Rez.: Peter Trawny, Martin Heidegger. Eine kritische Einführung. Frankfurt: Vittorio Klostermann 2016.
Nicht der Weg ist das Schwierige, sondern das Schwierige ist der Weg.
Wir helfen dem heutigen Geschlecht am besten, wenn wir es mit dem Denken verschonen.
Es ist kein kleines Wagnis, eine kurze und konzise Einführung in das Denken Heideggers zu verfassen – keineswegs deshalb, weil das Werk Heideggers inzwischen fast 90 Bände umfaßt, die zu lesen und zu studieren mehrere Jahre erfordern würde. Doch muß man diese Bücher nicht alle gelesen haben, es genügt, wenn man die Hauptwerke kennt, die Heidegger selbst veröffentlicht hat, und aus dem Nachlaß die bedeutendsten Schriften, wie etwa sein zweites Hauptwerk, die Beiträge zur Philosophie. Gewagt ist eine derartige Einführung vielmehr deshalb, weil Heideggers Denken im sprachlichen Ausdruck höchst eigenwillig und in der Gedankenführung gewunden und vieldeutig, letztlich esoterisch ist. Für ein Referat ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten: die Übernahme seines philosophischen Jargons, die Nacherzählung seiner Gedanken in seiner Diktion, oder der Versuch, Heideggers Gedanken rational zu rekonstruieren und in verständlicher Sprache wiederzugeben. Trawny hat einen Mittelweg gewählt: er bemüht sich, umgangssprachlich verständlich zu machen, was Heidegger jeweils sagen wollte, doch begnügt er sich bei der esoterischen Spätphilosophie vielfach damit, die sprachmystizistischen Ausdrucksweise zu zitieren.
Zur formalen Anlage des Buches wäre zu sagen, daß es leider weder ein Personenverzeichnis noch ein richtiges Literaturverzeichnis enthält, sondern nur ein paar kümmerliche Literaturhinweise, die zudem von der verbreiteten, typisch akademischen Irrlehre bestimmt zu sein scheinen, daß die neuesten Arbeiten über Heidegger auch die bedeutendsten seien. Doch ist es schon ein wenig blamabel, daß in der Einführung die griechischen Wörter in lateinischer Umschrift wiedergegeben werden. Jeder Oberschüler, erst recht jeder Mathematikstudent, kann die griechischen Buchstaben nicht nur lesen, sondern auch schreiben – doch den an Philosophie interessierten Lesern wird diese elementare Kenntnis nicht zugetraut. Ein Armutszeugnis für diese Klientel. Dabei dürfte doch wohl klar sein, daß derjenige, der Griechisch nicht mal lesen kann, auch von Heidegger wenig verstehen wird.
Ärgerlich ist aber, daß diese Umschrift oft fehlerhaft und irreführend ist, weil Trawny gelegentlich falsche Akzente setzt, prinzipiell nicht zwischen Omikron und Omega oder zwischen Epsilon und Eta unterscheidet. Ohne die Ausdrücke auf deutsch zu erklären, spricht er z. B. von der platonischen Unterscheidung „zwischen einem óntos ón und einem mè ón“ (153). Das soll heißen: οντως ον (wahrhaft seiend) vs. μη ον (nicht seiend). Von „Intensitätsgraden“ des Seins kann man hier aber natürlich nur sprechen, wenn man richtig unterscheidet: „wahrhaft seiend“ vs. „nicht wahrhaft seiend“. Die Differenz erinnert offensichtlich an die bekannte Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz in Sein und Zeit. Wenn Heidegger das Nichtseiende als seiend bezeichnet, verwendet er offensichtlich zwei verschiedene Begriffe von "sein" (cf. Beiträge zur Philosophie (GA 65, 74; d.i. Gesamtausgabe Bd. 65). Kurzum, die Lektüre der griechischen Begriffe in dieser Umschrift ist ein frustrierendes Geschäft.
Dies gilt jedoch nicht für die Einführung insgesamt. Sie ist vielmehr aufs Ganze gesehen durchaus vorbildlich und bewundernswert. Es ist gewiß keine leichte Sache, die komplexe, bisweilen widersprüchliche, vielfach schillernde, sprachlich eigenartige Philosophie Heideggers in ihren Grundzügen übersichtlich und einigermaßen objektiv nachzuzeichnen. Trawny hat diese Aufgabe mit einigem Geschick erfüllt, so daß man sagen kann, daß er geleistet hat, was man im Rahmen einer kurzen Einführung überhaupt leisten kann.
