Josef Quack

Zum Döblin-Heft der

Neuen Rundschau (1/2009)

 



Es tut mir lang schon weh,
daß ich dich in der Gesellschaft seh'.

Faust I (Margarete)

Nach dem Krieg hatte die Neue Rundschau ihr Profil am schärfsten zwischen 1963 und 1979 ausgebildet, als Rudolf Hartung, Schriftsteller und ausgewiesener Literaturkritiker, ihr leitender Redakteur war. Das macht: Hartung konnte die Zeitschrift relativ unabhängig, in einer gewissen Distanz vom Verlag herausgeben. Seitdem sie wieder reine Verlagszeitschrift ist, hat die Neue Rundschau nie wieder die Bedeutung jener Periode erlangen können. Als Lektor und mit der linken Hand kann man keine vernünftige Zeitschrift machen.
Nun erscheint sie seit einiger Zeit in der Form von Themenheften, was eine überaus heikle, selten glücklich zu bewältigende Sache ist. Während die bekannten Kulturzeitschriften gerade wegen der Vielfalt ihrer Themen anziehend sind und überraschen können, gibt es bei thematischen Sammelbänden immer einige Beiträge, die nur aufgenommen werden, um die vorgesehene Seitenzahl zu erreichen.
So auch bei dem Döblin-Heft der Zeitschrift, das vor einem Jahr herauskam, in Teilen damals schon veraltet war und in weiteren Teilen heute veraltet erscheint. Der Umschlag des Heftes hat den Charme ärmlicher DDR-Zeitschriften seligen Angedenkens: auf grünem Hintergrund in weißer Schrift unter dem Namen des Dichters die alphabetische Liste der Beiträger. Anspruchsloser und nichtssagender kann man einen großen Autor kaum vorstellen, dessen Werk der Verlag nun wieder in seine Obhut genommen hat.
Der wichtigste Beitrag steht am Ende des Heftes, das Gespräch mit Stephan Döblin über sein Verhältnis zu seinem Vater, das nicht vorhandene Familienleben, die Hartherzigkeit der Mutter, die von ihr gewollten, unglaublich trostlosen Umstände der Beerdigung Döblins, die Vermutungen über den Selbstmord Wolfgangs, die Nachricht, daß Stephan die baldige Veröffentlichung der Briefe an den französischen Germanisten Robert Minder begrüßen würde, und die kluge Einsicht, daß man an die Publikation des Werkes keine falschen Hoffnungen knüpften sollte: "Manche Bücher sind so komplex, daß ihre Verbreitung sehr begrenzt bleiben wird." Wir wollen hoffen, daß nicht nur die Briefe an Minder, sondern auch die Schreiben Minders an Döblin bald veröffentlicht werden, ebenso der Briefwechsel mit Yolla, der langjährigen Freundin des Schriftstellers.
Ohne diese Korrespondenz dürfte eine aussagekräftige Biographie Döblins kaum vorstellbar sein. Freilich ist damit auch die Gefahr gegeben, daß eine der fragwürdigsten Tendenzen der Interpretation neuen Auftrieb bekäme, die autobiographische Deutung des Werkes, die Auffassung, Döblins Romane seien im Grunde Schlüsselromane. Robert Minder war bekanntlich ein namhafter Vertreter dieser aus der verirrten Fraktion der Goethe-Philologie stammenden Auslegungsmethode, die trotz vielfacher Widerlegungen unverwüstlich weiterlebt.
Wir erfahren auch, daß die lange geplante Döblin-Biographie von W.F. Schoeller in diesem Jahr endlich erscheinen soll. Wir sind gespannt, wie Schoeller diese Riesenaufgabe bewältigen wird. Was er hier vorab veröffentlicht, ist durchaus informativ, doch in wenigen Einzelheiten auch korrekturbedürftig. Wenn Döblin, von sich redend, einmal Hiob erwähnt, meint der Biograph, er streife die Mythologie, um von sich und seiner Familie erzählen zu können. Abgesehen davon, daß Hiob für Döblin ganz gewiß nicht zur Mythologie gehörte — seit wann ist es ideologisch verdächtig, mythologische Vergleiche und Anspielungen zu gebrauchen? Und was die mißglückte Rückkehr Döblins nach Deutschland angeht, so wiederholt Schoeller seine bekannte Annahme, Döblin sei auch an sich gescheitert — was allenfalls als ironische Bemerkung einen Sinn ergäbe: "Sein Gesamtwerk war zu reich und zu vieldeutig, als daß er sich mit seinen Lesern hätte darüber verständigen können." So wird, was an und für sich ein Lob wäre, als Tadel aufgefaßt.
Den umgekehrten Weg schlägt Wilhelm Genazino ein, der seine Mäkeleien an Döblins Stil als Lob aufgefaßt wissen will. Er kritisiert etwa den Satz aus Döblins Hamlet: "Häuser schluchzen um mich", ohne zu bemerken, daß es sich hier um eine Personenrede, nicht um ein Diktum des Autors handelt. In verblüffendem Maße phantasielos und erfahrungsarm, scheint er nicht zu wissen, was eine Metapher ist, noch zu erkennen, daß der Satz unter Umständen auch wörtlich genommen sinnvoll sein kann. Außerdem bemerkt er nicht, daß die Wendung an ‚Häuserschluchten' erinnert, und hier liegt die Vermutung nahe, daß es sich um eine falsche Lesart handeln könnte, der Text also an der Druckvorlage überprüft werden müßte. Aber Genazino ist ein ehrenwerter Mann, will sagen, einer der namhaftesten deutschen Autoren der unmittelbaren Jetztzeit.
