Pro captu lectoris habent sua fata libelli.
Je nachdem, wie der Leser sie aufnimmt, haben die Büchlein ihr Schicksal.
Das Motto will sagen, daß das Schicksal der Bücher von dem Interesse der Leser abhängt, das sie für die Bücher aufbringen. Wenn vom Geschick der Lektoren die Rede ist, dann sind jene Verlagsmitarbeiter gemeint, die die Bücher zur Veröffentlichung annehmen und vorbereiten. Geschick aber hat hier zwei Bedeutungen: einmal die Fähigkeit oder Kompetenz der Lektoren, zweitens das, was mit ihnen selbst geschieht, auch die nicht beabsichtigten Folgen ihres Tuns.
Es ist eine seltsame Berufsgruppe, von der wenig bekannt ist. Sie arbeiten im Hintergrund der literarischen Öffentlichkeit. Sie stehen im Schatten des Ruhms der von ihnen betreuten Autoren. Selten wird ihr Namen genannt, höchstens dann, wenn sie einen neuen bedeutenden Autor entdecken, ein Manuskript annehmen, das zum Bestseller wird. Sie sind dienende Geister, die es doch manchmal drängt, selbst zu schreiben, z. B. Rezensionen über Bücher anderer Verlage.
Theoretisch wird das Unmögliche von ihnen verlangt. Sie sollen als literarische Lektoren vorzüglich gebildet sein und die höchste kritische Kompetenz besitzen, um die literarische Qualität eines Buches beurteilen zu können, und sie sollen zugleich kaufmännisch sagen können, ob sich das Buch verkauft. Lektoren des Sachbuchs sollen in ihrem Fach das nötige Wissen haben und mit dem neuesten Stand der Forschung vertraut sein, was bei Wissenschaften ein unmögliches Ansinnen ist, da sie ja keine Professoren sind. Im Falle der Philosophie sollen sie deren Geschichte und die neuesten Strömungen kennen, Wunderknaben der Intelligenz und der Bildung sein. In Wahrheit können die meisten nicht mal Griechisch oder Latein, die Sprachen der klassischen Philosophie. Daß auf dem Buchmarkt amerikanische Philosophen und amerikanische Romanciers überwiegen, hängt auch mit der Sprachkenntnis der Verlagsleute zusammen.
Hier will ich ein paar berühmt gewordene Beispiele schildern, wo Lektoren spektakulär versagt haben, und ein paar Beispiele, wo Lektoren eine glückliche Hand bewiesen. Die ersten Fälle handeln von Publikationen des Suhrkamp-Verlages.
Seit 1952 plante Adorno, im Suhrkamp-Verlag gesammelte Schriften von Walter Benjamin herauszugeben. Im Juni 1953 erhielt er von Peter Suhrkamp die Nachricht, er sei von diesem Plan zurückgetreten. Im September 1953 zeigte Suhrkamp sich wieder offen für das Projekt. Im Januar 1954 aber hatte Suhrkamp sich immer noch nicht zu einer positiven Zusage entschlossen. Erst am 5. April 1955 konnte Adorno in einem Brief Gershom Scholem melden, daß Suhrkamp sich für eine zweibändige Benjamin-Ausgabe entschlossen habe.
Dieser Entschluß kam auf folgende Weise zustande. Nach dem negativen Entscheid Suhrkamps hatten sich der Leiter des Kösel-Verlags, Dr. Wild, und vor allem sein Lektor Friedhelm Kemp für die Werke Benjamins interessiert gezeigt. Da sie jedoch in ihrem konfessionell gebundenen Verlag die Publikation nicht selbst durchführen konnten, gaben sie die Sache an den Beck-Verlag weiter, der dann die Schriften Benjamins tatsächlich herausgeben wollte. Auf diese Nachricht hin hat Peter Suhrkamp seine Meinung geändert und die Schriften Benjamins 1955 veröffentlicht. Im Grunde war diese Geschichte eine erstaunliche diplomatische, taktisch kluge Leistung, die man von Adorno nicht erwartet hätte.
Bei der Herausgabe der Briefe Benjamins gab es wieder Schwierigkeiten im Verlag. Der neue Leiter, Unseld, gab für die Verzögerungen seinem Lektor Walter Boehlich die Schuld (Adorno an Scholem, 20.6.1964). Ein Jahr später gab es Probleme bei den Korrekturen, die wiederum der Lektor zu verantworten hatte, der auf Beschwerden nicht reagierte und die Korrekturen nicht durchführte (17.3.1965; 2.5.1965). Im Februar 1966 war der Umbruch der Briefe immer noch nicht abgeschlossen: „Wir haben ungezählte Male interveniert, aber uns dadurch nur den Zorn des Herrn Boehlich zugezogen …“ (Adorno 8.2.1966). Unseld meinte, „er könne Boehlich auch nicht auf Trab bringen“ (2.3.1966). Im Herbst 1966 sind die Briefbände dann doch erschienen, zur Zufriedenheit der beiden Herausgeber. Scholem, bei der Sammlung des Materials, fand den „Eindruck der Briefe in ihrer Gesamtheit ganz großartig“ (28.3.1965).