So sind denn die folgenden Anmerkungen nicht so sehr als Korrekturen, sondern vielmehr als Ergänzungen gedacht. Trawny meint, Heideggers philosophischer Anfang sei nicht einfach zu bestimmen (17) – dem widerspricht Heidegger, wenn er zwei Werke nennt, von denen er philosophieren lernte: Franz von Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles, und Hermann Lotze, Metaphysik (GA 97, 470; cf. 319). Auch in den Beiträgen zur Philosophie (GA 65,73) verweist er rühmend auf Lotze, den er den Autoren, die für die von Nietzsche verfälschte Antike schwärmen, entgegenstellt.
Ein besonderes Problem ergibt sich für das Verständnis der Heideggerischen Philosophie aus dem Umstand, daß die in den letzten Jahren veröffentlichten Schwarzen Hefte die philosophisch oder kulturkritisch begründete antijüdische Einstellung Heideggers dokumentieren, ohne daß daran ein Zweifel offen bliebe. Dies hat den Verdacht aufkommen lassen, daß auch die anderen Schriften des Philosophen antisemitisch gefärbt sein könnten. Trawny hat dieses Problem untersucht, aber nicht in jedem Fall überzeugend erklären können.
Nicht plausibel erscheint mir die Behauptung, wenn Heidegger in seiner frühen Auslegung der paulinischen Briefe an die Thessalonicher die Eigenart der christlichen Existenz herausarbeite, verdränge er die jüdischen Ideen im Christentum, was vermuten lasse, dies sei Antijudaismus (32). Damit zeigt der Verfasser, daß er die wesentliche Differenz zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben nicht genau beschrieben hat. Denn das Christentum hat ja das Alte Testament nicht sans phrase zurückgewiesen, sondern es übernommen, aber seine Heilsgeschichte in einem christlichen Sinne verstanden, d.h. gegen das jüdische Verständnis umgedeutet. Dieser theologische Gegensatz, der das Wesen des Christentums ausmacht, wird jedoch gewöhnlich nicht als Antijudaismus bezeichnet.
Die Sachlage ist ein wenig komplizierter, als angedeutet. Wer nach der Eigenart des Christlichen im Unterschied zum griechischen Religionsverständnis fragt, muß den kulturellen Umstand berücksichtigen, daß sowohl das Urchristentum als auch Teile des damaligen Judentums hellenistisch geprägt oder beeinflußt waren. Paulus zitierte das Alte Testament nicht nach der hebräischen Bibel, sondern nach der Septuaginta, der griechischen Übersetzung, und zwar meist auswendig, was seine enge Vertrautheit mit diesem Text bezeugt. Er dachte griechisch (cf. Jürgen Becker, Paulus. Der Apostel der Völker. 1998, 55.). Nur ein kulturhistorischer Ignorant — als solche muß man leider einige Heidegger-Kritiker bezeichnen, natürlich nicht Trawny — kann auf die Idee kommen, die Klärung solcher Fragen sei antisemitisch motiviert.
Doch bei der Analyse des „Man“, die der Verfasser als typische Verhaltensweise der großstädtischen Zivilisation auffaßt, vermutet er ein antijüdisches Ressentiment – was alles andere als überzeugend ist (52). Denn die Verhaltensweise des „Man“, die der eigentlichen Existenzweise des Menschen entgegengesetzt ist, ist eine uneigentliche existentielle Einstellung, die in allen möglichen gesellschaftlichen Milieus oder Zivilisationsformen anzutreffen ist. Zu einer bestimmten Analyse des „Man“ in Sein und Zeit schreibt George Steiner vielmehr geradezu emphatisch, sie gehöre zum Tiefsten und Schonungslosesten, „was wir zum Verhalten des ‚Man‘ unter dem Totalitarismus haben“. Das heißt aber nichts anderes, als daß jene Beschreibung des Man das genaue Gegenteil eines Antisemitismus ist (Martin Heidegger. Eine Einführung. 1989, 149).
