Josef Quack

Epitaph für Peter Rühmkorf




Die Nachahmung der Moderne hat mehr Talente steril gemacht als die Nachahmung der Alten.

O.Paz

Rühmkorf gehörte zu der letzten Generation deutscher Schriftsteller von einiger Bedeutung: H. Heißenbüttel, S. Lenz, I. Bachmann, G.Grass, M. Walser, L. Harig, H.M. Enzensberger, W. Kempowski, R. Hochhuth. Bei Heißenbüttel sollte man anmerken, daß er nur solange mitzählte, wie er einen einflußreichen Posten beim Radio innehatte. Nachdem er seine Stellung aufgegeben hatte, wurde er kaum noch beachtet. Immerhin hat er aus seiner Position etwas gemacht, was seine Nachfolger nicht mehr fertigbrachten.
Anders als Walser, Grass oder P. Handke hat Rühmkorf sich in bestimmter Hinsicht nicht derart peinlich kompromittiert, obwohl er die Gelegenheit dazu hatte. Als sich ihm zur Zeit der Wende und der Wiedervereinigung, die für ihn keine Zeit der ungetrübten Freude war, die Möglichkeit zur Blamage bot, schwieg er in der Öffentlichkeit. Vielleicht war das seine größte politische Leistung. Daß er sich dessen bewußt war, kann man einem Epigramm vom Juni 1990 entnehmen:

Wer noch was zu sagen hat, ohne hier das
Sagen zu haben, trete vor.
Wer noch alle Zähne im Maul hat,
schweige.

Freilich teilt uns der belesene Literaturkenner nicht mit, daß er sich hier mit fremden Federn schmückt, repetiert er doch auf seiner Leier einen Satz aus der berühmten Rede von Karl Kraus "In dieser großen Zeit" (1914): Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige.
Und das Potential politischer Irrtümer war groß. In den Aufzeichnungen dieser Jahre, Tabu I (1989-1991), findet sich so manche Notiz politischen Inhalts, über die man nur den Kopf schütteln kann. Diese Töne wurden beim Erscheinen des Bandes (1995) überhört, weil die auf Talkshow-Niveau getrimmte Kritik vor allem die privaten Indiskretionen und die lästerlichen Reden über Zeitgenossen goutierte. Manche Stellungnahme wurde auch deshalb nicht als Ärgernis empfunden, weil es sich um eine Fehleinschätzung handelte, die in Linkskreisen communis opinio war, so die Aversion gegen Lech Walesa und die Entschuldigung der politischen Repression durch Jaruzelski. Andere Einschätzungen lassen sich heute noch weniger rechtfertigen, so das Lob Titos, das der von Rühmkorf bei jeder Namensnennung verspottete Handke nicht lauter hätte singen können. Zum Zerfall Jugoslawiens bemerkt Rühmkorf: Mit welch konservativem Ordnungssinn man schon heute nostalgisch auf den mäßigenden Eisenhandschuh des Marschalls zurückblickt. Übrigens merkt man hier, daß für Rühmkorf die Metapernsuche mindestens so wichtig ist wie die Wahrheitssuche; woraus folgt, daß manches weniger ernstgemeint ist, als die Sache vermuten läßt.
Ein eigenes Kapitel ist China, das Rühmkorf im Herbst 1955 für sechs Wochen mit einer gesamtdeutschen Jugenddelegation bereist hatte. Von dieser Reise sind noch seine spätesten Ansichten über Land und Regime bestimmt, woraus man den Wert jugendlicher Prägung, die Bedeutung der frühen Indoktrination ersehen kann. Davon verstanden die Kommunisten etwas. Vielleicht kann man es noch mit der Linkslastigkeit der Zeitstimmung entschuldigen, daß Rühmkorf 1972 ohne jede Ironie und ohne zu erröten schreiben konnte, daß er den neuen Menschen gesehen habe, "einzeln und in Massen".
Was er zwanzig Jahre später über die brutale Unterdrückung in China äußert, läßt sich nicht mehr entschuldigen. Als die Freiheitsbewegung auf dem "Platz des himmlischen Friedens" niedergeschlagen wurde, kommentiert er nachsichtig und mit jener politischen Scheinweisheit, die nur ideologische Verblendung kaschiert: blutige Hände sind zwar weißgott kein Schmuck der Menschheit, aber was, wenn die bedingungslos in Freiheit gesetzten Völker und Völkerschaften…. Ohne Vorbehalt und ohne auch nur einen Hauch von Landes- und Kulturkenntnis billigt er die totalitäre Unterwerfung Tibets, das für ihn nur ein reaktionärer "spiritualischer Mönchsstaat" ist: Virtuell scheint mir selbst der rigideste Chinakommunismus noch mehr Nischenfreiheit und Winkel-Individualität zu gestatten als ein von Marx- und Engelszungen unbeleckter Gottesstaat. 1990 hätte man wissen können, daß einige zwanzig Millionen Hungertode im eigenen Land auf das Konto des Chinakommunismus gehen.
Gegenüber solchen kapitalen Fehlurteilen nehmen sich die übrigen Fehlschlüsse wie die Irrtümer eines kauzigen Spaßmachers aus. So etwa die Meinung des fernsehversessenen Zeitdichters, daß solide Fernsehbildung heute zur Grundausstattung gehört. Und für sich rechtfertigt er diesen Konsum damit, daß er ein Großteil seines poetischen Materials vom Bildschirm abgelesen habe. Manche Gedichte sind denn auch danach, kann man da nur sagen. Sein Fernsehurteil ist aber doch wohl nichts anderes als ein Nachhall aus den Zeiten, wo dem Nullmedium noch die Aura des technischen Fortschritts anhaftete und man seine gemeinschaftsstiftende Funktion ebenso schätzte wie sein volkserzieherisches Potential: als idealer Sender, Professor Holzammer, als idealer Zuschauer, Professor Jens. Auch darf man nicht vergessen, daß die linke Intelligenz am Monopol des Staatsfernsehens festhalten wollte.
Es bleibt erstaunlich, daß Rühmkorf bei Literatursendungen niemals fragt, ob da auch nur ein einziges Buch empfohlen wurde, das es auch verdient hätte, sondern nur darauf achtet, wie die TV-Gesichter beim Zuschauer ankommen.

