Eckart Förster, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion. 2.Aufl. Frankfurt: Vittorio Klostermann 2012.
Es scheint, daß uns der Kampf um die Bewahrung der Überlieferung aufbraucht; Eigenes zu schaffen und das Große zu bewahren – beides zugleich geht über Menschenkräfte. Und doch ist jenes Bewahren nicht stark genug, wenn es nicht aus der neuen Aneignung kommt.
Auf dem Umschlag wird das Wort eines amerikanischen Philosophen zitiert, der behauptet, Försters Arbeit sei eines der bedeutendsten Bücher über die deutsche Philosophie, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind: "Eine wahrhaft bahnbrechende Leistung". Hier haben wir den seltenen Fall vor uns, daß eine Buchreklame nicht übertrieben oder gelogen ist, sondern tatsächlich stimmt.
Förster, der in Baltimore und Berlin lehrt, behandelt eine der kreativsten Epochen der Philosophiegeschichte, die Jahre zwischen Kant und Hegel, und die Werke dieser Zeit zählen zu den kompliziertesten und unzugänglichsten Texten ihrer Art. Dennoch ist es ihm gelungen, ihre Intention, ihren Aufbau und ihren Gedankengang so klar und verständlich darzustellen, wie man es sich besser kaum wünschen kann. Das ist ein Vorzug dieser Studie.
Ein anderer Vorzug besteht darin, daß Förster zwar eine "systematische Rekonstruktion" der Philosophie dieser Zeit geben will, daß er aber in sogenannten "historischen Exkursen" immer wieder auf die lebhafte Diskussion dieser Jahre zu sprechen kommt, die mit kritischen Einwänden und produktiven Anregungen veranlaßten, daß Kant und seine Nachfolger ihr Konzept immer wieder überdenken und verbessern mußten. Daß Förster die Entstehungsgeschichte der philosophischen Gedanken beschreibt, bevor sie in ein System gefaßt wurden, läßt seine Darstellung weitaus lebendiger erscheinen, als man es von Philosophiegeschichten sonst gewohnt ist.
Nicht zuletzt hat Förster einiges entdeckt und klargestellt, was, wie er erklärt, der philosophischen Forschung bisher entgangen ist. Damit ist vor allem der Begriff des intuitiven Verstandes gemeint, dessen Bedeutung für die Philosophie dieser Ära kaum überschätzt werden kann. Systematisch betrachtet, ist diese Studie ein Traktat über den Gegensatz von diskursivem Verstand und intuitivem Verstand. Es war vor allem Goethes Art der Naturbetrachtung, die dem Autor den Blick für die Bedeutung der scientia intuitiva im Sinne Spinozas schärfte, die damals entdeckt oder wieder entdeckt wurde. Goethes Denken aber wird bis heute in der philosophischen Forschung, wenn überhaupt, dann allenfalls als kurioses Randphänomen beachtet. So ist diese Studie nicht nur für Philosophen aufschlußreich, sondern auch für Germanisten, die sich ernsthaft für Lessings Bekenntnis zu Spinoza, für Goethes Naturverständnis und Schillers ästhetische Theorie interessieren.
Die 25 Jahre der Philosophie, die im Titel erwähnt werden, sind die Jahre von 1781, dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft, und 1806, dem Erscheinen der Phänomenologie des Geistes. Kant behauptet, daß es vor der Kritik der reinen Vernunft eigentlich keine Philosophie gegeben habe, wenn man unterstellt, daß die Philosophie oder die Metaphysik wissenschaftlich angelegt sein soll. Von einer Wissenschaft aber fordert er, daß sie systematisch aufgebaut sein müsse und daß ihre Lehrsätze aus einem obersten Grundsatz oder mehreren Grundsätzen abgeleitet werden können. Hegel wiederum erklärt 1806, daß die "Geschichte der Philosophie beschlossen" sei. Wie hängen diese beiden Behauptungen zusammen? Was ist der eine Gedanke, der diese Erklärungen miteinander verbindet? Dies ist das Thema, das Förster in seiner Arbeit erörtert und verständlich machen will.
Der erste Teil der Arbeit ist der Transzendentalphilosophie Kants gewidmet, der zweite Teil behandelt den Weg, der von Kant zu Fichte, Schellung und Hegel führt. Es ist Försters These, daß die Kritik der Urteilskraft, genauer: die "Anmerkung zur Auflösung obiger Antinomie in § 76", der Ansatzpunkt ist, von dem sich die "Denkbewegung" herleitet, "an deren Ende Hegel steht".
