Josef Quack

Die verlorene Ehre einer Familie
“Das Testament Donadieu” (Simenon)




Die großen Kunstwerke sind jene, die an ihren fragwürdigen Stellen Glück haben.

Th.W. Adorno

Le testament Donadieu (1936;Paris 2019) gilt als „le plus balzacien des romans de Georges Simenon“, wie es auf der Rückseite des Taschenbuchs heißt, als der Roman Simenons, der dem Romantyp Balzacs am nächsten kommt. Es ist ein episches Werk, relativ umfangreich, mit mehreren gleich wichtigen Hauptpersonen, einer ereignisreichen Handlung in einem genau verzeichneten gesellschaftlichen Milieu mit strengen bürgerlichen Konventionen und Ehrbegriffen. Das Thema der Familiengeschichte ist der Konflikt zwischen Geschäft und Leidenschaft, beides exzessiv, unerbittlich gelebt und ausgeführt (cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons).

Der Chef der Familie Donadieu ist Oscar, 72 Jahre alt, der reichste und wichtigste Reeder von La Rochelle. Er betreibt eine Fischereifirma und eine Transportfirma für Kohle, die er selbst zu Briketts verarbeitet und verkauft. Sein ältester Sohn ist Michel, 37 Jahre, eine subalterne Figur, verheiratet mit Eva, einer mondänen Frau, die kaum in die Familie integriert ist; sie haben zwei Kinder miteinander. Marthe ist die älteste Tochter, engagierte Vertreterin der Familienehre. Ihr Mann, Jean Olsen, 32 Jahre, ist an der Geschäftsführung beteiligt, aber ohne Initiative und Einfluß. Sie haben einen Sohn miteinander. Die zweite Tochter, Martine, ist 17 Jahre alt und mit Philipp Dragens, etwas über 20 Jahre, befreundet, den sie abends heimlich in ihrem Zimmer empfängt, weil ihr Vater Philipp aus dem Hause verwiesen hat. Der zweite Sohn ist Oscar, genannt Kiki, 15 Jahre alt, von der Familie nicht ernst genommen, verschwiegen und eigensinnig. Die drei Familien wohnen in einem düsteren Haus in der Rue Réaumur, der Firmensitz ist am Quai Vallin.

Im ersten Teil des Romans, „Die Sonntage von La Rochelle“, werden drei Ereignisse berichtet, die die Handlung einleiten und folgenreich bestimmen. Oscar Donadieu kommt eines Abends von einem Club nicht nachhause, seine Leiche wird einige Tage später im Hafenbecken gefunden. Der letzte, der ihn gesehen hat, ist Frédéric Dragens, gescheiterter Bankier, nun ein glückloser Kinobesitzer, aber der eleganteste und am besten unterrichtete Mann der Stadt, gern gesehener Besucher bei Eva und der Frau Oscars, 55 Jahre alt. Die Kinder Oscars sind die einzigen Erben des Vermögens, seine Frau erhält ein Viertel des Nutzungsrechts der Firma. Zum allgemeinen Erstaunen übernimmt die Frau Donadieu die Geschäftsleitung, die sie geschickt und energisch ausführt.

Martine verdächtigt Philipp am Tod ihres Vaters schuld zu sein, läßt sich aber von seiner Unschuld überzeugen. Bei einem Aufenthalt in Esnandes, einem schäbigen Schloß, trifft sie ihn und läßt sich von ihm entführen. Sie kommen nach Paris, wo Philipp sich Geld besorgen kann und die Bekanntschaft mit Albert Grindorge macht, dem er ein lukratives Geschäft vorschlägt. Da Martine schwanger ist, läßt Frau Donadieu sie und ihren Freund nach La Rochelle kommen. Sie heiraten und Philipp findet das Vertrauen der älteren Frau Donadieu.

Michel kandidiert bei einer Wahl für eine reaktionäre Gruppe. Daraufhin erscheint in einem Skandalblatt ein Bericht über Odette Baillet, 23 Jahre, Michels Sekretärin, die nach einer Abtreibung in Bordeaux behandelt wird. Als ihr Vater, ein Eisenbahner schlichten Gemüts, den Bericht liest, erschlägt er den Herausgeber mit einem Hammer.

Im zweiten Teil, „Die Sonntage von Saint-Raphael“, finden wir Michel nach einem Nervenzusammenbruch an der Côte d’ Azur in einer Villa der Familie, um sich zu erholen. Er fährt einige Tage nach Paris, um mit Odette ihre Aussage im Prozeß gegen ihren Vater abzustimmen. In der Verhandlung wird dann aber die Beziehung zu Michel nicht erwähnt und somit ein Skandal der Familie vermieden. Der Vater wird freigesprochen, er weist aber Odette aus dem Haus, die mit Frédéric nach Paris fährt, um dort Verkäuferin zu werden. Michel aber kann nicht anders, als seine eingebildete Krankheit zu pflegen und mit einem Zimmermädchen eine Affäre zu beginnen. Seine Frau Eve trennt sich von ihm und folgt einem englischen Offizier nach Indien. Martine bekommt während ihres Aufenthalts an der Küste einen Sohn. Philipp, der sie besucht, ist aber weniger an dem Kind interessiert als an dem neuen Geschäft, das er Frau Donadieu und Michel vorschlägt. Kiki baut mit seinem Privatlehrer Edmond ein Boot, für sich außerhalb der Familie lebend.

