L’escalier de fer (1953; Paris 2022), Die Eisentreppe, ist einer der schwärzesten, bedrückendsten, aber auch problematischsten Romane, die Simenon je geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der von seiner Frau langsam vergiftet wird, sie aber nicht verlassen und dennoch leben will. So steht Simenon vor der Aufgabe, glaubhaft zu machen, daß eine seelische Disposition möglich ist, die Absichten miteinander zu verbinden vermag, die sich zu widersprechen scheinen. Gezeigt werden muß auch, daß es tatsächlich gemischte Gefühle gibt. Dies erzählend zu erklären ist ein langwieriges Unterfangen und man kann dem Roman eine gewisse Eintönigkeit nicht absprechen.
Im einzelnen spielt das Thema der Einsamkeit, ein Leitmotiv in Simenons Werk, hier eine tragende Rolle, und nicht zuletzt wird das Problem indirekt berührt, ob Mord und Selbstmord austauschbare Taten in dem Sinne sind, daß sie für den Täter den gleichen Zweck erfüllen. Eine höchst originelle Idee Simenons, die er gegen kritische Einwände lebhaft verteidigt hat.
L’escalier de fer wurde im Mai 1953 auf der Shadow Rock Farm, Lakeville (Connecticut) geschrieben, einer glücklichen und zufriedenen Zeit Simenons. Für dieses Buch gilt offensichtlich das Wort des Autors: „Ich schrieb viele Romane, aber man würde vergeblich etwas von einer momentanen Verfassung suchen, selbst wenn man ‚zwischen den Zeilen liest‘, wie einige Kritiker“ (Intime Memoiren 1982, 516) D.h. Simenon stellt in diesem Roman nicht persönliche Erlebnisse dar, er schrieb ihn vielmehr, um ein paar sachliche literarische Probleme zu lösen.
Étienne Lomel, 40 Jahre alt, ist mit Louise Gatin, geb. Birard, 46 Jahre alt, seit 15 Jahren verheiratet. Sie besitzt ein Papiergeschäft mit drei Angestellten. Er hat sie als junger Vertreter einer Papiergroßhandlung kennengelernt und nach dem Tod ihres ersten Mannes, Guillaume Gatin, geheiratet. Nun ist Étienne Vertreter für das Geschäft seiner Frau. Vom Papierladen führt eine Eisentreppe in den ersten Stock direkt in ein Schlafzimmer, in dem Étienne sich während einer gesundheitlichen Krise aufhält und von seiner Frau überwacht werden kann. Er schreibt die Daten seiner Krisen auf, wie ihm ein Arzt geraten hat, und versteckt sie in einem Buch über Käfer.
Im Oktober vermutet er, daß er mit Arsen vergiftet wird. Er gewöhnt sich daran, nach einer verdächtigen Mahlzeit zu erbrechen. Ein Arzt bestätigt ihm, daß sein Körper ungewöhnliche Spuren von Arsen enthält. Étienne beschattet seine Frau und entdeckt, daß sie heimlich gewisse Briefe erhält. Dann überrascht er sie, wie sie sich mit Roger Cornu trifft, dem jungen Sohn von M. Théo, dem Drucker ihres Papierladens. Étienne kauft sich einen Revolver und lauert eines Abends Roger vor seinem Hotel auf. Als Roger auftaucht und ihn begrüßt, läßt er ihn unbehelligt passieren. Wenig später erschießt er sich selbst.
Das Verhältnis zwischen Étienne und Louise ist eine Beziehung der Leidenschaft, und Étienne wußte seit 16 Jahren, das sie ihren ersten Mann vergiftet hatte, um ihn, Étienne, heiraten zu können (S.108). Das Bild des kranken, stark abgemagerten Mannes, der noch drei Monate vor seinem Tod gepflegt wurde, bestimmt Ètiennes Verhalten (S.80). Er ist sich aber seiner Schuld bewußt: „Er begehrte nicht auf. Er hatte immer gewußt, daß eines Tages etwas Schreckliches geschehen würde und war sich bewußt, daß er es verdient habe. Er hatte damals geschwiegen, im vollen Bewußtsein der Ursache, und, selbst wenn bestimmte Worte nicht ausgesprochen wurden, er war ebenso schuldig wie Louise.“ (S.178)
Sie hat ihn gewählt und verführt, er ist durch ihre Leidenschaft an sie gebunden, „so daß er in der Folge unfähig ist, auf sie zu verzichten“ (S.124). Mit anderen Worten bedeutet dies in der konkreten Situation: „Er wollte nicht sterben. Er wollte auch nicht weggehen. Er hatte nichts anderes in der Welt als Louise.“ (S.l08) Dem entspricht, daß das Privatleben des Paares praktisch nur darin besteht, daß sie sich jede Woche mit einem befreundeten Paar, Arthur und Mariette Leduc, zum Essen und zum Kartenspiel treffen.
