Josef Quack

Latein — Bildung und Hobby

Wilfried Stroh, Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. Berlin: List 2007.



Alle fleißig walteten sie des Lehramts;
Schmal nur war der Sold ja und dünn der Vortrag.
Aber da sie lehrten zu meinen Zeiten,
Will ich sie nennen.

Ausonius

Res severa verum gaudium.

Seneca

In einem Film von Fellini will ein Lateinlehrer seinen Schülern zeigen, wo Caesar den Rubikon überschritten hat. Die weltberühmte Tat nachahmend, stiefelt der rauschebärtige Schulmann durch ein rinnsäliges Bächlein, die kichernde Knabenschar hinterdrein. Bei Stroh kann man lesen, daß er ein Römermuseum mit einer altrömischen "dedicatio (Weihung) an die Musen und den vergöttlichten Kaiser Vespasian — natürlich mit entsprechenden (unblutigen) Opfern" eröffnen wollte. Auf einige Proteste hin betont er aber, daß er nicht die Absicht habe, die altrömische Religion wieder einzuführen.
Selbst wenn man mit Lichtenberg zugesteht, daß nur derjenige eine Fremdsprache richtig lernen kann, der ein kleiner Geck ist, muß man angesichts solcher Scherze doch sagen, daß diese Latein-Enthusiasten ein wenig zu weit gegangen sind.

