Josef Quack

Negative Metaphysik

Über die Philosophie Karl Heinz Haags

 



Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner kennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden;
Wissen kann er sie nie: Es ist alles durchwebt von Vermutung.

Xenophanes

I.

Martin Heidegger begann einmal eine Vorlesung über Aristoteles mit den Worten: “Er wurde geboren, arbeitete und starb”. Er wollte damit sagen, daß für die Beurteilung eines Philosophen nicht seine Biographie, sondern nur sein Werk von Belang ist. Man könnte diese Worte abwandeln und auf Karl Heinz Haag beziehen, der lebte, um philosophisch zu arbeiten. Er ist einer der gezählten Philosophen, die in unüberbietbarer Radikalität ihre Lebensverhältnisse dem Zweck des philosophischen Denkens unterordneten. Ähnlich wie Wittgenstein gab er seinen philosophischen Lehrstuhl auf, um sich ausschließlich der philosophischen Forschung zu widmen, obwohl er gewiß auch in bedeutendem Maß über das so seltene und so wichtige Talent des Lehrens verfügte. Er hätte mit Schopenhauer sagen können, daß er nicht nach einer Professur, sondern nur nach der Wahrheit gestrebt habe.
Sein Lebenswerk und das Ergebnis seines mehr als zehnjährigen Forschens und Nachdenkens ist sein Buch über den Fortschritt in der Philosophie (1983), ein schmales Bändchen von zweihundert Seiten. Es behandelt in konzentriertester Form, ohne rhetorische Umschweife und terminologisches Dekor, das Grundproblem der Philosophie, die Möglichkeit und Grenzen metaphysischen Erkennens. Walter Hoeres nannte es “eine der bedeutendsten philosophischen Veröffentlichungen unserer Zeit”, was nichts anderes heißt, als daß es sich um eines der wenigen philosophischen Werke der Gegenwart handelt, die zu lesen und zu studieren sich lohnt. Und es ist nicht nur von historischem Interesse, daß die Studie, was die theoretische Philosophie angeht, wahrscheinlich der substantiellste Ertrag der Frankfurter Schule ist.
Adornos originelle Leistung dürfte in den Beobachtungen und Analysen der ästhetischen Theorie bestehen, während er sich im elementaren Denken gelegentlich logische Blößen gab, die man bei ihm nicht erwartet hätte. So gibt er für unseren Gegenstand einmal die zirkuläre Definition, Metaphysik bezeichne die Befassung mit metaphysischen Themen. Und wenn er behauptet, Heideggers Seinsbegriff sei eine “recht primitive Hypostasis der Kopula”, macht er sich seine Kritik unerlaubt einfach. Denn Heidegger versteht ‘sein’ im Sinne von ‘existieren’ oder im Sinne des veritativen Seins (Tugendhat): ‘es ist so, daß …’.
Jürgen Habermas, der bekannteste Nachfahre der Frankfurter Schule, hat sich jahrzehntelang der Ausarbeitung einer imponierenden kritischen Gesellschaftstheorie gewidmet und seine jüngsten Reflexionen zur theoretischen Philosophie sind noch vom Primat der praktischen Philosophie bestimmt. Sein unverächtliches Verdienst dürfte darin bestehen, daß er unbeirrt von allen Moden des Zeitgeists, für die er sonst leider nicht unempfänglich ist, an dem Konzept eines moralischen Universalismus festhielt. Als Lehrer, als Vermittler soziologischer und philosophischer Forschungsansätze hat er einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf Generationen von Studenten ausgeübt. Ähnlich wie Wolfgang Stegmüller hat er zahlreiche Positionen angelsächsischen Philosophierens vorgestellt und zu einer ungeahnten Resonanz verholfen. Und inzwischen scheint ihm das Echo, das er in den Seminaren jenseits des Atlantiks findet, wichtiger als die Wirkung auf deutsche Kontrahenten, deren Einwände der diskussionsfreudige Mann zunehmend ignoriert. Nicht von ungefähr war seine philosophische und wissenschaftspolitische Polemik lange Jahre nicht ganz frei von einem Hauch der Reeducation-Ideologie des Nachkriegs.
Dem vielwissenden Philosophen hat nun Dieter Henrich den Vorwurf gemacht, “daß er in philosophischen Grundfragen teils unselbständig, teil zweideutig-ausweichend” operiere, und streng gefolgert: “Das Philosophieren kann man also bei ihm nicht lernen”. Dabei wäre zu Henrichs eigenem Sprach- und Denkstil zu sagen, daß er eine Vorliebe für vage Umschreibungen pflegt und einer Denkweise anhängt, die irgendwo zwischen den wortreich verhüllenden Paraphrasen des späten Jaspers und den luftigen Umschreibungen der neueren Theologen liegt, jener liberalen Gottesgelehrten, die so ausweichend reden, weil sie, nach einem Wort von M.Eliade, sich eines Gottes schämen. Daher auch der pastorale, erbauliche Ton, der die meisten öffentlichen Stellungnahmen Henrichs durchzieht. Ob diese Denkweise sich eher zum Philosophiestudium empfiehlt als die terminologisch überladene, theoriegesättigte und deshalb höchst klärungsbedürftige Diktion von Habermas bleibe dahingestellt.
Die fatalste philosophische und wissenschaftliche Wirkung, die Habermas ausgeübt hat, scheint mir darin zu bestehen, daß er die Konsenstheorie der Wahrheit energisch zur Geltung gebracht hat, eine Theorie, die letztlich zu einem wissenschaftlichen Relativismus und, wie Ernst Tugendhat einleuchtend gezeigt hat, zu einem Dezisionismus führt und damit zu einer Denkfigur, die Habermas sonst nicht genug tadeln kann. Für weite Teile der Literaturwissenschaft, die sich seine Konzeption zu eigen gemacht haben, hat sich die Konsenstheorie der Wahrheit in wissenschaftlicher Hinsicht verheerend ausgewirkt. Es sei aber angemerkt, daß er sich in jüngster Zeit, wenn auch nicht eindeutig genug, einem objektiven Wahrheitsbegriff genähert hat.