Im dritten Teil, „Die Sonntage von Paris“, fünf Jahre später, ist Philipp am Ziel seiner geschäftlichen Wünsche angelangt. Er hat in Paris zusammen mit Albert eine eigene gewinnträchtige Firma aufgebaut; in La Rochelle betreut nur noch Olsen mit Marthe die Restbestände der Reederei Donadieu. Kiki, nun 21 Jahre alt, aber arbeitet in Amerika fern von der Familie mit Edmond an einem Staudamm, seine Schwindelgefühle meisternd.

Philipp hat eine intime Beziehung zu Paulette, der Frau Albert Grindorge, aufgenommen, nicht aus Leidenschaft, sondern aus Berechnung, die Chance im Auge, daß Albert von seinem Vater zweihundert Millionen Francs erben würde (S.355). Martine läßt Philipp wissen, daß sie seine Affäre mit Paulette kennt. Diese versteht eine Bemerkung Philipps in dem Sinne, daß er sie heiraten würde, wenn sie allein wäre (S.349). Bei einem Jagdausflug Philipps und Alberts nahe Orléans findet sie in dem dortigen Haus Maulwurfsgift, sie präpariert damit einige Birnen für Albert. Er stirbt auf dem Rückweg nach Paris. Martine stellt Philipp zur Rede, es kommt zum Streit, sie erschießt ihn und dann sich selbst. Paulette wird überführt, ihren Mann vergiftet zu haben.

Simenon exzelliert in diesem Roman in der Kunst der sinnlichen Vergegenwärtigung der Dinge und Menschen. Die natürliche Atmosphäre, die verregneten Sonntage, wird ebenso getreu geschildert wie die moralische Atmosphäre, die diversen Gefühlswerte in den Beziehungen der Personen miteinander. Im Mittelpunkt stehen die Charakterstudien der Personen.

Als Erzählhaltung hat Simenon aber die Methode des auktorialen Erzählers gewählt. Dieser Erzähler ist glaubwürdig und kompetent in der Schilderung der Gedanken der Personen. Nur ein auktorialer Erzähler konnte die Beobachtung machen, daß eine Person nachdenkt, ohne sich dessen bewußt zu sein: „Martine dachte ohne zu denken, mehr in Bildern als in folgenden Überlegungen“ (S.414), und er allein, nicht ein Ich-Erzähler oder ein personaler Erzähler, hat die Übersicht über die Handlung, so daß er Ereignisse beschreiben kann, die zur gleichen Zeit geschehen (S.335; cf. S.372f.).

Dies hat natürlich nichts mit Allwissenheit zu tun, wie der törichte, gedankenlos gebrauchte Begriff des "allwissenden Erzählers" suggeriert. Franz Stanzel hat klargestellt, daß es in der Literatur niemals einen Erzähler gegeben hat, der geschrieben hat, als wisse er tatsächlich alles (F. Stanzel, Theorie des Erzählens 1989, 37). Der auktoriale Erzähler erfindet vielmehr seine Geschichte und weiß deshalb, was sich in ihr ereignet; im übrigen setzt er eine Welt voraus mit all ihren natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Selbst ein Erfinder phantastischer Welten situiert seine Geschichte in einer Umgebung, die er keineswegs selbst mit all ihren Gesetzen, Dingen und Ereignissen kennt.

Umberto Eco hat mit Recht hervorgehoben, daß narrative Welten semantisch arme Welten sind, die zahlreiche Bedingungen der realen Welt voraussetzen. Narrative Welten sind immer ergänzungsbedürftig durch unser Wissen von der realen Welt (U. Eco, Die Grenze der Interpretation 1990, 269f.) Keine erfundene, fiktive Welt kann so gewaltig und reich sein wie die wirkliche Welt. Anders und prinzipiell gesagt, ein erfundenes Seiende kann niemals gleich allem Seienden, dem Sein im ganzen, sein.

Die Darstellung der Simultaneität von Ereignissen ist aber eine Errungenschaft des modernen Romans, desgleichen der von Simenon bevorzugte scharfe Schnitt im Szenenwechsel in Analogie zur Filmmontage, eine Folge von Szenen ohne verbindende Überleitung. Ähnliches gilt von der gelegentlich zum Verständnis erforderlichen Rückblende, die elegant eingefügt wird, ebenfalls ein Erzählmittel, das vom Film zwar keineswegs erfunden, aber vorbildlich kultiviert wurde. Die Wiedergabe erlebter Rede, die Simenon sozusagen mit der linken Hand beherrscht, ist wiederum ein Vorrecht des auktorialen Erzählers.

