Josef Quack

Spaemanns Idee des Sittlichen

Rez.: Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. (1989) Stuttgart: Klett-Cotta 2017.



Eine ethische Auffassung läßt sich lediglich durch ein ethisches Axiom stützen, doch wird eine rational schlüssige Entscheidung unmöglich, falls dieses Axiom keine Anerkennung findet. Mehr zu sagen, sehe ich mich außerstande.

B. Russell

Robert Spaemann, der in Stuttgart, Heidelberg und München Philosophie lehrte, ist weniger durch seine philosophischen Werke bekannt geworden als durch seine prononcierten, die humanen, letztlich christlichen Werte betonenden Stellungnahmen zu Fragen der politischen Moral und kirchlicher Streitigkeiten. Das hat seinen guten Grund. Wie man an seinem Buch über Glück und Wohlwollen, neben einer Studie über Personen, eines der beiden Hauptwerke des Autors, studieren kann, breitet er eine Fülle beachtenswerter, tiefsinniger Gedanken über das menschliche Dasein, die conditio humana, und das ethische Handeln aus. Es ist aber offensichtlich, daß ihm die Geste der autoritativen Belehrung näher liegt als die Gabe der überzeugenden Argumentation.
Das Buch ist zuerst 1989 erschienen. Es bezieht sich auch auf die damaligen Strömungen der Philosophie, die Diskursethik und die Systemtheorie, ohne freilich Jürgen Habermas, Spaemanns philosophischer Kontrahent in mancher öffentlichen Debatte, beim Namen zu nennen. Auch dies entspricht dem auf die sachlichen Probleme konzentrierten Denken des Autors. Das Buch ist nun zu seinem 90. Geburtstag wieder erschienen, was trotz der angedeuteten Vorbehalte gerechtfertigt ist, sind doch die ethischen Probleme, die hier zur Sprache kommen, in keiner Hinsicht überholt oder veraltet.
Man wird aber nicht sagen können, daß es ihm gelungen sei, seinen eigenen Entwurf des Sittlichen und der Ethik plausibel zu begründen. Seine Stärke ist vielmehr die Widerlegung jener ethischen Theorien, die inkonsistent oder mit der Idee des Sittlichen unvereinbar sind. Seine Schwäche ist die Begründung des eigenen Standpunkts. Dabei steht die umfassende philosophische Bildung Spaemanns außer Frage. Während zum Beispiel Ernst Tugendhat ein ausgewiesener Kenner des Aristoteles, von Kant, Heidegger und der analytischen Philosophie ist oder Jürgen Habermas sich vornehmlich auf Kant, Hegel, Max Weber oder Peirce bezieht, kann Spaemann nicht nur aus seiner Kenntnis der antiken und neuzeitlichen Philosophie schöpfen, sondern sich auch auf das Denken des Augustinus und des Thomas von Aquin berufen. Er bringt das unverächtliche Erbe des christlichen Denkens zur Geltung, das unsere Tradition geprägt hat, heute aber im akademischen Diskurs mehr oder weniger vergessen ist. In der Tat besteht nicht der geringste Vorzug dieses Essays darin, daß er auf wichtige ethische Artikel des Thomas hinweist. Man muß aber bedauern, daß er nicht auch die systematisch argumentierende Methode von Thomas übernommen hat.
Spaemann schreibt eher essayistisch-assoziativ als klar explizierend und hält sich selten damit auf, die Gedankenfolge genau darzustellen. So erreicht er eine ungewöhnliche Dichte der Darstellung, die aber auf Kosten der Verständlichkeit geht. Außerdem scheint ihm die Gabe einer einfachen und klaren Sprache zu fehlen. Neben Passagen luzider Begründungen stehen Abschnitte mit ungrammatischen, schlicht fehlerhaften Wortfolgen, die sich kaum entziffern lassen. Wie dem aber sei, sich auf das philosophische Erbe stützend, hält er die Belehrung letztlich für die wichtigste Aufgabe eines Philosophen, was denn auch sein öffentliches Engagement erklärt.
So ist die Lektüre der Studie äußerst mühsam. Ich habe aber nicht die Absicht, Spaemanns Gedanken zur Ethik in eine systematische Ordnung zu bringen. Ich werde vielmehr einige seiner tragenden Begriffe diskutieren und auf die Argumente verweisen, die er gegen andere ethische Richtungen vorbringt.
Absicht dieser Schrift ist es, die antike Vorstellung einer Ethik, verstanden als Lehre vom gelungenen Leben, mit der neuzeitlichen Vorstellung einer Ethik der Verantwortung, einer Ethik, die von der Idee der Glückseligkeit absieht, auf einen Nenner zu bringen.
Die Frage, ob ihm dies gelungen ist, hängt davon ab, was er unter dem Begriff des Sittlichen versteht, und davon, ob die Begründung seines ethischen Konzepts plausibel ist. In dieser Hinsicht lassen sich, wie gesagt, nicht alle Zweifel ausräumen.