In dem Reigen der Schriftsteller, die Döblin ihre Reverenz erweisen, durfte natürlich Günter Grass nicht fehlen. Wirklich nicht? Weiß man nicht, daß er als Romancier längst nicht mehr unangefochtener Symphathieträger ist, was er als politischer Publizist auch niemals war? Wie dem aber sei, es werden geistig unabhängige Leser vorausgesetzt, die ihre Antipathie gegen den großen Verschweiger in eigener Sache nicht auf das Objekt seiner Verehrung übertragen. Davon abgesehen, wird das Gespräch mit ihm und Ingo Schulze dem Gegenstand auf angenehme Weise gerecht, und man kann der Bemerkung von Grass über die Nachkriegsliteratur nur zustimmen: "Wer damals bei Brecht oder Thomas Mann oder bei Kafka anknüpfte, wurde prompt zum Epigonen. Wer sich aber auf Döblin einließ, Sie hatten Arno Schmidt und Koeppen genannt, in meiner Generation sind es Rühmkorf und ich, der konnte davon profitieren, ohne Gefahr zu laufen, zum Epigonen zu werden." Wenn er allerdings sich über das "typische Döblin'sche Kunststück" wundert, "über Kierkegaard zum Katholizismus zu kommen", dann verrät er nur, daß ihm diese Materie fremd geblieben ist und daß er weder die Konvertiten kennt, die den gleichen Weg gegangen sind, noch Döblins Vorbehalte gegen Kierkegaard.
Kurz und bündig ist die Symphatieerklärung ausgefallen, die Peter Härtling für Döblin äußert, und doch ist sie für die Rezeption aufschlußreicher als die meisten anderen Bekundungen der hier versammelten Dichter. Von Dietmar Dath sollte man einen Satz mit großen Lettern den Lesern ins Stammbuch schreiben: "Einbildungskraft und Kunstfertigkeit, nicht Recherche, machen die große Epik". F.C. Delius ist mit einer Rede aus dem Jahre 1987 präsent und als Typus der sozialkritisch festgelegten Döblin-Leser, die kein Sensorium für die religiöse oder metaphysische Dimension seines Werkes haben. Was Iris Hanika von sich gibt, "Alfred Döblin, mon amour", erinnert an die Gartenlaube, ist Kleinmädchen-Getue, private Lektüreerlebnisse, die niemand etwas angehen. Ein Bibelzitat hält sie für ein Lied. Ihr Beitrag überzeugt nur in einer Hinsicht: Wer es vordem aus rationalen Gründen und im Hinblick auf die allgemeine Menschennatur nicht für möglich gehalten hätte, muß nun zugeben, daß es doch eine spezifisch weibliche Perspektive des Lesens geben könnte. Über Reinhard Jirgl kann ich nichts weiter sagen, als daß seine Stil- und Schreibmarotte ungenießbar ist. Er kultiviert eine Assoziationsprosa, deren psychologische Grundlagentheorie seit einem Jahrhundert überholt ist. Wenig Rühmendes läßt sich auch über eine dekonstruktionistische Spielerei von U.Peltzer und K.Kollmeier sagen, eine Kombination beliebiger Einfälle mit ebensolchen Fußnotenerklärungen. "Überfließend von Ekel", heißt es bei Linke Poot, dessen Buch jeder Selbstschreibende gelesen haben sollte.
Von den essayistischen Beiträgen zum Werk sticht Hans-Ulrich Treichels Aufsatz über das Autobiographische dadurch hervor, daß er längst Bekanntes, aber nur Wahres bringt, was immerhin ein Vorzug ist. Beipflichten kann man auch dem Essay Thomas Lehrs über den Wallenstein-Roman. Freilich ist Lehr in Fragen der literarischen Bewertung ein unsicherer Kantonist. Man kann nicht, wie er es tut, behaupten, Döblins Wallenstein gehöre auf die gleiche Stufe wie Salammbo und Krieg und Frieden (Cf. J.Q. Geschichtsroman und Geschichtskritik), und im gleichen Atemzug hinzufügen, er sei gleichrangig mit dem Tod des Vergil und den Josephs-Romanen. Es dürfte keinen Roman unserer Zeit geben, wo hochgreifende Intention und mißlungene Realisierung, nämlich ein einziger Sprachkrampf, so weit auseinanderklaffen wie bei Brochs einst vielgelobtem Spätwerk. Und über den Wallenstein ließe sich kaum wie über die Josephs-Romane eine Parodie schreiben wie "Die Einschläferung Noahs".
Am stärksten zur Kritik aber fordert der Einleitungsaufsatz von N. Niemann heraus, der die bekannten Klischees der postmodernen Germanistik ungeniert wiederholt, locker und gedankenlos von Ich-Auflösung und multiplem Bewußtsein redet, als sei die These von der multiplen Persönlichkeit nicht längst als Schwindel einer amerikanischen Psychotherapeutin entlarvt. Und was er über den Hamlet-Roman, dann über November 1918 eher vermutet als begründend ausführt, bleibt um einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter der Döblin-Forschung zurück. Sie hat zwar, wie man nicht bestreiten kann, im Übermaß allerlei Verwirrung, aber doch auch einige Aufklärung hervorgebracht.