Étiennes Leben und das seiner Frau, ebenso sein Verhalten in der gegenwärtigen Krise ist dadurch bestimmt, daß sie einsame Menschen sind. Er hatte niemals einen Freund und keine Beziehungen zu einer Frau: „Immer war er ein Einsamer gewesen, und die Leute verachten die Einsamen (les solitaires), ohne sich nach dem Grund ihres Verhaltens zu fragen.“ (S.104) Ähnliches läßt sich von Louise sagen: „Sie waren zwei Einsame gewesen, die, bestrebt, immer tiefer ihre Einsamkeit auszuhöhlen, ihr Universum auf ihr Appartement, auf ihr Zimmer, auf ihr Bett beschränkt hatten, verzweifelt gegen die Unmöglichkeit kämpfend, sich vollständiger einen mit dem anderen zu vereinen, als es einem Männchen und einem Weibchen erlaubt ist.“ (S.179)
Diese Disposition, die Furcht, ganz und gar zu vereinsamen, den einzigen Menschen zu verlieren, mit dem er verbunden ist, kann Étiennes Entscheidung und seine Nachsicht gegenüber seiner Frau bis zu einem gewissen Grad erklären: „Er hatte entschieden zu leben. Er wollte auf die gefaßte Entscheidung nicht zurückkommen. Er hatte auch entschieden, Louise zu behalten.“ (S.179)
Diese Einstellung gegenüber dem Menschen, der ihn vergiften will, erinnert an das Paradox der Leidenschaft, die nach Simenons Erfahrung gelegentlich mit Gewalt verbunden sein kann. Nach ihrer ersten intimen Begegnung, einer wilden, heftigen Umarmung, heißt es: „Sie betrachteten sich danach wie Unsinnige, ohne zu wissen, ob es Bosheit oder Liebe war, das ihre Augen ausdrückten.“ (S.86) Ein Musterbeispiel gemischter Gefühle. Ebenso das Erleben, als er sich fragt, ob seine Entscheidung, konkret, Roger zu töten und bei Louise zu bleiben, die richtige Lösung sei: „Er war zugleich froh und traurig.“ (S.155) Simenon hat andernorts die Differenz zwischen echter Liebe und Leidenschaft als Exzeß genauer beschrieben (, Leidenschaft im Werk Simenons, S.145f.).
Dagegen spielen Emotionen keine Rolle, was die Ermordung Rogers angeht: „Es war keine Rache, die er vollzog, er hatte keinen Haß, gegen ihn, nicht mal Zorn.“ (S.190) Ihm fehlte dann aber die Kaltblütigkeit, die Tat zu vollziehen. Der Selbstmord wurde darauf zum Ersatz für den geplanten Mord.
Simenon hatte den umgekehrten Fall anläßlich des Romans L’ours en péluche (1960; Der Plüschbär) geschildert, wo ein Mann statt sich zu töten, einen Mord begeht, der Mord also ein Ersatz für einen Selbstmord ist. Simenon war der Meinung, daß diese Ersatzlösung hinter vielen Morden und Verbrechen aus Leidenschaft stecken könnte (Simenon, Als ich alt war 1989, 152; cf. , Über Simenons traurige Geschichten, S.77)
Simenon hat sich oft auch über das Problem der Einsamkeit ausgesprochen. Der große Menschenkenner kann nicht verstehen, daß Menschen von sich aus einsam sein wollen. Sie sind ihm immer verdächtig vorgekommen, wie auch seinem Kommissar Maigret, der erfreut ist, als er im Leben eines kriminellen Einzelgängers auch eine Frau entdeckt (Maigret et le voleur paresseux, Paris 1961,157; Maigret und der faule Dieb). Es ist eine Überzeugung des Simenonschen Menschenbildes, daß die Einsamkeit, in welcher Form auch immer, die am schwersten zu ertragende Bedingung der menschlichen Existenz ist (cf. , Die Grenzen des Menschlichen, S.66f.).
Noch ein Wort zur Erzählweise unseres Romans. Er ist bis auf die letzten Sätze aus der Perspektive Étiennes erzählt, was dem Text eine gewisse Intensität verleiht. Zu erwähnen ist eine große Rückblende, in einem Café sitzend erinnert Étienne sich an vergangene Erlebnisse (S.117-130). Der Erinnerungsbericht wird ohne jede Überleitung und ohne jeden Absatz, weder zu Beginn noch am Ende, eingefügt, zwei harte Schnitte wie eine filmische Montage, die die Aufmerksamkeit des Lesers an die Gedanken der Romanfigur fesseln. Damit wird ein gewisser Ausgleich gegenüber der grauen Eintönigkeit der thematischen Erörterung geschaffen. – Die filmische Montage im Roman erklärt sich übrigens aus der fundamentalen Eigenart des Erzählens (cf. , Geschichtsroman und Geschichtskritik, S.22f.).
Zugunsten der tristen Geschichte sei noch erwähnt, daß eine gewisse Spannung dadurch entsteht, daß Ètienne seine Entscheidung mehrmals erwähnt, ohne aber zu sagen, worin sie genau besteht. Es bleibt dem Leser dann überlassen, herauszufinden, wie seine Absicht denn psychologisch überhaupt möglich sein kann.
Der Roman hat übrigens auch einen prominenten Bewunderer gefunden. Thornton Wilder war über L’escalier de fer „entzückt“ (S. Eskin, Simenon 1999,320).