Pro

Wie dem aber sei, man muß anerkennen, daß Wilfried Stroh, emeritierter Professor für Klassische Philologie in München, von seiner Sache, dem Lateinischen, überzeugt ist und die seltene Gabe besitzt, auch andere davon zu überzeugen. Er ist Lateinlehrer von Berufung und sein Enthusiasmus ist ansteckend. Er ist das glänzende Gegenteil zu jenen leider allzu zahlreichen Lehrern, die die Schüler mit Dingen anöden, von denen sie selbst auch nicht viel halten.
Sein Buch ist ein einziges Plädoyer für ein lebendiges Latein, eine Sprache, deren Wert man nur erkennen kann, wenn man sie selber spricht. Und er schreibt ein lebendiges Deutsch, immer klar und durchsichtig, oft witzig und ironisch, lebensnah, sorgfältig formulierend und doch an der heutigen Umgangssprache orientiert. Sein über die Maßen verehrter Held unter den Lateinern ist Marcus Tullius Cicero, der Meister der kunstvollsten Prosa und der reichgegliederten Periode. Er ist die am häufigsten erwähnte Person des Buches, während in der römischen Antike, vom Mittelalter zu schweigen, Vergil der am häufigsten zitierte Autor war. Doch ist Stroh kein stilistischer Nachahmer Ciceros, anders als der schärfste Kritiker des antiken Redners, Theodor Mommsen oder gar Karl Kraus, die, das Muster der lateinischen Periode vor Augen, im Deutschen umfängliche Satzkonstruktionen kompliziertester Bauart vorlegten.
Strohs Thema ist die Geschichte der lateinischen Sprache, wobei Sprache im weitesten Sinne verstanden wird. Er skizziert nicht nur die Entwicklung der Grammatik, des Wortschatzes und der Aussprache, er gibt einen Abriß der lateinischen Literatur mit erhellenden Exkursen in die politische Historie, die Kultur- und Sittengeschichte, die Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit, und schließlich erzählt er die Geschichte des Lateinunterrichts von der Römerzeit bis in unsere unmittelbare Gegenwart.
Strohs These lautet, daß Latein nur deshalb zu einer Weltsprache werden und sich als Gelehrtensprache nur deshalb über Jahrhunderte halten konnte, weil es seit Ciceros Tagen, wo es als Sprache normiert und vereinheitlicht wurde, in seiner grammatischen Struktur unverändert geblieben ist. Da es sich in dieser Hinsicht nicht mehr weiterentwickelt hat, sondern nur im Wortschatz bereichert und in der Aussprache verändert wurde, kann man es tatsächlich von diesem Zeitpunkt an als tote Sprache bezeichnen. Das ist natürlich augenzwinkernd gesagt, denn es ist offensichtlich, daß ‚tot' hier eine biologische Metapher ist, die man nicht wörtlich nehmen darf. Stroh räumt ein, daß die Vereinheitlichung des Lateinischen "von Nutzen gewesen sei für die Organisation des Imperiums", will aber darauf nicht die Erstarrung der Sprache zurückführen: "Am ‚Tod' des Lateinischen war, meine ich, nicht irgendein Nutzen schuld, sondern die ästhetische Mustergültigkeit seiner Meisterwerke." Der langen Rede kurzer Sinn: für Stroh ist Latein niemals gestorben, sondern lebendig bis in unsere Zeit.
Die größte Leistung des Buches besteht wohl darin, daß es Stroh gelungen ist, eine riesige Stoffmasse sinnvoll zu organisieren, einen klaren Überblick über zwei Jahrtausende europäischer Geistesgeschichte zu geben, eine kluge Auswahl aus einem Heer von bedeutenden und weniger bedeutenden Autoren zu treffen. Das Buch bietet eine Fülle von Textbeispielen, die die Behauptungen des Autors illustrieren sollen. Es ist nicht nur ein kleines Lehrbuch des Lateinischen, sondern vor allem auch eine Anthologie ausgewählter Zitate aus hervorragenden Dichtungen im Original, nebst genauen und kunstgerechten Übersetzungen, die alle aus der Feder des Autors stammen.
Die Kunst und das Können des Philologen bewähren sich in der genauen Erklärung der Texte, der Wörter, der Sätze und der Formen, der Aussprache. Er verschmäht es nicht, vielgebrauchte und oft mißverstandene Aussprüche richtigzustellen, so Alea jacta est oder Cui bono, das nicht ‚Zu welchem Nutzen' heißt, sondern ‚Wem zum Vorteil'. Und wir erfahren, daß in Ora und labora, der Klosterregel des hl. Benedikt, laborare nicht mehr im klassischen Sinne von ‚Mühe haben', sondern im Sinne von ‚arbeiten' verwendet wird.
Auch dürften wenige Leser wissen, daß Vergil durchaus Jesaja oder das Buch Exodus gekannt haben könnte. Und wer nicht gerade Exeget ist, wird überrascht sein zu hören, daß Luther bei seiner Bibelübersetzung sich eng an die Vulgata des Hieronymus anlehnte.
Kaum zu glauben ist die gewiß wahre Information, daß "in absoluten Zahlen gerechnet noch nie so viele Schüler in Deutschland Latein gelernt hatten wie in den fünfziger Jahren" des verflossenen Jahrhunderts. Leider ist es auch allzu wahr, daß in den 1970er Jahren die Fachdidaktik insgesamt von einem Delirium befallen wurde, von dem sich die Schule bis heute nicht erholt hat: für Latein wurden fast achtzig kognitive Lernziele aufgelistet!
Nur mit der größten Sympathie kann man die wohlbegründete Polemik lesen, die Stroh dagegen vorbringt, daß Englisch sich auch bei uns als Sprache der Universitätslehre und der Geisteswissenschaften immer mehr durchsetzt — "ein echter Rückschritt".