Ich selbst schätze Benjamins Briefe höher als seine Essays. Diese sind meist forciert geschrieben, während die Briefe in einer entspannten Diktion gehalten und nicht weniger lehrreich sind als seine kritischen Abhandlungen.
Ich kann mich nicht enthalten, hier ein Zitat Scholems wiederzugeben, wo man überlegen kann, was geistreicher ist, die Dialektik des Philosophen oder die Ironie des Judaisten. Scholem fragt Adorno angesichts von dessen Negativer Dialektik: „Wer ist bitte der Autor des schönen Satzes: ‚Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen‘ – den ich wahrscheinlich billigen würde, wenn ich ihn verstünde.“ (An Adorno, 6.2.1967)
Boehlich aber, der selbst wenig veröffentlichte, zehrte zeitlebens von dem Ruf, ein Schüler des gefeierten Philologen Ernst Robert Curtius zu sein. Er hielt offensichtlich nicht viel von Benjamin. Bei einer Debatte über den Beitritt Spaniens zur EU sprach er sich für den Beitritt aus, indem er auf die glanzvolle Poesie des Landes hinwies. Weltfremder und eigensinniger kann man ja wohl kaum sein.
1965 leistete Unseld sich dann eine Fehlentscheidung, die uns heute völlig unverständlich vorkommt. Er lehnte die Essaysammlung von Jean Améry ab: Jenseits von Schuld und Sühne, Erlebnisberichte eines Intellektuellen in Auschwitz. Was immer die Gründe für die Ablehnung waren, finanzielle oder ideologische Erwägungen, man muß sie in moralischer Hinsicht eine Fehlentscheidung nennen. Die Essaysammlung wurde übrigens auch von Kiepenheuer & Witsch abgelehnt, bevor sie in dem kleinen Szczesny-Verlag erscheinen konnte. Die größeren Buchfirmen interessierten sich damals nicht für das heikelste Thema der deutschen Geschichte. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat das Buch dann aber im Sommer 1968 übernommen — inzwischen hatte sich mit der Studentenbewegung das öffentliche Klima geändert, die unbewältigte deutsche Vergangenheit stand auf der Tagesordnung.
1982 leistete Unseld sich dann die geschäftlich wohl größte Fehlentscheidung seiner Karriere. Er lehnte die Publikation des Namens der Rose von Umberto Eco ab. Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, daß ein gelehrter Roman über das Spätmittelalter ein Bestseller werden könnte. Übrigens hat eine Rezensentin, zuständig für romanistische Bücher, in der FAZ die überaus reizvolle Qualität der Romans auch nicht erfaßt; erst Harald Weinrich hat die wahre Bedeutung des Buches für unsere Bildung, seinen Wert als klassische Ansicht des Mittelalters, erkannt und gewürdigt. 1983 war das Buch allerdings auf deutsch schon in 16 Auflagen erschienen. Es hätte die prekäre Existenz des Suhrkamp-Verlages auf Jahre hin sichern können.
Fehlurteile von Lektoren sind natürlich keine deutsche Spezialität. Sie kommen zum Beispiel auch in Frankreich vor, dessen Buchkultur höher entwickelt ist als das Gegenstück in old Germany. So hat ein Lektor Gallimards, des vornehmsten Literaturverlages des Landes, zwei epochemachende Werke der Wissenschaft und der Philosophie abgelehnt. Als Claude Lévi-Strauss in den fünfziger Jahren Gallimard seine Strukturale Anthropologie anbot, lehnte der Lektor sie mit den Worten ab: „Ihr Denken ist noch nicht reif genug.“ Gallimard hat sich später vergeblich bemüht, Lévi-Srauss als Autor wieder zu gewinnen. Der gleiche Lektor hat dann auch die Geschichte des Wahnsinns von Michel Foucault abgelehnt (C.Lévi-Strauss, D. Eribon, Das Nahe und das Ferne. Ffm 1996, 104).
Der Lektor hat die Bedeutung zweier Werke nicht erkannt, die jeweils eine neue Strömung im kulturellen Diskurs einleiteten und begründeten. Seine Fehlurteile kann man fast tragisch nennen; sie zeigen, daß von seinesgleichen das fast Unmögliche verlangt wird: das Neue im Reich des Geistes zu erkennen, während er und seinesgleichen auf das Bekannte und Konventionelle eingeschworen sind.
Begründet wurde die Ära des Strukturalismus und eine neue Einschätzung der Grenzen des menschlichen Geistes.
