Dazai Osamus Roman, No longer human. Bekenntnisse eines Gezeichneten (1948; Berlin 2024, dt. J. Stalph), gilt als einer der bedeutendsten japanischen Romane im 20. Jahrhundert. Mit den Augen des Westens gelesen, ist er aber schwer zu beurteilen, da wir die historische, gesellschaftliche und kulturelle Lage nicht kennen, auf die der Roman eine Antwort ist.
Es heißt im Nachwort von Irmela Hijiya-Kirschnereit, daß der Autor das „Lebensgefühl einer ganzen Generation und Epoche“, der Nachkriegszeit, ausgedrückt habe (S.156). Gemeint ist wohl die vollständige Desillusion eines Landes, das eine totale Kriegsniederlage und zwei von Atombomben zerstörte Städte erlebt hat. Auf dieses riesige Fiasko, die Erschütterung eines Staatswesen bis in seine Fundamente, und die mentalen Auswirkungen soll sich der Roman als geistiger Überbau beziehen. Doch kann sich darauf allein sein Ruhm wohl kaum gründen, der die Jahre überdauert hat und bis heute anhält.
Wie dem auch sei, ich kann im folgenden nur kurz schildern, welchen Eindruck der Roman auf einen Leser macht, der von Japan, seiner Geschichte, Kultur, Religion und Gesellschaft nur recht vage Vorstellungen hat. Ich kann nicht die spezifisch japanischen Eigenarten beurteilen, sondern nur den Sinn des Romans, insofern er allgemein-menschliche Bedingungen zum Ausdruck bringt. Der Roman schildert das Leben eines homo sapiens varietas japonicus, ich kann nur beurteilen, was er über die allgemeine conditio humana ausführt.
Man kann gar nicht stark genug betonen, wie fremd uns die spezifisch japanische Mentalität ist. Dies zeigt recht deutlich das Beispiels eines Films, Colorado Territory (1948), den Raoul Walsh im selben Jahr herausbrachte, in dem Osamus Roman erschienen ist. Der Film erzählt eine Geschichte, an deren Ende der Held und die Heldin gemeinsam umkommen. Der Film hatte in Japan einen enormen Erfolg, weil die Japaner so etwas lieben, wie Walsh sagt, während die Amerikaner – zu ergänzen wäre, wohl auch die Alteuropäer – es lieber sehen, wenn die Helden überleben.
Ein gemeinsamer Tod spielt auch in diesem Roman eine Rolle und er wird keineswegs, wie ein Interpret meint, von Staatswegen bestraft; belangt wird nur der Mann, der den Selbstmord überlebt, wegen „Suizidbeihilfe“, weil diese Handlung einer Art Tötung gleichkommen kann (S.73)
Held des Romans ist Oba Yozo. Er erzählt in drei Heften sein Leben. Der Herausgeber der Hefte erklärt drei Fotos von Yozo, die aus drei Phasen seines Lebens stammen. Er ist der jüngste Sohn einer reichen Familie aus der Provinz und von Anfang an von einer großen Furcht vor den Menschen beherrscht. Um sich behaupten zu können, legt er sich früh die Rolle des Clowns zu. Prägendes Erlebnis seiner Kindheit ist der Umstand, daß er von den Dienern mißbraucht wird. Er meldet das Verbrechen nicht, weil er alle Menschen für Heuchler hält.
Im zweiten Heft schildert er seine Schulzeit in Tokio, seine Mal- und Zeichenstudien, seine Bekanntschaft mit Horiki, der dem Furchtsamen das Leben in der Großstadt erleichtert, seine Bekanntschaft mit drei Frauen, den Selbstmordversuch mit einer Freundin, die dabei stirbt, während er gerettet wird. Er wird wegen Beihilfe zum Selbstmord von Polizei und Staatsanwalt verhört, aber nicht angeklagt.