Was dagegen die expliziten antijüdischen Aufzeichnungen der Schwarzen Hefte angeht, so hat Trawny Heideggers skandalöse, ressentimentgeladene, kulturkritisch argumentierende Verurteilung des Judentums durchaus zutreffend analysiert und plausibel als „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ bezeichnet. Ungeklärt bleibt freilich, was Heidegger jeweils mit der auf den ersten Blick im zeitgeschichtlichen Kontext so mißverständlichen und anstößigen Denkfigur der Selbstvernichtung meint, ein Prädikat, das er ja nicht nur auf das Judentum, sondern auch auf das Deutschtum und auf Europa anwendet. Heidegger spricht von metaphysischen, geistigen Vorgängen; die offene Frage ist, auf welche realen Phänomene sich die metaphysische Deutung bezieht.
Auch kann man wohl nicht behaupten, daß in dieser Einführung Heideggers Verständnis des Nationalsozialismus in jeder Hinsicht adäquat beschrieben sei. Trawny meint, daß für Heidegger „die Revolution von 1933 als ein ‚Geschick‘ notwendig alternativlos“ gewesen sei (74). Das stimmt zwar durchaus mit dem Schicksalsglauben des Philosophen überein. Jedoch hat Heidegger mehrfach von dem „verbrecherischen Wesen Hitlers“ oder von dem „verbrecherischen Wahnsinn Hitlers“ gesprochen (GA 97,444; 460). Damit will er gerade sagen, daß er dies 1933 eben nicht erkannt oder gesehen habe – er will aber offenbar keineswegs zu verstehen geben, daß sein Bekenntnis zu Hitler 1933 alternativlos gewesen sei. Mir scheint, daß Heideggers Selbstrechtfertigung nach dem Krieg nicht in allem schlüssig und konsistent ist. Wenn er sich dagegen wehrt, daß sein Votum für Hitler 1933 ein politischer Irrtum oder ein moralischer Fehler gewesen sei, und behauptet, er habe sich in seinsgeschichtlicher Hinsicht geirrt, so ist die Fadenscheinigkeit dieser Argumentation doch nur zu offensichtlich. Andererseits sollte man aber auch zur Kenntnis nehmen, daß er in einem Brief an Jaspers (7.3.1950) von seiner Scham über sein damaliges Verhalten spricht, was ja wohl das Eingeständnis einer moralischen Schuld impliziert.
Trawny widerspricht an mehreren Stellen der üblichen Auffassung, die Heideggers philosophische Wandlung nach Sein und Zeit als „Kehre“ bezeichnet (111). Diese Kritik kann nicht recht überzeugen, da Trawny mit anderen Worten dasselbe sagt, wenn er einige Seiten später von „einer tiefgreifenden Umstrukturierung“ von Heideggers Denken anfangs der dreißiger Jahre spricht (114).
Ein weiterer heikle Punkt in Heideggers Philosophie ist, wie schon angedeutet, sein genaues Verhältnis zum Christentum. Mir scheint, daß Trawny die Komplexität dieses Verhältnisses letztlich doch nicht recht bedacht hat: Heideggers berechtigte Aversion gegen das klerikale Machtstreben, seine Kritik des uneigentlichen Christentums als Kulturerscheinung und sein Verständnis der radikalen christlichen Existenz, die zweifelos für ihn das ursprüngliche Modell einer eigentlichen Existenzweise war. Nicht erwähnt und bedacht wurde in dieser Einführung die merkwürdige Tatsache, daß dieser, z. B. von Habermas so genannte neuheidnische Philosoph sich öfter in eine Benediktinerabtei zurückzog, um, den Tageslauf der Mönche mitmachend, philosophisch zu arbeiten. Außerdem hat er für seine eigenartige Seinsgeschichte den christlichen Begriff der Eschatologie übernommen – eine begriffliche Übernahme ist aber nach des Philosophen oft geäußerten Meinung keineswegs eine äußerliche Sache. Schließlich erscheint die von Leibniz stammende und von Heidegger übernommene Grundfrage der Metaphysik, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, nur dann sinnvoll, wenn man die jüdisch-christliche Anschauung einer Schöpfung aus dem Nichts teilt. Darauf hat zuerst Karl Löwith aufmerksam gemacht.
Heidegger verstand sich als nichtglaubend im christlichen Sinne, doch ist sein Denken wesentlich durch christliche Denkfiguren geprägt und ohne sie nicht adäquat zu verstehen. Wenn er die christliche Philosophie oft verächtlich beurteilt, vergißt er die keineswegs peripheren christlichen Wurzeln seiner eigenen Philosophie.