Mit den Problemen des Verlagswesens wurde ich zuerst um 1970 in dem germanistischen Seminar von Paul Stöcklein bekannt gemacht. Janko von Musulin, damals leitend bei S.Fischer tätig, hielt einen Vortrag über sein Arbeitsgebiet. Er schilderte den Prozeß der Veröffentlichung von Carl Zuckmayers Memoiren Als wär’s ein Stück von mir. Das Manuskript wurde sorgfältig vom Verlag geprüft und mit Zustimmung des Autors zum Druck eingerichtet. Das Buch wurde bekanntlich ein Bestseller und ein Longseller. Musulin erklärte auch, daß es bei literarischen Übersetzungen nicht auf die präzise Worttreue ankomme, sondern auf den richtigen Tonfall oder Sound, die einfühlsame Wiedergabe der Stimmung. Wie die Erfahrung lehrt, ein höchst seltenes Talent, eine nicht erwerbbare, nicht lernbare Gabe.
An dieser Stelle sei aber auch der skandalöseste Fall eines Verlagsmitarbeiters in der Nachkriegszeit nicht verschwiegen. Hans Roessner, der als Lektor des Piper-Verlags das Werk Hannah Arendts betreute, war einst SS-Obersturmbannführer gewesen (F. Stern, Fünf Deutschland und ein Leben 2007, 252).
Ich selbst habe dann kluge Lektoren und törichte Jungfrauen, dumme Buben in diesem Fach kennen gelernt: einen Lektor, der nicht wußte, wie man einen hängenden Absatz formatiert; eine Lektorin, die, naiv staatstreu, mir vorschreiben wollte, die vermurkste neue Rechtschreibung zu übernehmen; einen philosophischen Lektor, der die griechischen Buchstaben nicht kannte, die jeder Oberschüler in Mathematik mit den Winkelfunktionen lernt; einen Knaben der Textkontrolle, der nicht mal das Duden-Deutsch beherrschte; aber auch eine unvergessene Lektorin, die mir einen goldenen Rat fürs Leben gab: den Vorschlag, das Manuskript stark zu kürzen. Ich habe dann das Koeppen-Buch um 50 Seiten gekürzt.
Der Rat ist im Reich gelehrter Schriften wahrhaft von universaler Gültigkeit. Die meisten kulturwissenschaftlichen, erst recht die historischen, aber auch die philosophischen Arbeiten sind viel zu lang. Joachim Günther, Herausgeber der Neuen Deutschen Hefte, die leider mit ihm dahingegangen sind, pflegte zu sagen, man kann jeden Aufsatz kürzen, und der Philosoph Karl Heinz Haag spottete über das zweibändige Opus Theorie des kommunikativen Handelns, weil Habermas nicht fähig sei, seine Theorie in kompakter Form konzis und übersichtlich darzustellen.
Über die Qualifikation von Redakteuren ließe sich die gleiche Rechnung aufmachen. Nur ein extremes Beispiel der Inkompetenz. Es gab einen Lektor, der zugleich Redakteur einer Kulturzeitschrift war, der nicht die geringste Ahnung von Philosophie hatte, mehr noch, er hatte einen Abscheu vor ihr. Er verachtete logisches Denken, machte aber Karriere im Kulturbetrieb. Von seinen Leistungen ist allerdings keine Spur zurückgeblieben.
Dann gibt es Bücher, bei denen man nicht weiß, ob ein Lektor sie überhaupt gesehen hat. So ist zum Beispiel in dem renommierten philosophischen Fachverlag Felix Meiner, Hamburg, das Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998) erschienen, das eine Reihe krasser Fehler und Irrtümer enthält, um hier nur das Kuriosum zu nennen, daß es einen Eintrag über die Postmoderne enthält, aber keinen über die Moderne. Der Zentralbegriff der Wahrheit ist unzulänglich erklärt, ebenso Zahl, Referenz, Identität. „Abstrakt“, ein täglich gebrauchter Grundbegriff der Philosophie, wird falsch erklärt (, Wenn das Denken feiert, S.167f.; Fehler im Wörterbuch der philosophischen Begriffe). Das Wörterbuch wurde dann anstandslos von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft übernommen und vertrieben.
Wenn man eine „Geschichte der USA“ liest, die kein Wort über die Kuba-Krise von 1962 enthält, wo die Welt am Rande eines Atomkrieges stand, und wenn man ein Literaturbuch liest, in dem E.T.A. Hoffmann als Trinker, aber nicht als Erzähler vorgestellt wird, kann man sicher sein, daß kein kompetenter Lektor diese Bücher vor dem Druck geprüft hat.
Das entspricht dem Trend, daß die Autoren ihre Arbeiten als Datei einliefern. Der Lektor hat nicht mehr die Aufgabe, den Text inhaltlich zu prüfen; er hat ihn nur noch zu formatieren. Die inhaltliche und thematische Prüfung der Bücher fällt nur noch der Literaturkritik zu, wenn es sie denn überhaupt noch gibt.