Am Schluß hat Förster die Argumentationsschritte und das Ergebnis seiner Studie in vorbildlicher Weise zusammengefaßt. Ich möchte dieses Resümee hier aber weder ausführlich zitieren noch mit eigenen Worten wiedergeben, sondern nur auf ein paar wichtige Punkte hinweisen, die ein Licht auf die Bedeutung dieses außergewöhnlichen philosophischen Buches werfen.
Zunächst wäre zu bemerken, daß Förster mit aller wünschenswerten Klarheit darlegt, warum Kant nicht nur eine Kritik, sondern drei Kritiken geschrieben hat. In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ging es in der Transzendentalphilosophie um das Thema, wie ein apriorischer Gegenstandsbezug möglich sei. Dabei brauchte die Moral nicht berücksichtigt zu werden, weil hier der Gegenstandsbezug "unproblematisch" ist. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft lautete die Hauptfrage jedoch, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, und da der kategorische Imperativ in Analogie zu einem synthetischen Urteil a priori verstanden werden kann, stellte sich die Frage, ob nicht auch die praktische Vernunft eine Kritik verlangt. Und da Kant der Auffassung war, daß das Gemüt oder der menschliche Geist bzw. die Seele über drei elementare Fähigkeiten verfügt, nämlich Erkennen, Begehren und Fühlen (das Gefühl von Lust und Unlust), kam er zu dem Schluß, daß seine Transzendentalphilosophie erst vollständig ist, wenn er ihr noch eine Kritik der Urteilskraft hinzufügt.
Förster macht nun darauf aufmerksam, daß der Ausdruck "transzendental" in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft etwas anderes bedeutet als in der zweiten Auflage, die allein für Fichte, Schelling und Hegel maßgebend war — während, wie man hinzufügen kann, Schopenhauer sich an der ersten Auflage orientierte. Auch bemerkt Förster treffend, daß der Begriff des Dinges an sich, ein Stolperstein für jeden Leser Kants, "durch die Akzentverschiebung in der 2. Auflage der Kritik fast unverständlich" geworden sei. Er macht, sich auf entsprechende Erklärungen Kants beziehend, den einleuchtenden Vorschlag, die Beziehung zwischen Erscheinung und Ding an sich als logische oder analytische Beziehung und nicht als kausale Beziehung aufzufassen.
Der wohl bedeutendste Sachverhalt, den Förster aufgedeckt hat, ist der Umstand, daß die bisherige Kantforschung im Hinblick auf die Kritik der Urteilskraft die intellektuelle Anschauung und den intuitiven Verstand nicht voneinander unterschieden, sondern miteinander identifiziert hat. An diese wichtige Unterscheidung anschließend, legt er dar, daß zur gleichen Zeit, als Kant die Theorie ausarbeitete, daß alle philosophische Erkenntnis des Menschen diskursiv sei, in Goethes Naturforschung eine Alternative entstanden ist, die von Spinoza angeregt war. Am Beispiel von Goethes Farbenlehre und seiner Theorie der pflanzlichen Entwicklung erläutert Förster, wie man die "Besonderheiten des intuitiven Verstandes" zu verstehen hat, nämlich:
(a) daß sich die Eigenschaften des Objekts aus dessen Wesen ableiten lassen (Spinoza); (b) daß das Ganze die Teile ermöglicht und bedingt (Kant); (c) daß der Weg zum Ziel über die Beobachtung der Übergänge in der Entwicklung der Gestalten führt (Goethe).
Auch macht Förster plausibel, daß Hegel an einem entscheidenden Wendepunkt seines Denkens von Goethes Idee der pflanzlichen Entwicklung oder Entfaltung beeinflußt wurde. Hegel hatte zunächst angenommen, daß es in der Philosophie keine eigentliche Entwicklung geben könne. Er nahm an, daß die philosophischen Systeme ähnlich wie die großen Werke der Kunst gleichrangig nebeneinander stünden. Durch Goethes Vorbild aber kam er in den Jahren 1805/6 zu der Auffassung, daß die philosophischen Systeme sich auseinander entwickeln könnten. Die möglichen Gestalten des Bewußtseins und ihre Ableitung voneinander hat er dann in der Phänomenologie des Geistes beschrieben.
