Omers, „die dicke Maria“, gelingt es durch ihre resoluten Vorstellungen bei den Ämtern in La Rochelle, gegen den Willen der Eigentümerin, ein leerstehendes Haus für sich und ihre Töchter zu mieten. Sie kann später auch das Haus gegen andere Flüchtlinge verteidigen, die ebenfalls einziehen wollen.

Bei den Fischtouren verliert Petermans drei Schiffe, die auf Minen gelaufen sind. Dabei kommen zwei seiner Söhne um. Als die Deutschen das Dorf besetzen, wird er zur Vermittlung herangezogen, weil er ein wenig deutsch spricht und sich mit Hilfe eines Wörterbuches auch auf französisch verständigen kann. Er kann sich einen Lieferwagen besorgen und erhält die Erlaubnis, weiter zum Fischen auszulaufen. Er pflegt absichtlich die Verbindung mit den Offizieren der Besatzung, um seinen geheimen Plan ausführen zu können: die Ausfahrt mit allen seinen Leuten mit dem Ziel, das freie England zu erreichen. Nach sorgfältigen Vorbereitungen, dem unbemerkten Transport der beweglichen Habe auf die Schiffe in La Pallice, kann er schließlich eines Nachts auslaufen und seine Leute an einem anderen kleinen Hafen an Bord nehmen. Sie erreichen unbehelligt die Küste Englands.

Le clan des Ostendais ist ein Gesellschaftsroman im strengen Sinn. Die Hauptfigur der Erzählung ist nicht ein einzelner Mensch, etwa Omer, sondern eine Gruppe von Menschen, der Clan der flämischen Flüchtlingen in einer fremden, abweisenden Umwelt, in einer ungewöhnlichen Zeit, den Wochen des Kriegsbeginns. Dazu stimmt, daß Omer Petermans zwar das unbestrittene Haupt seines Stammes ist, jedoch in vielen Episoden des Romans überhaupt keine Rolle spielt.

Zudem beschreibt der Roman die öffentliche Situation und die Atmosphäre dieser Kriegswochen mit größter Intensität. Das unaufhörliche Klingeln des Telefons in der leeren Amtsstube am Sonntag zu Beginn des Romans ist das beherrschende Symbol der Ratlosigkeit der Behörden angesichts der ungewohnten Ereignisse. Kennzeichnend sind auch die widersprüchlichen Informationen über die gemeldeten und tatsächlich fahrenden Züge. Nicht weniger unbestimmt sind die politischen Meldungen im Radio über den Verlauf der Front und den Vormarsch der Deutschen, Kapitulation oder Weiterkampf Belgiens.

Des weiteren kommt ein großes Leitmotivs Simenons in seiner elementaren Form zur Sprache: die Frage, ob man einen anderen Menschen wirklich verstehen kann. Es ist bekanntlich die Hauptsorge Maigrets. Hier aber herrscht fast durchgehend Verständnislosigkeit, verursacht durch die Sprachbarriere. Die Flamen sprechen kein Französisch, die Franzosen kein Flämisch, beide Gruppen sprechen kein Deutsch. Ein Großteil der Spannungen zwischen den Flüchtlingen und den Dorfbewohnern resultiert aus der Unkenntnis der Sprachen. Hinzukommt die Fremdheit der Mentalität der Flamen, die sich nicht wie bedürftige Flüchtlinge verhalten, sondern wie eine eigenständige Gemeinschaft.

Dem entspricht dann auf persönlicher Ebene die unerschütterliche Schweigsamkeit Omers, der sich gegenüber den Franzosen auf keine Diskussion einläßt, sondern auf seinen Absichten besteht. Er weiht selbst seine Frau nicht in seine Pläne ein. Er ist ohne Zweifel eine der großen Mannsfiguren im Werk Simenons, vergleichbar dem Präsidenten, dem Vater in Le fils, dem Helden in den Glocken von Bicêtre ( cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten). Seine Souveränität wird dadurch unterstrichen, daß er nur von außen geschildert wird – bis auf die Schlußszene, in der besprochen wird, daß er so gehandelt hat, wie es seine Pflicht war. Dagegen wird seine Frau, die nicht weniger resolute „dicke Maria“ durchaus aus der Innenperspektive beschrieben.

Gegen diese Merkmale des Romans moniert Stanley Eskin, daß die Handlung sich nicht genug um das zentrale Thema ranke, „den beinahe epischen Willen Omers …, seine Leute sowohl vor den Deutschen als auch vor den ungastlichen französischen Einheimischen zu bewahren“ (Eskin, Simenon 1999, 288).