Die vom Verfasser mehrfach erwähnte und auch von ihm selbst verwendete Weg-Metaphorik Heideggers dürfte sich wohl von dem Gedanken Kierkegaards herleiten: „Nicht der Weg ist das Schwierige, sondern das Schwierige ist der Weg.“ - Zu diesem Thema bemerkt der Verfasser, anläßlich der antisemitischen Äußerungen Heideggers, sein Philosophieren sei auf schreckliche Abwege geraten: „Wer glaubt, er könne diesem Denken begegnen, ohne auch die Abwege zu verfolgen, wird keine ernstzunehmende Auslegung entwickeln können.“ (102) Hier übernimmt Trawny offensichtlich den bedeutungsvoll vagen Jargon, der für die geistgläubigen Podiumsgespräche der fünfziger Jahre typisch war. Richtig ist, daß die antisemitischen Äußerungen zur „Bewegung“ von Heideggers Denken gehören – doch ist damit noch nicht bewiesen, daß die antisemitischen Reflexionen notwendigerweise aus diesem Denken folgten, das ja keineswegs ein konsistentes, argumentativ vollständig durchgearbeitetes einheitliches System bildet. Außerdem, was soll es heißen „einem Denken begegnen“? Doch wohl nichts anderes, als daß man es wahrnimmt und prüft; dann ist es doch wohl selbstverständlich, daß man auch die Fehler und Irrtümer dieses Denkers zur Kenntnis nimmt und kritisiert.
Auch zur Diskussion über das Schlagwort Nietzsches „Gott ist tot“ wäre einiges zu ergänzen. Das Schlagwort ist eine metaphorische Aussage, die bedeutet, daß der christliche Glaube in der Moderne praktisch bedeutungslos geworden sei und von der Mehrheit der Menschen nicht mehr geteilt werde. Wenn Trawny die These mit den Worten paraphrasiert, daß sich „die Kraft des christlichen Gottes (Unterstreichung von mir) in den zwei Jahrtausenden europäischer Geschichte aufgebraucht“ habe (134), denn leistet er sich einen signifikanten Versprecher; es müßte nämlich richtig heißen, daß sich die Kraft des christlichen Glaubens erschöpft habe.
Nicht berücksichtigt hat Trawny Heideggers spätere wichtige Überlegung zu dem Gedanken Nietzsches, daß eigentlich nur der moralische Gott widerlegt sei. Dazu bemerkt Heidegger: „Der Gott als Wert gedacht, und sei er der höchste, ist kein Gott. Also ist Gott nicht tot.“ (Denkerfahrungen 1983, 86; cf. , Wenn das Denken feiert, 2013, 22). Im Lichte dieser Erklärung gewinnt die ganze Diskussion über die derzeit verbreitete Glaubenslosigkeit ein anderes Ansehen.
An der erwähnten Stelle meint Trawny, die Diskussion über den Glaubensschwund und eine mögliche Wiederkehr der Religion sei ein deutscher Sonderdiskurs; in Frankreich gebe es nichts Ähnliches. Dem steht entgegen, daß man auch in Frankreich über dieses Problem in einem analogen Sinne reflektiert hat, konkret über die Auffassung, die sich in dem Satz konzentriert: „Dieu se retire“ (Gott zieht sich zurück). Ernst Jünger zitiert diesen Ausspruch, der, wenn ich mich recht erinnere, wohl von Léon Bloy stammt.
Das schwächste Kapitel dieser Einführung ist zweifellos die Skizze über Heideggers Wirkungen. Trawny zählt dazu auch einige prominente, aber philosophisch unbedeutende Autoren, Kronzeugen, die gewiß nicht für Heideggers Denkqualität einstehen könnten; doch hat Trawny vergessen, wichtige Philosophen und bedeutende Werke der Wirkungsgeschichte Heideggers zu erwähnen.
Er hat zwar Jacques Derrida genannt, nicht jedoch auf die Fragwürdigkeit seines Denk- und Sprachstils hingewiesen, der in dieser Hinsicht dem Sprach- und Denkstil Heideggers wohl ebenbürtig ist. Vor allem aber hat er Derridas Schrift La vérité en peinture (1978 - Die Wahrheit in der Malerei) nicht erwähnt, vielleicht deshalb, weil sie nicht übersetzt wurde. Die Schrift ist aber für das Verständnis von Heideggers Aufsatz über das Kunstwerk deshalb wichtig, weil Derrida sich mit den kunstwissenschaftlichen Einwänden auseinandersetzt, die gegen jenen Aufsatz vorgebracht wurden.
