(Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens (2001). Frankfurt 2007).
Wer sagt, daß alle Dinge mit Notwendigkeit geschehen, kann nicht einen anderen kritisieren, der sagt, daß nicht alle Dinge mit Notwendigkeit geschehen. Denn er muß zugeben, daß auch seine Behauptung mit Notwendigkeit geschieht.
Die Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Begriffen der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur völligen Befriedigung erreicht ist, und das würde heißen, die Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie fest steht, nachher durch Popularität Eingang verschaffen.
Aber was ist wichtiger? Von Außenstehenden verstanden oder als ‚tiefer Denker' betrachtet zu werden? Auf einfache Weise zu schreiben, so daß es ungebildete Leute verstehen können, bedeutet keineswegs Oberflächlichkeit. Ich rate dringend allen Autoren, die ihren Mitmenschen etwas mitteilen wollen, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen, und wenn sie es schon tun, sich nicht von Obskuranten […]einschüchtern und beeinflussen zu lassen, sondern statt dessen Schopenhauer oder Kants volkstümliche Schriften zu lesen.
Gewöhnlich nimmt man an, daß der Gegensatz zwischen Willensfreiheit und naturgesetzlicher Notwendigkeit eine vollständige Disjunktion sei, nämlich eine Alternative, die jede andere Möglichkeit ausschließt. Dagegen wendet Peter Bieri zweierlei ein. Er zeigt, daß bei jenem Gegensatz der Begriff einer absoluten Freiheit ins Spiel kommt, der in sich nicht stimmig ist. Und er führt vor, daß sich ein Begriff der bedingten Willensfreiheit denken läßt, der mit den Zeugnissen unserer inneren Erfahrung übereinstimmt. Schließlich skizziert er einige exemplarische Lebenskrisen und zeigt einige Möglichkeiten auf, wie man sich in diesen Fällen vernünftig entscheiden kann. Er leistet in einem vorbildlichen Sinn philosophische Lebenshilfe.
Bieris Arbeit über die Willensfreiheit ist das erfolgreichste philosophische Buch des letzten Jahrzehnts. Das ist auf den ersten Blick eine erstaunliche Sache, wenn man die Arbeiten der akademischen Philosophie betrachtet, die selten über einen engen Kreis von Experten hinausgelangen. Wenn man jedoch den Sektor des Buchmarktes betrachtet, der Ratgebern gewidmet ist, den seit Jahren anhaltenden Boom der Esoterik, die inflationär wuchernden Spielarten der Spiritualität, die Wiederkehr der Religion, die beliebten Werke popularisierender Psychologie, dann ist die Sache nicht mehr so erstaunlich. Man muß sich vielmehr wundern, daß die Philosophen es bisher meist vermieden haben, auf das fraglos vorhandene Bedürfnis einzugehen, das in der Nachfrage nach Büchern dieser Art zum Ausdruck kommt. Das macht: die meisten Philosophen beschäftigen sich heute mit Dingen, die mit den tiefsten menschlichen Interessen nichts zu tun haben.
Wie dem aber sei, es ist eines der wenigen erfreulichen Zeichen für das Niveau der Gegenwartskultur, daß es eine beträchtliche Leserschaft gibt, die ein brennendes Interesse an einem seriösen Werk zeigt, das sich der philosophischen Klärung lebenswichtiger Probleme verschrieben hat. Bieri aber hat nicht nur einen philosophischen Bestseller erster Güte verfaßt, sondern auch einen literarischen: Nachtzug nach Lissabon, den bedeutendsten deutschen Roman dieser Jahre, eine Oase in der Wüste der Gegenwartsliteratur. Das wunderbare Buch behandelt im Medium des Erzählens übrigens ein Kernthema der philosophischen Arbeit: eine radikale Entscheidung, die Bewältigung einer gefährlichen Lebenskrise.
Daß ein Philosoph sowohl in seiner Disziplin wie auf dem Gebiet der Literatur Bedeutendes leistet, ist ein seltener Fall, man kann ihn in neuerer Zeit nur mit Sartre vergleichen. Übrigens streift Bieri gelegentlich auch Sartres Ideen, so wenn er über den Blick des anderen schreibt. Doch diskutiert er nicht Sartres Theorie der existentiellen Freiheit, und das scheint mir die bedauerlichste Lücke seiner Arbeit zu sein, die sich hauptsächlich an angelsächsischen Studien orientiert, die doch allesamt weder in ihrer Bedeutung noch in ihrer intellektuellen und politischen Wirkung an Sartres Philosophie heranreichen.