Contra

Das meiste, was Stroh zugunsten seiner geliebten Sprache anführt, Wohlklang, Klarheit, Schönheit, Reichtum der Gliederung u.ä., sind ästhetische Qualitäten. Wenn er auch zu humanitas einige Worterklärungen gibt und sich über den Humanismus verbreitet, so bleibt der beredte Mann in dieser Hinsicht doch ein wenig wortkarg. Er mokiert sich über Humboldts Ansinnen, daß Griechisch für den Tischler ebenso nützlich sein könnte wie Tischlern für den Gelehrten. Wenn Humboldt dieses Ideal auch selbst nicht verwirklicht hat, so gab es doch einen ausgewiesenen Kenner Platons und des Griechischen, der eine Tischlerlehre absolviert hat: Karl Popper.
Im Grunde kann Stroh Latein nur ästhetisch rechtfertigen, und er kommt darin dem großen Philologen Ernst Robert Curtius recht nahe, der einmal bemerkte: "Wir sehnen uns nach einem Humanismus, der von aller Pädagogik (und Politik!) gereinigt ist und die Schönheit genießt. In ihm wird auch Platz sein für eine ästhetische Kritik."
Auch Strohs Bemerkungen zum Klassischen bleiben peripher, und man ist versucht zu sagen, sie mußten nebensächlich bleiben, weil er sonst nicht das uneingeschränkte Lob des Lateinischen hätte singen können; er hätte das Griechische weitaus stärker berücksichtigen müssen, als er es getan hat. Ja, wem es wirklich ernst ist mit der Erkenntnis der Antike, wer die Große Philosophie und Dichtung aus erster Hand kennen lernen möchte, der kann nun einmal nicht umhin, Griechisch zu lernen. Latein bleibt da immer zweite Wahl. Die großen lateinisch schreibenden Philosophen, Augustin, Thomas, Spinoza, Leibniz gehören der christlichen Epoche oder der frühen Neuzeit an.
Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist das Kapitel, das mit dem vielversprechenden Titel "Ein römischer Platon" beginnt und mit der enttäuschenden Auskunft endet, daß Cicero nur ein Popularphilosoph gewesen sei. Darin findet sich auch die Behauptung, die Redekunst kröne die Philosophie, "weil der Redner die wichtigsten Gedanken wirkungsvoller als die Philosophen selber ausdrücken kann". Das Zitat ist gut gewählt — aber in einem anderen Sinn, als der Autor meinte. Es offenbart nämlich in einem die rhetorische Anmaßung und die rhetorische Unlogik.
Leider macht Stroh sich das unhaltbare Argument gelegentlich zueigen. So wenn er einen Satz aus der Summa contra Gentiles des Thomas von Aquin überprüft und durchaus zu Recht moniert, daß Thomas ein quod setzt, wo ein ut grammatisch korrekt wäre. Der Schulmeister fragt aber nicht nach den sachlichen Gründen, warum der Philosoph statt einer konsekutiven, eine explikative Konjunktion gewählt hat. Überhaupt wird man guttun, Strohs philosophische Expektorationen nicht allzu genau zu mustern.
Auch ist es schade, daß in der Darstellung Julius Cäsar entschieden zu kurz. Denn die demonstrative Einfachheit und Klarheit seines Stils ist ja nichts anderes als eine Rhetorik der Ironie und des Zynismus. Es ist der Zynismus der Machtpolitik. Was aber Machtpolitik ist, können die Schüler gar nicht früh genug lernen.
Dem literarischen Urteil des Autors kann man meist folgen. Daß es von Vorlieben gelenkt wird, ist wohl unvermeidlich, aber selten schädlich. Es läßt sich nicht übersehen, daß ihm die Carmina burana näher liegen als die Missa solemnis. In der Tat kommt die Hymnendichtung der lateinischen Liturgie bei ihm ein wenig zu kurz, was keineswegs an der Herkunft des bekennenden Protestanten liegt, sondern an seiner ästhetischen Einstellung. Goethe, Curtius und Bruno Snell haben den Rang dieser Dichtungen ohne Vorbehalt anerkannt und gewürdigt.
