Simenon, eingeschworener Realist, ist ein Meister der lebensechten Darstellung und demzufolge, da das Leben meistens so ist, ein Erzähler meist trauriger Geschichten. Das gilt besonders für die Romane, die in den Tropen, im Milieu der Kolonisten spielen und oft von gescheiterten Abenteurern handeln. Le Blanc à lunette (1938; Paris 2004), Der Weiße mit der Brille, aber erzählt von einem erfolgreichen Besitzer einer Kaffeeplantage im östlichen Belgisch-Kongo, der kein Abenteurer ist, sondern ein nüchterner Farmer, der seine Sache versteht. Es fehlen aber auch nicht, als Nebenfiguren, Verwaltungsbeamte, die klägliche Versager in ihrem Amt sind.
Der Weiße mit der Brille ist Ferdinand Graux, Belgier, 28 Jahre alt. Er fliegt von Alexandria über den Sudan bis nach Juba vor der Grenze von Belgisch Kongo. Die Passagiere sind meist Engländer bis auf Yette, eine junge Pariserin, und ihr belgischer Mann Georges Bodet, Verwaltungsbeamter. Yette nervt während der Reise ihren Mann, indem sie ihm die Vorzüge Ferdinands vorhält. Unterwegs erfahren sie, daß ein englisches Privatflugzeug mit Lady Makinson, Frau eines Diplomaten, im Busch vermißt wird.
Als Ferdinand auf seiner Plantage eintrifft, erfährt er, daß das Flugzeug auf seinem Grundstück gelandet ist, mit einem zerbrochenen Propeller. Lady Makinson hat eine verrenkte Kniescheibe und liegt nun in seinem Zimmer. Sie wird von Kapitän Philps begleitet, dem Piloten. Ferdinand kann ihre Kniescheibe richten und beginnt, von der Frau angeregt, eine intime Beziehung mit ihr, Kapitän Philps in dieser Rolle ablösend. Man hat nach London telegraphiert, um einen neuen Propeller anzufordern. Bevor das Flugzeug repariert werden kann, ist Lady Makinsons Knie ausgeheilt und sie fliegt nach Alexandria, wider ihren Willen von Ferdinand begleitet.
Ferdinand hatte in einem Brief an seine Mutter geschrieben, daß er eine moralische Krise durchmache (S.104). Auf diese Nachricht hin, beschließt Emilienne Tassin, 27 Jahre alt, seine Verlobte, nach Afrika zu fliegen. Als sie auf der Plantage eintrifft, übernimmt sie die Geschäfte Ferdinands und kümmert sich um die Krankenstation, Tag für Tag auf ein Telegramm ihres Verlobten wartend. Sie besucht in der Grenzstadt Nyangara Yette Bodet, die mit ihrem Mann zerstritten ist und von der Frau des Verwaltungschefs abgewiesen wurde, nun isoliert und verwahrlost bei sich hausend. Bei ihrem nächsten Besuch erfährt Emilienne, daß Georges auf seine Frau geschossen und danach sich getötet hat. Yette wird überleben.
Als Emilienne auf der Plantage eintrifft, begegnet sie Ferdinand, der mehr als drei Wochen weggeblieben war. Sie liest abends auf ihrem Zimmer die Tagebuchblätter, in denen Ferdinand sein unerfülltes galantes Abenteuer schildert, seine vergeblichen Versuche auf der Reise und in Istanbul mit Lady Makinson Verbindung aufzunehmen. Emilienne verbrennt die Aufzeichnungen, Ferdinand billigt die Tat, als Abschluß seiner amourösen Eskapade, sie beschließen, nach Nyangara zu fahren, um sich von dem Missionar trauen zu lassen.
Der Text des Romans ist reine Erzählung. Ein objektiver Erzähler schildert die Ereignisse und das Verhalten der Personen, ohne weitere Reflexionen oder allgemeine Erklärungen hinzuzufügen. Allein die beiden Hauptpersonen, Ferdinand und Emilienne, werden auch aus der Innenperspektive geschildert, nur ihre Gedanken und Gefühle werden beschrieben, die übrigen Figuren werden aus der Außenperspektive wahrgenommen, was im Falle von Lady Makinson, in die Ferdinand leidenschaftlich verliebt ist, die distanzierte Haltung der Frau gegenüber Ferdinand betont. Außerdem wird ihr dominierendes Verhalten, als die Person, die wie selbstverständlich im Haus die Herrin ist, unterstrichen.
Was Ferdinand denkt, teilt er zudem in seinen offenherzigen Tagebuchaufzeichnungen mit, während Lady Makinson in einem Brief das Wichtigste nur andeutet. Sie schreibt an Philps über den Gegenstand ihrer Reise, „die sehr gut verlaufen ist“, um diskret zu sagen, „daß die Verbindung zwischen der Lady und Ferdinand ein Ende gefunden hat“ (S.177f.).