Im dritten Heft wird das Verhältnis Yozos zu weiteren Frauen beschrieben. Er lernt die Journalistin Shizuko kennen, die ihm den Zugang zu Zeitschriften vermittelt. Er wird ein gefragter Cartoonist. Er verläßt Shizuko, weil er ihr privates Glück nicht mit seiner Trinksucht zerstören will. Er kommt bei einer Wirtin unter, wo er ein Jahr ein belangloses Leben führt (S.107). Dann lernt er die 17jährige Yoshiko kennen, Angestellte eines Kiosks, und heiratet sie. Ihr Vertrauen wird schändlich mißbraucht und sie vergewaltigt, während Yozo schweigend zusieht und nicht daran denkt zu helfen, aus Zweifel an allen Menschen, das entscheidende Ereignis seines Lebens (S.121). Er macht einen Selbstmordversuch, gibt das Trinken auf, wird aber von Morphium abhängig. Horiki und ein Vertreter seiner Familie bringen ihn in eine Nervenheilanstalt, die er nach drei Monaten als vorzeitig gealterter Mann verläßt. In der Anstalt hat er aufgehört, „als Mensch zu gelten“ (S.137).
Im Nachwort berichtet der Herausgeber, daß er die drei Hefte von jener Wirtin erhalten hat, wo Yoko gewohnt hatte. Er hat sie unbearbeitet veröffentlicht.
Auf japanisch heißt der Roman Ningen Shikkaku, d.h. „als Mensch disqualifiziert“ (S.148). Das soll ungewöhnlich klingen, aber doch wohl nicht so ungewöhnlich wie der englische Titel der deutschen Ausgabe, eine unbeholfene Verlegenheit. Passend wäre: "Nicht wert, ein Mensch zu sein". Wohlgemerkt ist dies nicht das Selbstverständnis des traurigen Helden, sondern die öffentliche Meinung über ihn.
Der Roman schildert den Konflikt eines extremen Individualisten mit der Gesellschaft seines Landes. Er betrachtet sich als ein „von Geburt an Ausgestoßener“ (S.54). Er beginnt seine „Bekenntnisse“ mit den programmatischen Worten: „Ich habe ein schändliches Leben geführt. Was menschlich leben heißt, weiß ich nicht.“ (S.13) Seine Clownerie und sein Komödiantentum dienen nur dazu, seine Verzweiflung und seine Schwermut zu verdecken. Er spricht emphatisch von der „Kathedrale der Melancholie“ (S.36). Er wird von Menschenangst geplagt, er befindet sich „in völliger Isolation von der Lebensführung der Menschen dieser Welt“ (S.47)
Seine Anklage in den hellen Momenten seiner Verzweiflung gilt der Gesellschaft. Er dachte, Gesellschaft sei „der Plural von Mensch“, muß aber erleben, daß sie sein unerbittlicher Feind ist, der ihm nie verzeiht, der alles heimzahlen und ihn verstoßen wird. Deshalb sein Widerspruch: „Die Gesellschaft, das ist das Individuum“ (S.99f.) Und die Einsicht: „Die Gesellschaft … Es war ein Kampf zwischen Individuen.“ Er verurteilt die Herrschaftsverhältnisse, von Pflicht und Schuldigkeit, um daran zu erinnern, daß die „Komplexität der Gesellschaft“ die des Einzelnen ist (S.104).
So weit die wenigen, etwas unscharfen oder unfertigen Stichworte des traurigen Helden zu seinem Standpunkt in Welt und Gesellschaft. Man wird ihn wohl auch einen Anachisten nennen können. Er arbeitet für die Kommunisten nicht aus ideologischen Gründen, sondern wegen der "Illegalität" der Arbeit, der Ungesetzlichkeit oder Staatsfeindschaft (S.54).
Implizit wird angedeutet, daß seine Trunksucht, die Abhängigkeit vom Morphium, auch die Pornographie seiner Zeichnungen, nur Formen des verzweifelten Protestes gegen die Gesellschaft sind. Man muß aber einwenden, daß der Autor, um seine kritische Absicht zu unterstreichen, das Unglücks-Schicksal und die Selbstanklagen des clownesken Pechvogels etwas übertreibt oder überzeichnet.