J.Q. — 7. Jan. 2010

Ergänzung

In der vorstehenden Rezension habe ich anläßlich eines Zitats aus Döblins Hamlet-Roman, das Genazino anführt, zwei Vermutungen geäußert: erstens, daß es sich um eine falsche Lesart handeln könnte, daß es ‚Häuserschluchten' statt ‚Häuser schluchzen' heißen könnte, und zweitens, daß der Artikelschreiber wenig von Metaphern versteht, was auf gut deutsch heißen soll, daß die Phantasie nicht zu den ihm verliehenen Gaben zählt.
Inzwischen habe ich das Zitat bei Döblin, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, gefunden und feststellen müssen, daß meine erste Vermutung völlig unbegründet ist, die zweite Vermutung aber in einem Maß bestätigt wurde, das ich nicht für möglich gehalten hätte.
Das Zitat stammt aus einem stummen Monolog von Alice Allison, einer Frau von achtunddreißig Jahren, die sich in einer heftigen Szene von ihrem Mann getrennt hat und nun in einer Art Tagtraum verzweifelt an ihren früheren Geliebten, Glenn, denkt und ihn mit den folgenden Worten anspricht:

Glenn, du hast auf mich gewartet. Du sollst mich sehen. Meine trunkene Stirn, mein blühender, blutender Mund: meine Zunge ist trocken wie bei einem Jagdhund, der lechzt. Die Zähne schmerzen mir. Ich lasse mich los. Die Häuser mit Menschen und ohne Menschen kümmern mich nicht. Sie laufen um mich, sie holen mich nicht ein. Die Häuser schluchzen um mich und betteln und trauern um mich. Ich habe eine Zeitlang mit ihnen gelebt. Ich kann nicht mehr.

Das ist der nähere Kontext des Zitats, ein Abschnitt eindringlicher, sinnlicher Prosa, der mehr Poesie aufweist als das Gesamtwerk des Artikelschreibers. Im Kontext geht es um die endgültige Abreise der Frau, ihre Abwendung von ihrer Familie, den Abschied von der gewohnten Umgebung, und man sieht, daß die Metapher der ‚schluchzenden Häuser' vielfach vorbereitet wird, so daß sie kaum überrascht. Zudem werden den Häusern noch andere metaphorische Prädikate ähnlicher Art zugesprochen, Eigenschaften, die die Häuser als Lebewesen qualifizieren. Eine bekannte rhetorische Figur, die im Zusammenhang sorgfältig begründet ist und mehrfach variiert wird. Daß unbelebte Gegenstände als Lebewesen betrachtet werden, ist ein weit verbreitetes Ausdrucksmittel der Dichtung, vom schlichten Märchen bis zum esoterischen Gedicht.
Jedes Kind versteht diese Sprache, nur der Verfasser jenes Artikels nicht. Arme deutsche Literatur der Gegenwart.

J.Q. — 18. Juli 2010

©J.Quack


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