Was aber den außenstehenden Beobachter des Universitätsmilieus verblüfft, ist die Tatsache, daß Bieri sich vorzeitig hat emeritieren lassen, weil ihm das akademische Umfeld nicht behagte: Es gab Enttäuschungen, und die Universität als Ort der Wichtigtuerei habe ich nie gemocht. Deshalb verlasse ich sie nun auch (Cicero, Nov. 2006). Daß eine Universität eine so seltene philosophische Kapazität wie Bieri vorzeitig in den Ruhestand gehen läßt, ohne alles Erdenkliche zu unternehmen, den Mann an sich zu binden, wirft kein gutes Licht auf diese Institution, die sich derzeit in Reform-Rhetorik fast überschlägt. Wahrscheinlich dürfte diese nur zu leicht als basislos zu durchschauende Rhetorik einer der Gründe für Bieris Abschied gewesen sein. Sie führen Englisch als Fachsprache ein; wie man aber exzellente Köpfe für sich gewinnt, haben sie nicht gelernt, obwohl man für solche Vorhaben gar nicht mal selbst exzellent sein müßte. Bieri, der sonst kein Mann der Polemik ist, verurteilt doch aufs schärfste die Amerikanisierung der Hochschulen: Festzustellen ist, daß zur politischen Servilität gegenüber Amerika nun auch noch die sprachliche Servilität dazugekommen ist. In der Universität ganz allgemein wird heute zur Hälfte Deutsch gesprochen und zur Hälfte Pidgin-Englisch. Das gilt auch für die Philosophie.
Bieris Erfolg dürfte im wesentlichen auf fünf Gründe zurückgehen, von denen vier unsere größte Achtung verdienen, einer aber zu kritischen Einwänden Anlaß gibt. Erstens behandelt Bieri als Philosoph kein intellektuelles Puzzlespiel, sondern ein ernsthaftes, existentielles Thema. Zweitens befleißigt er sich einer einfachen und klaren Sprache, ohne wie sonst üblich mit der Terminologie seines Fachs aufzutrumpfen. Drittens verwendet er, um sein Thema zu erörtern, nicht nur Begriffserklärungen, sondern auch Erzählungen, aussagekräftige Geschichten und Situationsbeschreibungen, die veranschaulichen, was mit den Begriffen gemeint ist. Viertens ist er sich nicht zu schade, philosophische Lebenshilfe zu leisten, indem er menschliche Krisen und die möglichen Auswege daraus beschreibt. Schließlich bedient er sich, um dem Leser entgegenzukommen, auch des modischen Psychojargons mit den bekannten, zu Klischees tendierenden Stichworten der Identifikation und der Selbstverwirklichung. Mir scheint, daß er in dieser Hinsicht an den Zeitgeist größere Konzessionen gemacht hat, als nötig gewesen wären. Es ist der fragwürdigste Punkt seiner Studie, doch kann er ihren Nutzen und ihr Verdienst nur unwesentlich schmälern.
Bieris Freiheitsbuch ist so weit verbreitet, daß man fast voraussetzen kann, daß sein Konzept bekannt ist. Deshalb sollen hier nur die wichtigsten Punkte in Erinnerung gerufen werden.
Zunächst ist aber ein Wort zur Titelformulierung: Das Handwerk der Freiheit nötig, weil sie ein wenig ungewohnt klingt. Sie erinnert an den Titel des Tagebuchs von Ignazio Silone Das Handwerk des Lebens und an den deutschen Titel der Wittgenstein-Biographie von Ray Monk Das Handwerk des Genies(1993), The Duty of Genius. Bieri will mit seiner Formulierung sagen, daß die Willensfreiheit nicht etwas ist, womit man als Person einfach ausgestattet ist, sondern daß man sie bilden und entwickeln kann.
Wie in der Tradition üblich, unterscheidet er zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit. Ihm kommt es aber auf den Nachweis an, daß wir nur dann von einem freien Tun und einem freien Willen sprechen können, wenn die Handlung und der Wille auf eine bestimmte Weise bedingt sind.
Eine erste Bedingung kommt ins Spiel, wenn wir eine menschliche Handlung von einem bloßen körperlichen Geschehen oder einer reinen Bewegung unterscheiden: unser Tun muß durch einen Willen geprägt sein, "damit wir uns als Urheber des Tuns verstehen können" (165).