Yozo erzählt seine Geschichte mit bitterem Humor, kennt die europäische moderne Malerei und bezieht sich in seinen Reflexionen über Schuld auf Dostojewski. Doch scheint ein Irrtum vorzuliegen, wenn behauptet wird, das Gegenteil von Schuld sei „Ungeduld“ (S.120), es müßte wohl „Unschuld“ heißen.
Was freilich die christlichen Vergleiche und Reminiszenzen angeht, so sind sie weder erbaulich noch spöttisch, sondern einfach fehl am Platz, stilistische Fehlgriffe. Sie zeigen, daß Osamu der Geist des Christentums so fremd ist wie uns die japanische Religiosität.
Wichtiger als die Analogie, die in Fragen der Schuld zwischen Dostojewski und Osamus Roman vorliegt, scheint mir die Ähnlichkeit in einem anderen, wesentlichen Punkt zu sein. In den Dämonen (II,7. Kap., 2) wird behauptet, daß die persönliche Verzweiflung einer Romanfigur nicht eine Privatsache, sondern eine „allgemeine Sache“ sei. D.h. letztlich gehen die psychischen Probleme eines Menschen, seine intimsten Schwierigkeiten auf gesellschaftliche Ursachen zurück.
Auf unseren Roman bezogen, heißt dies, daß das Außenseiterdasein, die soziale Isolation und die daraus folgende Verzweiflung auf gesellschaftliche Ursachen zurückgehen, letztlich auf Zwänge und Konventionen, die ein menschenwürdiges Leben nicht erlauben. Das scheint mir Osamu mit seinem düsteren Roman, soweit ich ihn verstehe, im wesentlichen sagen zu wollen.
Postscriptum
Über Yutaka Taniyama und Fermats letzten Satz
Wie gezeigt, hat der Selbstmord junger Liebespaare in Japan eine geachtete Tradition. Dazu möchte ich noch ein berühmtes Beispiel erwähnen. 1958 nahm sich Yutaka Taniyama, ein hochbegabter Mathematiker, mit 31 Jahren das Leben. Er schrieb einen Abschiedsbrief, ohne jedoch den Grund für seine Handlung anzugeben. Wenige Wochen später folgte ihm seine Verlobte, die Nachricht hinterlassend: „Wir versprachen einander, uns nie zu trennen, wo auch immer wir hingehen. Nun, da er gegangen ist, muß auch ich gehen, zu ihm“.
Taniyamas Freitod blieb ein Rätsel, erst recht angesichts seiner genialen mathematischen Leistung. Er hatte nämlich mit seinem Freund Goro Shimura eine bahnbrechende Entdeckung der Zahlentheorie gemacht. Sie stellten die kühne Vermutung auf, daß elliptische Gleichungen und Modulformen im Grunde ein und dasselbe seien. Modulformen sind ähnlich wie Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division eine Art Grundoperation, symmetrische Eigenschaften betreffend. Elliptische Gleichungen haben die Form:
y2 = x3 + ax2 + bx + c, wobei a,b und c ganze Zahlen sind.
Die These der Vermutung von Taniyama und Shimura bildete eine große, unbewältigte Herausforderung der mathematischen Zunft in den folgenden Jahren. Bei einer Tagung 1984 erbrachte dann Gerhard Frey (Saarbrücken) den verblüffenden Nachweis, daß sich die berühmte Gleichung Fermats, die seit 350 Jahren unbewiesen war, in eine elliptische Gleichung umformen lasse. D.h. also wenn man die Taniyama-Shimura-Vermutung bewiesen hat, hat man auch die Fermatsche Gleichung bewiesen, was bisher keinem Menschen gelungen war. Fermats Gleichung, die sich vom Satz des Pythagoras herleitet, hat bekanntlich die Form:
xn + yn = zn, mit n größer als 2.
Dieses Problem, zu dem Taniyama einen wichtigen, essentiellen Beitrag geleistet hat, hat dann der Engländer Andrew Wiles 1994 nach sieben Jahren mühsamer Rechnerei in einem Beweis von 200 Seiten gelöst.
Näheres findet man ausführlich bei Simon Singh, Fermats letzter Satz. Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels. München: dtv 2006.