Sprachliche Probleme

Die Lektüre der Studie wird durch sprachliche Probleme unnötig erschwert, vor allem dadurch, daß der Autor wie seine zeitgenössischen Kollegen, Lübbe, Luhmann, Marquardt, die Unsitte übernommen hat, alle möglichen Ausdrücke in Substantive zu transformieren und kettenmäßig zu verbinden. So spricht er etwa bei Aristoteles von der „Politik als Lehre von der Angemessenheit oder Unangemessenheit politischer Institutionen an die Bedingungen gelingenden Lebens“ (S. 27). Statt „an die Bedingungen“ müßte es besser heißen: im Hinblick auf … Auf gut deutsch lautet der Satz: Politik ist die Lehre, die untersucht, ob die politischen Institutionen den Bedingungen eines gelingenden Lebens angemessen sind. Man sieht hier übrigens, daß Aristoteles die politische Sphäre nach ethischen Idealen beurteilt und nicht wie der Marxismus die Ethik der Politik unterordnet.
An anderer Stelle meint Spaemann, eine „fundamental metaphysische Evidenz ist nicht eine solche, die jeder Zweifelsmöglichkeit absolut unzugänglich wäre“ (S. 149). Er will sagen, daß diese Evidenz angezweifelt werden könnte – was den Begriff der Evidenz natürlich aufhebt. Die gemeinte Sache ist eben nicht evident.
Neben solchen stilistischen Ungetümen, die das Verständnis unnötig erschweren, begegnet man der falschen Manier, statt von einer Reflexion über ein Thema immer von einer Reflexion auf ein Thema zu sprechen.

Widerlegungen

Doch möchte ich nicht weiter auf derartige Fehler eingehen, sondern auf die thematischen Vorzüge der Studie hinweisen, auf die überzeugende Widerlegung bestimmter ethischer Richtungen. So arbeitet Spaemann etwa die inneren Widersprüche des Hedonismus heraus und erklärt, daß sich das Gelingen des Lebens nicht als ein Ganzes von subjektiven Erlebnissen des Wohlbefindens definieren lasse (S. 67). Was den Stoizismus angeht, so weist er nach, daß diese Lehre das Prinzip der Selbsterhaltung bis zur Selbstaufhebung übertrieben habe (72). Zur naturalistischen Auffassung menschlichen Handelns bemerkt er, daß die für das Handeln wesentliche Intentionalität auf Zustände des Organismus reduziert werde – damit aber wird die Idee des guten Lebens im ethischen Sinne aufgegeben. Unzweifelhaft evident ist auch, daß der Naturalismus keine Orientierungsfragen beantworten könne (73f.).
Von den neuzeitlichen ethischen Konzepten widerlegt er dann den Utilitarismus, indem er aufzeigt, daß nach dieser Theorie sittliche Imperative in technische Imperative verwandelt und der einzelne Mensch letztlich entmündigt werde (191). Der Diskursethik wirft er zu Recht vor, daß sie die sittliche Urteilsbildung eigentlich mit politischen Entscheidungsprozesse verwechsle (204). Und gegen die spieltheoretische Ableitung der Gerechtigkeit, wie sie John Rawls vollzogen hat, wendet er ein: „Um eine gerechte Ordnung zu wählen, muß jemand schon gerecht sein“ (198). Richtig ist auch seine Erklärung, daß die Grenze jeder kommunikativen Ethik darin besteht, daß sie nur eine hypothetische Verbindlichkeit fordern könne ( 142).
Hier muß man freilich anmerken, daß Spaemann sich auf die ethische Position bezieht, die Habermas damals vertreten hat. Nicht berücksichtigt ist der spätere Versuch von Habermas, im Rahmen einer Diskurstheorie für die ethische Verpflichtung eine objektive Grundlage aufzuzeigen — in Analogie zur objektiven Grundlage der erkenntnistheoretischen Wahrheit (cf. J.Q., Grenzen einer säkularen Ethik, S. 105ff.).
Zu dem aktuellen Problem, ob es zulässig sei, die menschliche Natur mit gentechnischen oder ähnlichen Mitteln zu verändern oder zu manipulieren, gibt er zu bedenken, daß dies unzulässig sei, da es kein Kriterium gebe, „um einen nichtkontingenten Teil unserer Selbst, genannt Person, von einem kontingenten, disponiblen zu unterscheiden“ (254). Dieses Argument wird allerdings nur dem einleuchten, der Spaemanns Begriff der Person für zutreffend hält.