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Wenn man sich seine eigene Präsentation anschaut, so ist wohl das Ärgerlichste, daß er zeit seines Schreiberlebens dem Jargon der Dialektik verhaftet blieb. ‚Dialektisch' ist wohl das meistgebrauchte Qualitätswort und oft genug bezeichnet es nur die banalste Banalität. Er dürfte kaum gewußt haben, was der Begriff bedeutet, sowenig wie er gewußt haben dürfte, was "die Identität von Dichter und Sprache" bedeutet, von der er einmal redet. Er hat sicher kein einziges Wort der Consolatio philosophiae von Boethius gelesen und war gewiß intellektuell kaum qualifiziert, Heideggers Werk zu beurteilen — dennoch hat er darüber abgeurteilt, wie er die strukturalistische Linguistik verurteilt hat, die ihm wohl auch nur ein Buch mit sieben Siegel war.
Und einmal vergleicht er den simplen journalistischen Stil, der einen einfachen Satz neben einen einfachen Satz setzt, mit der Folge: "Bit an Bit" — ein Zeugnis betrüblicher Halbbildung. Denn natürlich weiß er nicht, was ein Bit ist und daß ein binäres Notationssystem genauso leistungsfähig ist wie ein System von 26 Buchstaben und zehn Ziffern. Außerdem wählt er die falsche Vergleichsebene: er will ein Satzmuster mit dem Muster der elementarsten Zeichenebene veranschaulichen. Auch darf man bezweifeln, ob er gewußt hat, was "Apotheose des Häßlichen" wirklich bedeutet, die er dem Gedicht als Aufgabe zuschreibt.
Nicht nur an diesen Beispielen sieht man, daß Rühmkorf als Prosakünstler wenig Glück hatte. Offenbar hielt er sich an die Maxime Arno Schmidts, daß eine gute Prosa aus "schärfsten Wortkonzentraten" bestehen müsse. Für Rühmkorf hat diese Vorschrift zur Folge, daß seine Diktion oft etwas Verkrampftes hat — sie ist eine Art Stopfschnupfenstil, der selbst im günstigsten Fall noch forciert wirkt. Dem klärenden und auflockernden Relativsatz zieht er gewöhnlich die geballte Ladung von Appositionen vor, etwa so: Keine Antworten auf die mich wirklich bewegenden Fragen nach einer unbegreiflich sinnreich konstruierten sinnlosen Welt.
Er scheint ständig unter dem Zwang zu stehen, treffende, möglichst auffallende Metaphern und Vergleiche zu gebrauchen, die dann oft genug danebengehen — siehe: "Bit an Bit" oder die folgende Übertreibung, die es unter der biblischen Apokalyptik für die simpelsten Dinge nicht machen kann: er spricht von journalistischen Hochleistungsprodukten, derentwegen Sodom meinetwegen noch etwas verschont bleiben darf. Die Bibelsprache war Rühmkorf wohlvertraut und er kannte auch das pietistische Vokabular, das er gern zur poetischen Erbauung benutzte. Nimmt man noch hinzu, daß er nicht die Gabe des Erzählens besaß und keine lebendigen Personen sachlich darstellen konnte, so hat man die wesentlichen Ingredienzien seines Prosastils beisammen. Übrigens bildete er harthörig, wie er in dieser Beziehung war, zu ‚Prosa' den wahrhaft abscheulichen Plural ‚Prosen'. Ein Autor, der einer solchen Wortbildung fähig ist, kann kein großer Dichter sein.