II.

Haag befleißigt sich einer klaren, präzisen, einfachen Ausdrucksweise. Er spricht umstandslos zur Sache und scheut sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Eine Erläuterung bedarf jedoch der Titel seines Buches. Haag untersucht nicht die Entstehung und Entwicklung des Fortschrittsgedankens in der Philosophie, sondern arbeitet ein metaphysisches Konzept aus, von dem allein er annimmt, daß es einen Fortschritt im philosophischen Denken darstellt: das Konzept einer negativen Metaphysik. So hätte das Buch eigentlich Negative Metaphysik heißen müssen. Offensichtlich hat er aber auf diesen Titel verzichtet, um keine Assoziationen zu Adornos Negativer Dialektik aufkommen zu lassen, der er eine wichtige Anregung verdankt; doch unterscheidet er sich wesentlich von seinem Geschichtsdenken.
Um sein Thema zu verstehen, ist es nützlich, sich Schopenhauers Definition der Metaphysik in Erinnerung zu rufen: “Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntnis, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur oder die gegebene Erscheinung der Dinge hinausgeht, um Aufschluß zu erteilen über das, wodurch jene in einem oder dem andern Sinne bedingt wäre; oder populär zu reden: über das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.” Auch Haag setzt voraus, daß wir zwischen den Erscheinungen der Natur und den Dingen an sich unterscheiden müssen. Er behauptet aber, daß sich nur die Phänomene der Natur wissenschaftlich beschreiben lassen, nicht was das Wesen der Dinge ausmacht. Wir müssen ein Ansich der Dinge voraussetzen, können darüber aber keine positiven oder affirmativen Aussagen machen. Deshalb spricht er von Negativer Metaphysik. Sie ist gleichbedeutend mit einem Erkenntnisverzicht gegenüber den letzten Fragen.
Er verfolgt nun durch die wichtigsten Stationen der europäischen Philosophiegeschichte, welche Lösungen für das “Problem der objektiven Möglichkeit von erscheinender Natur, der metaphysischen Grundlage der Phänomene” vorgeschlagen wurden. Bei Platon findet er eine “idealistische Reduktion der Welt auf inhaltlich fixierbare Wesenheiten”. Doch ist das, was er Ideen nennt, letztlich nur eine “Imitation des empirisch Gegebenen”, was aus seiner Erklärung eine Tautologie von ursprünglichem Grund und Begründeten macht. Ähnlich begreift Aristoteles die “abstrakte Imitation der Einzeldinge als ihr ontologisches Wesen”.
Im Nominalismus werden die allgemeinen Wesenheiten für Leistungen des erkennenden Subjekts gehalten, “aber übersehen, daß es in den Sachen etwas geben muß, das Vergleiche erlaubt und so vom Singulären abstrahieren läßt”. Weder der Nominalismus noch der platonistische Begriffsrealismus können beweisen, “daß nur Besonderes und Allgemeines wirklich ist”. Dagegen haben Thomas von Aquin und Duns Skotus erkannt, “daß das, was