Idee des Sittlichen

Nun einige Kernthesen Spaemanns, die er mehr oder weniger deutlich expliziert. Ich werde sie hier kommentarlos wiedergeben und im nächsten Abschnitt auf einige damit verbundene begriffliche Probleme zu sprechen kommen.
Die Idee oder der Begriff des Sittlichen hat nach Spaemann einige Wesensmerkmale, die ihn gegenüber anderen Prädikaten auszeichnen, z. B. gegenüber dem Technischen. So betont er, daß „der moralische Gesichtspunkt die Handlung als gut oder schlecht im Hinblick auf das Leben als Ganzes [beurteile], der technische im Hinblick auf die Erreichung partikularer Zwecke.“ (20)
Dann verweist er darauf, daß die sittliche Dimension dem Begriff des menschlichen Lebens immanent sei, was sich daraus erkennen lasse, daß die Frage, wie man leben soll, die primäre, grundsätzlichste Frage der Ethik ist (33).
Vor allem aber betont er immer wieder, daß zum Begriff des Sittlichen die Dimension des Unbedingten wesentlich gehöre. Dazu möchte ich nur eine Stelle anführen, die man als Begründung dieser These betrachten kann. Gegenüber allen evolutionstheoretischen Erklärungen der Leistungen der Vernunft behauptet er, daß es einen Überschuß der Vernunft gebe, der sich nicht mehr als Funktion der Selbsterhaltung erklären lasse. Gemeint ist damit die „Eröffnung einer Dimension der Unbedingtheit“, „eines Horizontes, der als wesentlich unendlicher Horizont alle endlichen Interessen“ eines Lebewesens relativiere. „Die Worte 'Sein' und 'gut' eröffnen einen solchen Horizont des Unbedingten: Sein, insofern es gerade nicht meint: Gegenständlichkeit, Sein-für, sondern Selbstsein, das aller Objektivität zugrunde liegt; gut, insofern es gerade nicht meint 'gut für'“ (126f.). Der Mensch handelt als sittliches Wesen, insofern er fähig ist, den anderen in seinem „Selbstsein“ anzuerkennen; erst in dieser Anerkennung erwache er zu eigenem Selbstsein (136).
Die sittliche Dimension des Unbedingten zeigt sich dann auch in dem Verständnis der menschlichen Würde, die uns gebietet, daß der Mensch unbedingt zu achten sei (143). Spaemann beschreibt den Menschen als ein endliches Wesen, das seine eigene Stellung in der Menschenwelt als relativ durchschauen kann; damit trete es aus seiner Zentralität hinaus und werde zur „Repräsentation des Absoluten“. Ein Wesen dieser Art dürfe auf keine Weise rein instrumentell behandelt werden. Dieses Verbot aber sei nicht in einem abstrakten Imperativ begründet, sondern sei identisch mit der „Wahrnehmung von Selbstsein“ (171). Analog erklärt er, daß alle positiven Pflichten bedingt seien, hinsichtlich der Umstände, unbedingt sei nur die Pflicht, die Freiheit des Anderen, ihn als Person zu respektieren (268).
Diese Erklärungen sind letztlich nur verständlich, wenn man den eigentümlichen Begriff des Bewußtseins beachtet: „Bewußtsein ist zu sich gekommenes Leben. Vernunft aber ist nichts anderes als voll erwachtes Bewußtsein — Bewußtsein, das sich weiß und das sich als partikulare Wirklichkeit in einem absoluten Horizont weiß.“ (131) Gegen Kant behauptet er, daß nicht Unparteilichkeit das Fundament der sittlichen Entscheidung sei, sondern „die Wahrnehmung der Wirklichkeit des Anderen ebenso wie des eigenen Selbst“; er sieht die Basis aller Ethik in der „Evidenz der Wirklichkeit des Anderen und der eigenen Wirklichkeit als der eines Subjektes und nicht nur des ersten Triebobjektes“ (148f.).
Personen nennt er jene „Individuen die als diese Individuen zugleich des Wohlwollens und der wohlwollenden Relativierung der eigenen Interessen fähig sind“ (165).
Nach all diesen und ähnlichen Gedankenkonstruktionen ist man dann überrascht zu lesen, daß „unsere elementaren Intuitionen letzten Endes das einzige Kriterium ist, das uns in moralischen Fragen zur Verfügung steht“ (188). Nach seinen von metaphysischen Annahmen geleiteten Reflexionen versteht man aber auch, daß nach seiner Meinung eine Ethik ohne Metaphysik nicht möglich sei — das Schlagwort richtet sich offensichtlich, wenn auch wiederum ohne Namensnennung, gegen die programmatische Schrift von Günther Patzig Ethik ohne Metaphysik (1971); die Schrift ist ein Plädoyer für den Utilitarismus. Überdies bezieht Spaemann sich wiederholt auf christliche Ideen. So ist vor allem der Begriff der menschlichen Person, die als Repräsentation des Absoluten aufgefaßt wird, augenscheinlich von der biblischen Vorstellung abgeleitet, daß der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei, und wenn er von „realem Symbol“ spricht, verwendet er einen spezifischen Begriff der christlichen Sakramentenlehre, der höchst erklärungsbedürftig ist.