Alles in allem kann man sagen, daß der Roman in formaler oder erzähltechnischer Hinsicht eines der ehrgeizigsten Werke Simenons ist.

Auch enthält der Roman eine vorzügliche, bunte Charakterstudie. Frau Donadieu, genannt „reine-mère“, Königin Mutter, führte mit ihrem Mann ein häusliches Dasein. Nach seinem Tod kann sie ihren Wünschen nach einem aktiven, geselligen und repräsentativen Leben nachgeben, auf die Ehre und Würde der Familie bedacht. Marthe ist die mustergültige Tochter Donadieu, am meisten dem Geist der Familie verbunden. Michel, von unbeherrschter Eßgier geplagt, pflegt sein Selbstmitleid. Olsen ist vorzeitig dem Geiz ergeben. Eva, lungenkrank, ist von einem "schrecklichen Hunger nach Leben" besessen (S.294). Martine hat sich in fünf Jahren von dem "Embryo einer Frau" zu einem selbständigen Wesen mit eigener Persönlichkeit entwickelt. Sie ist mit 22 Jahren eine der schönsten Frauen von Paris (S.345; 351; 371). Frédéric, der gescheiterte Bankier, ist ein geistreicher Gesellschafter, von vollendeten Manieren. Philipp strotzt von Selbstbewßtsein, von dem Gefühl, alles schaffen zu können, was er in seinem Leben will, er weiß sich auf der Seite des Schicksals, bis er am Ende erkennen muß, daß sich das Geschick gegen ihn wendet (S.92f.; 122; 438).

Die Familie Donadieu setzt ihre Würde und Ehre über alles, es gibt eine unverkennbare Eigenart des Hauses (S.44; 153; 169). Es hat eine eigene Tradition (S.309) und „im Rhythmus des Lebens, im familiären Lärm des Hauses, der Beleuchtung, des Geruchs die Ordnung Donadieu“. Dem folgt aber der entscheidende Satz: „In Paris hatte Philipp nicht nur eine Ordnung Dragens geschaffen, sondern eine Ästhetik Dragens“ (S.350). Damit sind die wahren Machtverhältnisse beschrieben.

Nebenbei bemerkt, man hat dem Romancier gelegentlich vorgeworfen, daß er ein Frauenfeind sei. Die prächtigen Frauengestalten im Testament Donadieu und in anderen Romanen beweisen das Gegenteil (cf. J.Q., Leidenschaft im Werk Simenons, S.77). Daß eine Frau wie die "Königin-Mutter" die Leitung einer Reederei übernimmt, war damals eine seltene Ausnahme und ist es auch heute noch. Selbständige und selbstbewußte Frauen wie Martine, eine der schönsten Frauen von Paris und ebenbürtige Partnerin Philipps, oder wie Eva, die ihre Lebenszeit in vollen Zügen genießen will, sind eher Beispiele des Frauenlobs als des Frauenhasses.

Was die Rezeption des Romans angeht, so gab es lobende und tadelnde Stimmen. André Gide hatte den Roman zunächst von seinem Lob ausgenommen, dann aber in einem Brief (11.3.1948) versichert, es sei ein "bemerkenswertes Buch": "Ich bin verwundert und zweifle nicht mehr daran, daß Sie zu allem und jedem fähig sind, daß Sie das Schwierigste und das Größte meistern." Simenon war mit der "weitschweifigen Art" des Romans nicht zufrieden (zit. Stanley K. Eskin, Simenon 1999, 221). Er führt dies darauf zurück, daß er den Roman nicht in einem Zug geschrieben habe, sondern mit Unterbrechungen durch allerlei Tätigkeiten.

In der Biographie Simenons von Pierre Assouline (1992) wird der Roman als mißlungen bezeichnet, auch von dem Autor selbst, doch wird er von allen Romanen Simenons am häufigsten zitiert – so haben wir das Paradox vor uns, daß der Roman mißlungen sein soll, aber doch bedeutsam ist. Simenon spielt darauf an, daß der dritte Teil des Werkes nicht die gleiche Intensität des Erzählens aufweist wie die übrigen Teile. So hat er, ein einmaliger Fall, eine Fortsetzung des Romans geschrieben, in dem das Schicksal des jungen Oscar Donadieu geschildert wird: Touriste de bananes (1937).

Während die meisten Romane Simenons einen novellistischen Charakter haben, hat das "Drama Donadieu" (S.431) eine epische Anlage, es ist ein Werk mit mehreren Hauptpersonen und einer ausgedehnten Handlung in Episoden, in einer breit entfalteten narrativen Welt. Eine Seltenheit bei Simenon und in Wirklichkeit der Grund, warum der Roman so häufig zitiert wird.

Wie immer aber das Urteil über das Testament Donadieu lauten mag, nach meiner Meinung ist es ein Schmöcker im besten Sinn des Wortes, ein umfängliches Buch mit einer Geschichte, die man gerne bis zu ihrem Ende lesen möchte.

J.Q. 1. Dez. 2025

© J.Quack


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