existiert, sowenig in reiner Allgemeinheit sich erschöpft wie andererseits in reiner Singularität”. Die thomistische Metaphysik scheitert aber daran, daß sie den Unterschied von essentia und res nicht plausibel machen kann. Auch sie faßt ihr Verhältnis letztlich als ein tautologisches auf. Den Nominalismus kritisiert Haag wegen seiner antimetaphysischen Tendenz und Humes Assoziationspsychologie verwirft er, weil eine gegenständliche Synthesis von Vereinzeltem sich nicht ohne die Annahme einer objektiven Grundlage in der Welt erklären läßt.
Erst bei Kant trifft er auf ein Konzept einer negativen Metaphysik, das er für zutreffend hält. Es ist die Einsicht, daß der menschliche Geist nur bis zu der Erkenntnis vordringen kann, daß der Natur “eine ursprüngliche Organisation zu Grunde” liege: “Das an einem sinnlichen Gegenstand, was nicht Erscheinung ist, sein intelligibles Wesen, ohne das er eine Erscheinung von nichts wäre, kann positiv niemals erkannt werden”.
Daß er die höchst affirmativen Spekulationen des deutschen Idealismus ebenso verwirft wie die antimetaphysische Genügsamkeit des Positivismus, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Es überrascht aber, daß er bei Karl Marx einen negativen Begriff “der immanenten Form als Prinzip” antrifft, das auf die Entstehung der natürlichen Dinge verweist. In dieser Annahme, die einen Gedanken von Aristoteles aufnimmt, sieht Haag sowohl den Idealismus wie den Positivismus überwunden. Der Neuscholastik hält er zugute, daß sie die unüberholte Bedeutung des Universalienproblems in Erinnerung gebracht hat, wenngleich er ihrer Lösung sowenig zustimmen kann wie der Ontologie Heideggers. Gegen sie wendet er ein, daß sie “Vorstellungen der naturbeherrschenden Subjektivität” einen ontologischen Status zuschreibt, statt das Wesen transzendenten Seins angemessen zu bestimmen.
Im letzten Teil seiner Arbeit nimmt Haag Fragen des Positivismusstreits wieder auf; er erwähnt die Diskussion, in der die Frankfurter Teilnehmer keine gute Figur gemacht hatten, aber mit keinem Wort. Sein eigentlicher Kontrahent ist Karl Popper, den er nicht wie damals seine Kollegen zu den Positivisten rechnet, sondern zu den ersten Kritikern des Neopositivismus. Vor allem lehnt Haag die Behauptung Poppers ab, daß sich die Wahl des kritischen Rationalismus selbst nicht zwingend rational begründen lasse; insofern gesteht er dem Irrationalismus eine gewisse Priorität zu.
Die These, die Haag in seinem Buch problemgeschichtlich entfaltet und sachlich begründet, hat er am klarsten mit den folgenden Worten umschrieben: “Die positiv nicht bestimmbare Sphäre des Intelligiblen ist keine Ersatz-Konstruktion — vielmehr eine Forderung dessen, wovon philosophisches Denken ausgeht: der erscheinenden Dinge, die keine Erscheinungen von Nichts sein können.”

III.