Begriffliche Probleme

Wie man aus dem kurzen Referat der Hauptideen ersieht, müßten fast alle Begriffe näher erläutert werden, weil Spaemann sie weder im umgangssprachlichen Sinne noch im gewöhnlichen philosophischen Sinne verwendet. Ich werde nur auf die vier Kernbegriffe seines Denkens hinweisen.
(1) Im Vorwort behauptet er zum Begriff des Seins, damit sei sowohl im klassischen wie im alltäglichen Sinn zuerst und vor allem Selbstsein gemeint, „also ein Jenseits aller Gegenständlichkeit“, und das Paradigma des Seins sei das Sein des Menschen, das aber nicht in Bezug auf den Menschen, d.h. auf Subjektivität definiert sei (11).
Dazu wäre zu bemerken, daß wir uns beim Gebrauch des Begriffs des Seins gewöhnlich an sichtbaren, körperlichen Objekten orientieren, d.h. wir sprechen das Prädikat „Sein“ eigenständig existierenden Gegenständen zu, wir betrachten sie im philosophischen Sinne als Substanzen, als Träger von Eigenschaften. Diese Verwendung des Begriffs widerspricht aber Spaemanns Annahme, was den umgangssprachlichen Gebrauch und was den üblichen philosophischen Gebrauch angeht. Außerdem ist unklar, wie eine Definition aussehen soll, die sich am Wesen des Menschen orientiert, sich dabei aber nicht auf das Subjekt-Sein des Menschen beziehen soll. Übrigens verwendet Spaemann, wie zitiert, später den Begriff des Selbstseins durchaus im Sinne von Subjekt und Substanz.
(2) Vielleicht noch irritierender als der Gebrauch des Seinsbegriffs ist die Bedeutung, die Spaemann mit dem alltäglichen Wort „Wirklichkeit“ verbindet, wie aus den Zitaten hervorgeht. Im Kontext ethischer Erörterungen versteht er darunter das sittliche Wesen oder die wahre Natur des Menschen, das moralische Wesen des Anderen und das Wesen seiner selbst (148f.). Damit ist nichts anderes gemeint als das Personsein des Menschen. In diesem Sinne ist auch die merkwürdige, zunächst unverständliche These zu verstehen, daß die „Affirmation der Wirklichkeit von Selbstsein ein freier Akt“ sei (151). Recht manieristisch spricht er davon, daß diese Wirklichkeit zu „realisieren“ sei, d.h. erkannt und anerkannt werden solle. Um die Verwirrung des Begriffs noch zu steigern, redet er sogar von der Wirklichkeit des Bildes der Person, womit wiederum nichts anders gemeint ist, als das wahre moralische Wesen der Person (155). Emphatisch definiert er dann das Wesen des Sittlichen als „Wirklichwerden eines Wirklichen für den Handelnden (191). Zudem unterscheidet er auch noch eine Rangordnung von Wirklichkeiten, was metaphysisch zu begründen sei (170) – dies bedeutet im einfachsten Falle nichts anderes, als daß nicht alle Dinge in ethischer Hinsicht gleich wichtig sind.
(3) Recht eigenwillig ist Spaemanns Ausdrucksweise für Phänomene des Bewußtwerdens und des Bewußtseins. Er spricht hier, recht eigentlich mystizistisch, von Erwachen, wo nichts anderes gemeint ist, als daß wir einen ethischen Sachverhalt als solchen erkennen. So erklärt er etwa, wirkliches Erwachen liege dann vor, „wo uns die Wirklichkeit der Person mit unbedingtem Anspruch auf Achtung, Wohlwollen,“ entgegentrete (222). Ich verzichte darauf zu ergründen, was das Erwachen zum Nichts sinnvoll bedeuten könne.
(4) Geradezu ärgerlich ist Spaemanns Gewohnheit, alle möglichen Substantivierungen mit „Selbst“ zu verbinden. Es wimmelt in seinem Text von Selbstvergegenständlichung, Selbsttranszendenz, Selbstthematisierung, Selbstverwirklichung, Selbstsein u.ä. — alles Begriffe, die an Ort und Stelle entziffert und in normale Rede übersetzt werden müssen. Was die persönliche Identität angeht, so scheint er anzunehmen, es liege eine Selbstentfremdung vor, wenn wir verschiedene Rollen ausüben — was schlicht und einfach ein Irrtum ist. Im Begriff der Rolle ist zwar impliziert, daß er als Gegensatz zu unserer eigentlichen Existenzweise definiert ist; doch ist dies keineswegs negativ zu verstehen. D.h. wir können bei all den Rollen, die wir ausüben, als Lehrer, Vater, Wähler etc., immer fragen, was wir denn eigentlich jenseits dieser Rollen seien. Wer in allen Lebenslagen sich als Lehrer aufführte, wäre buchstäblich nicht ganz normal. Die déformation professionelle besteht gerade darin, daß man nicht mehr zwischen Rolle und Selbst unterscheidet. Die soziale Rolle ist eine Verhaltensweise, die das Selbst bewußt wählen und vollkommen beherrschen kann. Daß wir uns von unserem Rollenverhalten distanzieren können, ist wesentlich und eine Voraussetzung vernünftigen Lebens (cf. zum Thema das Standardwerk von Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. 1979).