In thematischer Hinsicht ist der Text in Gegensätzen gegliedert. Der Hauptgegensatz ist der Unterschied zwischen dem Verhalten der Engländer und den übrigen Weißen. „Die Engländer sind so schwierig“, sagt Camille, der Verwalter der Plantage. D.h. sie halten sich in allen Lagen an feste Konventionen, diskretes Verhalten, bestrebt, sich immer wie ein Gentleman oder eine Dame zu benehmen. Dagegen steht das Benehmen der zerstrittenen belgischen Beamten. Der Vorgesetzte Costermans verkehrt mit seinem Assistenten Bodet nur schriftlich, Costermans' Frau weigert sich, Bodets Frau zu empfangen. Während Lady Mary Makinson ihre Affäre mit Ferdinand in zivilisierter Form aufgibt, endet die Mesalliance zwischen Georges Bodet und Yette tödlich.
Was den Gegensatz zu der englischen Konvention angeht, so unterläßt Simenon es aber nicht, auch einen Vorteil Belgiens auszuspielen, indem er bei einem Hotel im Kongo die „bonhomie belge, un certain laisser-aller même“ (die belgische Gemütlichkeit, selbst eine gewisse Lässigkeit) gebührend hervorzuheben (S.124)
Symptomatisch ist sodann der Gegensatz zwischen Mary und Ferdinand, was ihre erotische Beziehung angeht. Für sie war diese Affäre eine konventionelle Sache ohne tiefere Gefühle. Für Ferdinand war es eine Sache von tiefster Leidenschaft. Beim Abschiedsgespräch heißt es: „Er hätte alles gegeben, jetzt, um sie in seinen Armen zu halten, um sie anzuflehen zu bleiben, nur für ihn zu sein, niemals zu billigen, in den Armen eines anderen Mannes, die Frau zu werden, die sie damals war, von der er immer die unmenschliche Stimme hörte.“ (S.117) Dagegen Mary: „Sie müssen mir versprechen, ernst zu sein, Ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen ...Aber ja! Seien Sie also nicht so romantisch … ich werde wieder nach Intanbul gehen“, d.h. ihre normale Stellung wieder einnehmen (S.116). Ferdinand ist sich dann bewußt, daß es eine verrückte Liebe ist (S.208), um dann auf seine Plantage zurückzukehren, die Affäre hinter sich lassend.
Ferdinand ist von dem Verhalten Philps' in dieser Sache höchst irritiert: „Er sprach oft von Lady Makinson in einer Art, daß dies eine gewisse Intimität zu dritt einschloß, eine Art verschwiegener Komplizenschaft.“ (S.112) Während diese Beziehung für den Piloten eine gesellschaftlich diskrete Angelegenheit ist, löst sie bei Ferdinand eine „moralische Krise“ aus (S.104). Am Ende aber sieht er ein, daß der Romantismus Unrecht hat gegenüber der Anlage von Plantagen, dem Bau von Brücken und Straßen: „Das Tier [d.h. er als Verliebter] ist gesundet. Ich habe meinen Platz bei der Imperial Airways gebucht. Das Leben ist eine ernste Sache.“ (S.212).
Der Roman handelt von einer Geschichte der Kolonisation. Doch bildet der damit gegebene gesellschaftliche und politische Konflikt zwischen den Eingeborenen und den weißen Herren nur den Hintergrund für die privaten Wirren der Weißen. Die einzige Eingeborene, die auftritt, ist Baligi, ein junges, verängstigtes Mädchen, das den Haushalt der Weißen besorgt und Ferdinands Lager teilt. Sie symbolisiert das absolute Dienstverhältnis der Schwarzen gegenüber den Weißen. Außerdem erwähnt Camille einen Fall von Kannibalismus, womit er wohl seine Meinung über den kulturellen Tiefstand der Schwarzen ausdrücken will (S.163). Eine schwer zu berurteilende Meinung, die im Roman ohne Kommentar bleibt.
Die Meinung Simenons über den Kolonialismus, die in dem „Weißen mit der Brille“ zum Ausdruck kommt, wird man wohl fair und gerecht nennen können. Er beschreibt den weißen Farmer, der nützliche Anpflanzungen mit zugehöriger Arbeit nach Afrika bringt und sich hier zuhause fühlt, und er schildert die sachliche Unfähigkeit und das menschliche, gesellschaftliche Versagen der Verwaltungsbeamten, mit der verschwiegenen Anklage, daß unfähige, nicht engagierte Beamte zur Strafe in die Kolonie geschickt werden.
Im übrigen ist Der Weiße mit der Brille ein früher Roman der erotischen Leidenschaft, ein Thema, das Simenon erst nach dem Krieg in seinen extremen Dimensionen beschreiben wird (, Leidenschaft im Werk Simenons, S.142f.). Hier endet die Affäre mit der Rückkehr zum Ernst des Lebens – ganz im Sinne von Candide bei Voltaire: „Aber wir müssen doch unseren Garten bestellen“.