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Nahezu alle Personenbeschreibungen, die er in seinem Tagebuch vornimmt, ob es sich um Zeitgenossen oder historische Gestalten handelt, geraten ihm zu Karikaturen. Bisweilen hat man den Eindruck, daß er immer dem pubertärsten Drang nachgeben muß, jede Person erst mal anzupinkeln. Der abphotographierte Rilke kommt ihm vor, "als ob er sich hinten auf den Rock geschissen hätte". Zweifellos klingt hier auch die Erinnerung an den Reim ‚Hölderlin — Urin' nach, eine Kombination Günter Eichs, die zu Kahlschlagszeiten als kühn und aktuell empfunden wurde. Von dem Bann dieses Reimes hat sich Rühmkorf nie lösen können; kaum ein Gedicht von ihm, das kein Kraftwort im Ton Halbwüchsiger, im Jargon des Kasernenhofs, keinen skatologischen Ausdruck enthielte. Und im Tagebuch kaum eine Seite, die nicht organische Ausscheidungen erwähnt. Er meint von sich einmal, daß er sich nicht entwickelt habe; aber ein ewig Pubertierender bietet keinen erhebenden Anblick.
Was die Personenporträts angeht, so dürfte die Beschreibung Eberhard Schlotters die einzige Charakteristik sein, die ein natürliches Bild eines Zeitgenossen vermittelt. Sonst findet man häufig nur kumpfelhafte Verständigungszeichen, die dem Außenstehenden nichts sagen. Über Grass, dem er nahestand und oft besuchte, liest man auch nichts Erhellendes; denn daß der Romancier sich gesprächsweise auch gern im Umkreis jenes Reimes aufhielt, ist ja nicht besonders informativ. Gelegentlich dichtet ihm Rühmkorf eine Privatmythologie an, die recht abwegig ist — so im Anschluß an die Beobachtung, daß Grass das erloschene Streichholz in die Schachtel zurücksteckt. Dies deutet Rühmkorf allegorisch aus, wo es doch nur eine alltägliche Gewohnheit vieler Pfeifenraucher ist.
Obwohl er sich an diesen Orten gelegentlich sehen läßt, hat er auch über die Hamburger Intellektuellenszene oder über die Prominenten des Kulturbetriebs nicht viel zu sagen. Es bleibt der Eindruck geistiger Öde, und man hat ein gewisses Verständnis dafür, daß Rühmkorf solche Kreise nur ertragen konnte, wenn er sich drogistisch montiert hatte. Vielleicht aber wurde er in seiner Chronik des nördlichen Geisteslebens aus diplomatischer Rücksicht nicht deutlicher, so wie er denn auch höflichste Rücksicht walten läßt, wenn er auf die Redakteure zu sprechen kommt, von denen er als freier Autor nun einmal abhängig war.