Zum Schluß

Schließlich will ich nicht verschweigen, daß Spaemanns Studie, was bei der Gelehrsamkeit des Autors auch nicht anders zu erwarten war, auch einige unverächtliche Einsichten enthält. So hat er etwa recht klar erläutert, daß nicht jede Selbstliebe als Egoismus zu betrachten und zu bewerten sei. Dieses Argument ist deshalb wichtig, weil es einem bekannten Topos der Religionskritik, die sich an Max Weber orientiert, genau widerspricht, dem Topos vom Heilsegoismus des Christentums. Spaemann erwähnt zwar nicht diesen Zusammenhang, doch verweist er auf Sartre, der die Eigenart der religiösen Einstellung durchaus richtig gesehen habe.
Und zum Besten der Studie gehört, wie gesagt, der Hinweis auf bedeutende ethische Erklärungen des Thomas von Aquin, besonders der Hinweis auf die Summa theologiae I-II, quaestio XIX, art. 10. In diesem Artikel wird begründet, daß der menschliche Wille wohl formaliter mit dem göttlichen Willen übereinstimmen sollte, es materialiter aber nicht kann, da wir nicht allwissend sind. Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen einem erstrebten Gut in besonderer Hinsicht und einem Gut in allgemeiner Hinsicht. Thomas kommt zu dem Ergebnis, daß der menschliche Wille dann mit dem göttlichen Willen übereinstimme, wenn er das will, was Gott will, daß er es will: "vult hoc quod Deus vult eum velle". — Eine subtile Unterscheidung. Der Artikel ist es wirklich wert, gründlich studiert zu werden.
Alles in allem muß man feststellen, daß es Spaemann nicht gelungen ist, das Konzept einer traditionellen, im Grunde christlich geprägten Ethik in einer zusammenhängenden, systematisch geordneten Argumentation zu beschreiben. Daß es aber einem der wenigen ernstzunehmenden christlichen Intellektuellen unserer Zeit nicht gegeben war, seinen Standpunkt überzeugend zu begründen, scheint mir symptomatisch für die Rolle des Christentums zu sein, die es im intellektuellen Leben unserer säkularen Gesellschaft tatsächlich spielt.

J.Q. — 5. Jan. 2018

© J.Quack


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