Haags Buch ist ein strenger Traktat, der sich an substantielle Fragen hält, die ein weiteres Nachdenken verlangen. Seiner Argumentation liegt die Metapher des Erscheinens zugrunde, und es ist die Frage, ob man sein Problem auch nachvollziehbar ausdrücken kann, ohne diese Metapher zu verwenden. Es geht darum, ob hier ein echtes Problem vorliegt oder nur ein Fall, wo uns die Sprache verführt hat. Ich glaube, daß er ein wirkliches Problem im Auge hat. Zur Erläuterung müßte man von der fundamentalen Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein ausgehen, die nicht nur der Alltagsverstand, sondern erst recht die Wissenschaft und die Philosophie machen. Im weiteren müßte man ‘Schein’ im Sinne von ‘Täuschung’ oder ‘Illusion’ von Phänomenen unterscheiden, nämlich objektiv beschreibbaren Tatsachen, die sichtbar Gegebenes oder erschlossene Tatbestände betreffen. Und wir erfassen diese Erscheinungen mittels einer Erkenntnisweise, die wesentlich hypothetisch ist. Dabei sind wir gezwungen, Voraussetzungen zu machen, die sich ihrerseits wissenschaftlich nicht beschreiben lassen. Auf dem angedeuteten Weg läßt sich die Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen objektiven Erkennens so ausarbeiten, daß jene Metapher in der Formulierung nicht mehr auftaucht.
Des weiteren dürfte es nicht unmöglich sein, Haags Problem so zu präzisieren, daß das von ihm durchweg gebrauchte Subjekt-Objekt-Modell des Erkennens und Wissens durch ein Modell ersetzt wird, das der propositionalen Natur des Wissens gerecht wird. Und was das Universalienproblem angeht, so wäre seine Argumentation in der Weise umzuformen, daß zwischen ‘abstrakt’ und ‘allgemein’ genau unterschieden würde. Stegmüller hat auf diese Differenz, die in der traditionellen Philosophie bis zu Adorno selten beachtet wurde, in seinem berühmten Aufsatz Das Universalienproblem einst und jetzt (1956) hingewiesen. Doch begnügt er sich mit einer logisch-semantischen Analyse der anstehenden Fragen, ohne ihre metaphysischen Implikationen zu berücksichtigen. Um sie geht es Haag, dessen Ausführungen nur gewinnen können, wenn man sie um die logisch-semantischen Klärungen bereichert.
Zu seiner Kritik an Popper wäre zu ergänzen, daß dieser seinem Denken näher steht, als er wahrhaben will. Ganz unzutreffend ist Haags Behauptung, Popper ziele “auf eine rein physikalische Welterklärung”. Popper ist nach seinem Selbstverständnis vielmehr ein metaphysischer Realist und er hat die Notwendigkeit der Metaphysik immer verteidigt. Wir brauchen sie für ein allgemeines Weltbild, das sich jeder Mensch entwirft, sofern er überhaupt denkt, und wir brauchen sie deshalb, weil sie zu wissenschaftlichen Forschungsprogrammen anregen kann. Seine Theorie des objektiven Erkennens setzt eine Strukturiertheit der Natur an sich voraus. Und wenn er auch den platonistischen Essentialismus verwirft, so hält er doch an einem gemäßigten Essentialismus fest. Daß er auf einem irrationalen Moment in wesentlichen Entscheidungen besteht, dürfte mit der Beobachtung übereinstimmen, daß nur derjenige logisch-rationale Argumente gelten läßt, der sich entschlossen hat, die Grundregeln der Logik zu beachten, vor allem den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch. Und trivial ist die Beobachtung, daß viele Sprecher sich nicht für die Vernunft entscheiden.
Eine der überraschendsten Pointen der Arbeit ist, daß Haag nachweist, daß die Geschichtstheorie von Marx im Kern der Argumentationsstruktur des ontologischen Gottesbeweises folgt. Damit gibt Haag seine Distanz zu jedem Denken zu erkennen, das die Geschichte hypostasiert. Scharf wendet er sich gegen alle Philosophien, für die “alles Geschichte und der geschichtliche Prozeß alles” ist. In diesem Punkt hebt er sich am stärksten von der Hauptlinie der Kritischen Theorie ab, der selbst noch Habermas verhaftet bleibt, wenn er so etwas wie eine Nachmetaphysik konstruiert, was natürlich nur historizistisch sich begründen läßt. Wenn er auch die negative Metaphysik zurückweist, orientiert er sich aber nicht an Haag, dessen Arbeit er kennt, sondern vielmehr an Adorno, der eine zutiefst pessimistische Zeitdiagnose oder Weltbeschreibung gibt und derart positive Aussagen über letzte Fragen machen zu können beansprucht. Wer wie Habermas diese Variante der Metaphysik ablehnt, hat damit noch nicht die Position von Haag widerlegt. Dessen Geschichtskritik kommt auch dort zum Ausdruck, wo er von dem Pseudos der Moderne spricht und dagegen grundlegende Einwände erhebt.
Haags Werk ist von jener erfrischenden Unzeitgemäßheit, die das Kennzeichen aller wahren Philosophie ist. Denn, wie Rudolf Pannwitz sagt, soll die Philosophie nicht der Ausdruck, sondern die Richterin ihrer Zeit sein.

J.Q.   —   9.Dez. 2004

©J.Quack


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