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Was aber seine Selbstdarstellung angeht, so begegnet man keinem besonders sympathischen Erdbewohner. Er gibt uns das Bild eines nervösen Mannes, der von allerlei Hypochondrien geplagt ist, immer unter Spannung steht und auf Stimulantien angewiesen ist, um sich ein leidliches Wohlbefinden zu verschaffen. Um seine wirklichen oder eingebildeten seelisch-leiblichen Gebrechen zu erklären, bastelte er sich zum Hausgebrauch eine Art von Psychoanalyse zurecht, die zu dem trübsten Kapitel seiner Ambitionen gehört — wenngleich sie vermutlich auch nicht schlechter ist als die Doktrinen von Freud & Co. Goethes Streben nach Harmonie soll eine Überkompensation gewesen sein! Solche Weisheiten gibt ein Autor zum Besten, der sonst nicht kritisch genug sein kann. Und er spricht von seiner "geistigen Nähe zu Kafka", was nicht die geringste seiner Selbsttäuschungen war. Seiner persönlichen Wahrheit kommt das Bekenntnis näher, daß der Stadtneurotiker einer seiner Lieblingsfilme ist — das kann man ihm aufs Wort glauben.
Gelegentlich bezeichnet er sich als "gescheiten Gescheiterten", und dann wiederholt er: Gefühl wiedermal von einem bis auf den Grund verfehlten Schriftstellerleben. Opus magnum ohne die mindeste öffentliche Resonanz; kein einziges Buch bislang in eine Fremdsprache übersetzt … aufs ganze gesehen nur 2½ Bücher in Hardcover erschienen und der Rest kleene Bändchen, Hefte, Broschüren, ein gelumbecktes Lebenswerk. Es ist kein Zweifel möglich, er denkt an den Erfolg im Literaturbetrieb, das Echo in der Öffentlichkeit, nicht an den künstlerischen Wert des Werkes, daran, ob er ein einziges Gedicht geschrieben hat, das zum Ewigen Vorrat deutscher Poesie gehört.
Ich kenne sein opus magnum nicht und habe auch nicht die geringste Lust, es kennenzulernen, da es anscheinend ein Irrsinnsprojekt ist. Nach seiner Auskunft soll es sich um einen Wälzer mit sämtlichen Vorstufen eines Gedichtes handeln. In der Dichtung zählt nur das Resultat, die Endfassung, gleichgültig, ob sie das Ergebnis vieler Versuche oder als fertiger Wurf vom Himmel gefallen ist. Kluge Autoren überlassen alles Unfertige und Mißglückte, alle Vorarbeiten und Zettelsammlungen eines Werkes nicht der Nachwelt, sondern dem Feuer.
In seinem Nachruf schrieb Hans Magnus Enzensberger, nach dem Tode von Robert Gernhard habe ihm "kein Vers- und Reimkünstler das Wasser reichen" können. Das mag so gewesen sein. Aber was bleibt von seiner Lyrik? Welches sind die fünf oder sechs Gedichte, die überleben werden, wenn er das Kriterium eines bedeutenden Dichters erfüllt, das Gottfried Benn, sein lebenslanges Idol, aufgestellt hat? Hat er sich, selbst in seinen besten Versen, je von der Nachfolge des verehrten Vorbildes lösen können? Das oben angeführte Motto von Octavio Paz hat Rühmkorf selbst erwähnt — daß es sein eigenes Problem beschreibt, dürfte ihm kaum bewußt geworden sein.
In einem anderen Nachruf hat man seine Arbeiten über die Lyrik gewürdigt. Ich denke, daß es sich hier um eine Leistung handelt, die Bestand hat. In der kritischen Würdigung von Seinesgleichen, in den letzten Essays über Johannes Kühn und Enzensberger, hat er sein Bestes gegeben. Dazu paßt, daß, genau betrachtet und ernsthaft erwogen, auch seine Reflexionen über das Tagebuch ertragreicher und informativer sind als das alltägliche Futter seiner Journale.

J.Q. — 19. Juni 2008

©J.Quack


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