Eskin übersieht, daß Omer nicht der Mittelpunkt des Geschehens ist, sondern sein Clan, und Eskin hat nicht erkannt, daß der Roman sich in vielem der epischen Form sich nähert. Ein episches Werk aber hat die folgenden Eigenschaften: Es hat eine episodische Struktur, keine einsträngige dramatische Handlung. Es hat eine „gewisse sinnliche Breite“, worauf Goethe und Schiller bestehen. Es hat einen gemächlichen Rhythmus, seine Personen haben immer Zeit. Schließlich hat es eine überindividuelles, politisches, gesellschaftliches Thema im Gegensatz zu dem psychologischen Roman, der die persönlichen Themen des einzelnen Menschen darstellt und bespricht ( cf. J.Q., Geschichtsroman und Geschichtskritik, S.173f.).

1. Der Clan der Leute aus Ostende beginnt mit der Ankunft der flämischen Schiffe in La Rochelle, es folgt die Episode der Verhandlungen zwischen Franzosen und Omer, dann folgt die Übersiedlung der Flamen nach Charron, ihre Abendmahlzeit, begafft von den Dorfleuten; der Besuch der französischen Lehrerin Delaroche bei den Flamen, ihnen die Impfung empfehlend; Omers Verhandlung, wieder fischen zu dürfen; die dicke Maria mietet ein Haus; die junge Maria hat nachts eine Krise; Omer macht sich auf die Suche nach einer Hebamme; die Vorbereitung der Flucht; die Flucht und Ankunft in England.

Es ist typisch, daß diese Episoden meistens durch einen harten Schnitt getrent und nur selten durch verbindende Worte angegliedert sind. Beschrieben wird eine genau abgehobene Folge von einzelnen Ereignissen, die eine gewisse Selbständigkeit beanspruchen.

2. Die sinnliche Breite oder die sinnliche Realistik des Romans kommt in der Beschreibung einer genau beobachteten Bahnhofszene inmitten der chaotischen Zustände der Flüchtlingsströme schönstens zum Ausdruck: „Rollten die Züge noch? Der Bahnhofsvorsteher wußte davon nichts. Tausende Individuen bestürmten ihn, lagerten in den Wartesälen und auf den Bahnsteigen, mit dem leeren Blick, der zu den Menschen kommt, wenn nichts mehr nach den Regeln geschieht, wenn alles möglich ist, wenn man selbst nicht mehr versucht, vorauszusehen oder zu reagieren“ (S.131).

Der epischen Breite entspricht die Erzählweise, ein auktorialer Erzähler beschreibt objektiv die Ereignisse und zwar bewußt häufig aus der Vogelperspektive (S.102). Daß dabei die äußere Figur Omers genau geschildert wird, seine massige Gestalt, seine Kolossalität, versteht sich fast von selbst. Das Gegenbild ist die magere Figur der jungen Mina, die den Männern nachläuft. Nicht zu vergessen, der gelähmte statuenhafte Großvater in seinem Sessel mit der langen Pfeife im Mund, der wie eine Stammesfigur vom Schiff zum Haus, vom Haus zum Boot und Schiff transportiert wird.

3. Was die Zeit angeht, so beginnt die Handlung Ende Mai 1940 und dauert bis Mitte Juli. Der genaue Verlauf wird nicht angegeben, gelegentlich heißt es, daß die Flamen eine Woche auf dem Meer waren oder 12 Tage (S.96; 127). Omer handelt nicht unter Zeitdruck, sondern wartet geduldig den günstigsten Augenblick ab, um die Anker zu lichten.

4. Das Thema des Romans ist natürlich der Krieg und seine Folgen für die Flüchtlinge und die Einheimischen. Was aber das Verhalten der Flamen angeht, so ist ihr Ziel nicht die mögliche Rückkehr ins besetzte Ostende, sondern die schwer zu erreichende Freiheit in einem freien Land, ein prinzipiell politisches Thema, das mit einem einzigen Wort am Ende explizit genannt wird: „Es gab an Bord welche, die erwachend in die Sonne lachten, die endlich die Sonne der Freiheit war“ (S.217). Dieses einzigartige Bekenntnis zu einem hohen politischen Ideal ist aber bemerkenswert bei einem Romancier, der im übrigen ein Verächter der Politiker und ihrer Sphäre ist.

Schließlich wäre noch eine zweideutige Arabeske zu erwähnen. Maria spricht von dem „frappierendsten Bild des Heroismus ihres Mannes“ und meint damit sein freundliches, geselliges Verhalten gegenüber dem deutschen Hauptmann (S.202). Was wie eine Art der Kollaboration zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine List, um die Flucht zu ermöglichen. Das heißt, nicht alles, was wie eine Kollaboration aussieht, ist eine Zusammenarbeit mit dem Feind. So der indirekte Kommentar des Autors zu diesem Thema, des heißesten politischen Eisens in Frankreich im Krieg.

Man wird den Clan des Ostendais zu den Meisterwerken Simenons rechnen dürfen.

J.Q. — 2. Juni 2025

© J.Quack


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