Anders aber als Goethe vertrat er die Auffassung, daß die philosophische Idee, die es zu erkennen gilt und die er das Absolute nennt, nicht nur erst am Ende der Entwicklung der Bewußtseinsgestalten erkannt werden kann, sondern am Ende dieser Reihe erst zu ihrem Sein kommt. Sie ist nämlich "wesentlich Prozeß und dialektisch":
Genau das ist es, worauf es ankommt bei der ‚einzigen Bestimmung der Entwicklung’. Soll die Idee trotzdem erkennbar sein, dann muß auch die Philosophie als (Selbst-)Erkenntnis der Idee an ihr Ende gekommen sein. Die Geschichte der Philosophie müsse in diesem Sinne abgeschlossen sein. Wer aber wollte so etwas vernünftigerweise behaupten?
Förster erklärt dann, wie man diese These vom Ende der Philosophie in einer Weise auffassen kann, die nicht als unsinnig oder absurd erscheint. Aus dem Gang der zur Debatte stehenden 25 Jahre Philosophie zieht er aber ein anderes Resümee als Hegel, wenn er, in Anspielung auf Kant und auch diesem zugleich widersprechend, schreibt: "Der Weg der scientia intuitiva ist allein noch offen". Man wird sich gewiß daran erinnern, daß Kant am Ende der Kritik der reinen Vernunft erklärt hatte: "Der kritische Weg ist allein noch offen".
Ich habe eingangs gesagt, daß man sich Försters Darlegung klarer und verständlicher kaum wünschen kann. Dies gilt vor allem für den ersten Teil der Arbeit, in der er die Entwicklung der Transzendentalphilosophie Kants nachzeichnet. Im zweiten Teil hält er sich meines Erachtens in seinen Paraphrasen allzu eng an die Terminologie Fichtes, Schellings und Hegels. Man wird wohl kaum sagen können, daß er Fichtes Erklärung, wie das Ich sich konstituiert, so plausibel beschrieben hat, daß man sie wirklich verstehen kann. Allerdings muß man anerkennen, daß er das Moment, das er die „zentrale Einsicht Fichtes“ nennt, deutlich bezeichnet hat:
Fichtes Entdeckung stellt ein Novum in der Geschichte der Philosophie dar: es ist die Einsicht, daß der Satz ‚Ich bin’ eine ganz andere Art des Seins ausdrückt als jeder ‚es ist’-Satz über ein Ding oder eine Tatsache.
Auch ist sein Hinweis richtig, daß Fichte diesen Unterschied vor Heidegger erkannt hat, der sonst als Entdecker dieses Sachverhalts gilt. Die weitere Frage, die hier zu klären wäre, ist natürlich, ob Heidegger unter der Seinsart des menschlichen Daseins nicht etwas anderes versteht als Fichte.
Wichtiger aber sind zwei andere Fragen, die sich im Anschluß an diese Studie aufdrängen. Die Philosophie der hier beschriebenen Epoche orientiert sich, was erkennen und wissen angeht, durchweg an dem von der optischen Wahrnehmung abgeleiteten Modell von Subjekt und Objekt. Das Problem ist nun, wie sich die von Förster beschriebenen philosophischen Theorien darstellen, wenn man annimmt, daß erkennen und wissen in Wirklichkeit nicht nach dem Subjekt-Objekt-Modell angelegt sind, sondern eine propositionale Struktur haben („ich weiß, daß p“). Was diese Frage angeht, so kann man nicht umhin, ein Buch wie etwa Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung von Ernst Tugendhat zu Rate zu ziehen. Was die Beschreibung des intuitiven Denkens angeht, so wäre natürlich zu fragen, ob sie gegen die Einwände gefeit ist, die in der philosophischen Forschung bisher, z.B. von Karl Popper (cf. Wenn das Denken feiert, S. 223ff.), gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis des Wesens der Dinge erhoben worden sind.
Diese weitergehenden Fragen ändern aber nichts daran, daß man, als Philosoph, als Germanist oder als historisch interessierter Leser, kaum an Försters Studie vorbeigehen kann, wenn man das intellektuelle Klima der Goethe-Zeit, die philosophischen Ideen und Konzeptionen, die in diesen Jahren entstanden sind, gründlich verstehen will.