Doch gibt es eine signifikante Ausnahme, wo Strohs kritisches Urteil eklatant daneben trifft — bei der Einschätzung Jakob Baldes, den er "Deutschlands größten Barockdichter" nennt und tatsächlich auf eine Stufe mit Goethe stellt: Balde habe ein Werk geschaffen, "das an Umfang, Vielgestaltigkeit und Originalität vielleicht nur noch mit dem Goethes verglichen werden kann". Wenn dem wirklich so wäre, hätte Stroh eine sensationelle Entdeckung gemacht. Was er jedoch von den Dichtungen Baldes zitiert oder paraphrasiert, kann das überschwengliche Urteil auch nicht im entferntesten rechtfertigen.
So sehr Stroh gewöhnlich auch dem Leser entgegenkommt und die auftauchenden Sprachschwierigkeiten erklärt, in einem Punkt faßt er sich auffallend kurz, wo eine längere Erklärung nötig gewesen wäre — bei der Aussprache der Verse, wo nach seiner Meinung neben den Längen und Kürzen des Versmaßes auch der ursprüngliche Wortakzent erhalten bleiben soll.
Durch seine grammatischen und stilistischen Überlegungen sensibilisiert Stroh den Leser für Erscheinungen dieser Art, und so kann es nicht verwundern, daß man als Leser auch auf ein paar stilistische Ausrutscher des Verfassers aufmerksam wird. Er verwendet nicht nur einmal Wendungen wie ‚der größte Denker aller Zeiten', ohne sich bewußt zu werden, daß es typische Wendungen der lingua tertii imperii sind. Er spricht von den "eigentlichsten Bibelsprachen", als ob es Bibelsprachen geben könnte, die weniger eigentlich sind. Desgleichen spricht er anläßlich der Utopia des Thomas Morus von einem "unsterblichen Schlagwort", als ob man hier diese Wörter ohne Ironie, ernsthaft kombinieren könnte.
Und leider greift der Kritiker des englischen Sprachimperialismus gerade dann zu Anglizismen, wenn er uns Heutigen die Dinge der Alten besonders nahe bringen will. Er spricht von One-Night-Stand, make love, Who's who, Partys, übersetzt palaestra mit Fitnessstudio und bucolica mit Cowboylieder, was im letzten Fall wohl nicht ganz richtig ist. Denn Cowboys sind berittene Viehtreiber, doch ist in Vergils Eklogen davon nicht, sondern nur von einfachen Rinderhirten die Rede. — Was man ihm aber am wenigsten nachsehen kann: unser Autor hat sich auch den übelsten Normen der staatlich verordneten Rechtschreibung gebeugt (cf. J.Q. Fetisch Reform: Die Neue Rechtschreibung).
Auch in einem weiteren Punkt wird man anderer Meinung sein dürfen als er. Er behauptet, daß man im Lateinischen kaum schwafeln könne. Das mag wohl für Sprecher gelten, die es nie zu einer vollen Beherrschung der Sprache gebracht haben, aber doch gerade nicht für die Meister des Lateinischen, in erster Linie für Cicero, dem Mommsen genau diesen Vorwurf macht, wenn er "die gräßliche Gedankenöde" der Reden beklagt und ihn "eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes" nennt, "an Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe arm".
Schließlich kann man sich trotz aller Begeisterung, mit der Stroh von den Zirkeln und Vereinen berichtet, die sich darum bemühen, das Latein lebendig zu erhalten, nicht des Eindrucks erwehren, daß hier ähnliche Motive vorherrschen wie bei den Anhängern des Esperanto. Man macht sich aber nicht die Mühe, die schwere Sprache zu lernen, um sich mit seinem Nachbarn auf Latein zu unterhalten, sondern um Dichter und Denker verstehen zu können, die etwas zu sagen haben, was sich auf andere Weise nicht sagen läßt.

Conclusio

So gravierend die Einwände sind, sie werden doch durch die Vorzüge des informativen und unterhaltsamen Lehrbuches mehr als aufgewogen. Vielleicht ist noch erstaunlicher, daß das Buch ein überwältigendes Echo in der Öffentlichkeit gefunden hat. Das dürfte ein Zeichen dafür sein, daß es auf ein Bedürfnis antwortet, das bisher in der geschwätzigen Öffentlichkeit übersehen wurde. Strohs hat mit seiner Lateingeschichte keineswegs die Leerstelle ausgefüllt, die seit Jahrzehnten um das Ideal der Bildung klafft, doch hat er, eher indirekt als mit voller Absicht, an Fragen dieser Art gerührt, die eine dringende Antwort verlangen. Sie wurde bis heute nicht gefunden.

J.Q. — 6. März 2008

©J.Quack


Zum Anfang