Der empfindlichste Mangel dieses Kapitels besteht jedoch darin, daß die Arbeiten von Ernst Tugendhat nicht berücksichtigt wurden, einem Schüler Heideggers, der sich später der sprachanalytischen Philosophie zuwandte und der bedeutendste Vertreter dieser Philosophie in Deutschland wurde. Es gibt fünf gute Gründe, Tugendhat in der Wirkungsgeschichte Heideggers nicht zu übergehen.
(1) Tugenhats Habilitationsschrift Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (1967) ist wegen der Kritik des Wahrheitsbegriffs und Heideggers Spätphilosophie bis heute nicht überholt.
(2) Tugendhat ließ es aber bei dieser Kritik nicht bewenden, er hat vielmehr Heideggers leitende Intention des Philosophierens in den Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (1976) übernommen. Diese Vorlesungen stellen nämlich einen Gegenentwurf zu Heideggers an der Seinsfrage als dem Einheits- und Zielpunkt allen Denkens orientierten Philosophie dar. Sie sind ein „Versuch, Heideggers Frage nach der einheitlichen Struktur des Verstehens in neuer Weise aufzunehmen“, wie Tugendhat schreibt.
(3) In der Schrift über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979) bezieht Tugendhat sich auf Heideggers völlig neue Beschreibung des menschlichen Selbstverständnisses, um den anfechtbaren Begriff des Selbst und des Selbstbewußtseins plausibel zu reformulieren.
(4) Außerordentlich wichtig ist schließlich Tugendhats Aufsatz über „Heideggers Seinsfrage“ (1992), in dem er die rationale Intention Heideggers bei dieser Frage zu beschreiben versucht und auf die logisch-semantischen Fehler in Heideggers Auffassung des Seins aufmerksam macht. Hätte Trawny diesen Aufsatz gekannt, dann hätte er nicht Heideggers Übersetzung von ουσια als Anwesen, verstanden als Anwesenheit oder Gegenwart, kritiklos referiert.
(5) Schließlich sollte man Tugendhat in diesem Zusammenhang allein auch deshalb nennen, weil Heidegger seine Arbeiten gelesen hat und weil Tugendhat einen Text von ihm korrigiert und Heidegger diese Korrektur übernommen hat — wohl ein einmaliges Ereignis in der Denkgeschichte Heideggers (E. Tugendhat, Philosophische Aufsätze 1992, 14f.).
Korrigieren muß man schließlich die Behauptung Trawnys, Heideggers Auslegungen Hölderlins seien von der Germanistik, von einer Ausnahme abgesehen, abgelehnt worden. Dagegen schreibt Thomas Rohberg, daß ein zentraler Gedanke Heideggers, Hölderlin als Dichter des Dichters, in der Hölderlin-Forschung Epoche gemacht habe (Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung 2003, 9). Und George Steiner, der mit seiner Kritik an Heideggers politischem Verhalten nicht zurückhält, schreibt wiederum emphatisch: „Die vier Hölderlin-Deutungen [der Jahre zwischen 1936 und 1944] stellen eines der beunruhigendsten, faszinierendsten Dokumente in der Geschichte des Abendlandes dar“ (Martin Heidegger. Eine Einführung. 1989, 204).
Genug der Anmerkungen. Eine Einführung kann natürlich nicht alle Fragen eines Philosophen aufgreifen und beantworten. Doch bleiben hier einige Fragen offen, die sozusagen von Rechts wegen hätten beantwortet werden sollen. So viel man über die Wendungen und Windungen, die haltbaren und unhaltbaren Thesen und Philosopheme Heideggers aus dieser Einführung auch lernen kann, zwei nicht unerhebliche Dinge bleiben letztlich unerklärt: was Heidegger eigentlich unter dem deutschen Wesen versteht, warum es vor allen anderen Nationalitäten ausgezeichnet sein soll, und was er denn letztlich unter dem Sein versteht. Um eine Formulierung von Walter Benjamin aufzugreifen, die Einführung läßt den Leser in diesem Punkt aller Punkte trotz ausführlicher Kommentare letztlich ratlos wie Geisterrede.