Eine zweite Bedingung gilt es bei der Definition des Willens zu beachten, den Bieri im Anschluß an Harry G. Frankfurt als "handlungswirksamen Wunsch" auffaßt (165). Der Gedanke ist natürlich keine Entdeckung Frankfurts, er kommt vielmehr der Auffassung Schopenhauers nahe, der den Wunsch als Willen im Werden, und den auf die Tat festgelegten Willen als Entschluß definiert hat (Schopenhauer 535). So muß man den Willen, insofern er die Bedingung eines Wunsches ist, als etwas Bedingendes auffassen.
Eine dritte Bedingung findet sich darin, daß es bei einem handlungsleitenden Willen immer um einen bestimmten Willen geht, der durch äußere Umstände begrenzt ist. Die Handlungsfreiheit besteht also darin, daß man im Sinne des definierten Willens tun und lassen kann, was man will.
Eine vierte Bedingung betrifft die Willensfreiheit, die nichts anderes bedeutet als Freiheit der Entscheidung. Entscheidungen aber kommen unter Einfluß von Gründen und Überlegungen zustande. Und nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, können wir von der "Urheberschaft von Tun und Wollen" sprechen: Sie besteht darin, daß wir in der Ausübung der freien Entscheidung zum Urheber und Autor von Willen und Tun werden, und wenn wir die Urheberschaft vermissen, so liegt es daran, daß es uns mißlingt, als Denkende und Urteilende Einfluß auf unser Wollen und Tun zu nehmen. Freiheit in diesem Sinn ist nicht nur mit Bedingtheit verträglich und braucht sie nicht zu fürchten; sie verlangt Bedingtheit und wäre ohne sie nicht denkbar. (166)
Soweit in groben Zügen Bieris Konzept der bedingten Willensfreiheit. Er verteidigt es im Mittelstück seines Buches, indem er das entgegenstehende Konzept einer absoluten, unbedingten Willensfreiheit widerlegt. Die Diskussion der Einwände kann man nur als mustergültig bezeichnen und die Widerlegungen scheinen mir in den meisten Fällen überzeugend zu sein.
Auf Bieris Argumente will ich nicht im einzelnen eingehen, sondern nur hervorheben, daß er eine spezielle, nämlich die von ihm genauer umrissene These der absoluten Willensfreiheit als unstimmig und unhaltbar zurückgewiesen hat. Offenbleibt, ob es nicht andere Theorien der unbedingten Freiheit gibt, die sich vernünftig vertreten lassen. Doch will ich das Thema nicht weiter verfolgen, sondern ein paar Anmerkungen zu einigen Punkten machen, die mir bedenklich erscheinen.
1. Bieri drückt sich gewöhnlich allgemeinverständlich aus, ohne von den Standards begrifflicher Genauigkeit abzuweichen. Ja, im Falle des zentralen Begriffs des Willens hält er sich so strikt an die von ihm gewählte Terminologie, daß manche Sätze wie eine Übersetzung aus einer fremden Sprache klingen. Er verwendet den Ausdruck ‚Willen' nur in einer Bedeutung und er gebraucht das Wort praktisch in allen gegebenen Fällen, ohne die vielen dafür sich anbietenden Synonyme in Betracht zu ziehen. Nach seiner Definition ist Wille ein handlungswirksamer Wunsch, er versteht Wunsch als Gattungsbegriff, Wille als entsprechenden Artbegriff und Handlungswirksamkeit als differentia specifica. Wille ist also ein besonders gearteter Wunsch. Was begrifflich einleuchtet, läßt sich aber sprachlich nicht so plausibel wiedergeben, da man von ‚Wunsch' ohne weiteres den Plural bilden kann, nicht aber von ‚Wille'. Ähnliches gilt vom unbestimmten Artikel, so daß etwa Sätze wie die folgenden ein wenig gezwungen klingen: Diese Erfahrung, daß einem ein Wille, auch wenn er formal gesehen ohne Zweifel der eigene ist, fremd vorkommen kann, ist von größter Bedeutung (102). Oder: Weitergehen werde ich erst, wenn ich den vergessenen Willen und den alten Sinn wiedergefunden habe (34) — hier wäre ‚Absicht' die passendere Wortwahl. Doch spricht er nur ganz selten von Absicht und durchweg vermeidet er die naheliegenden Synonyme: beabsichtigen, vorhaben, zu tun gedenken u.ä.
2. Hinter Bieris meist leserfreundlichem, allgemeinverständlichem Sprachgebrauch stehen fest umrissene philosophische Überzeugungen, die in manchen Fällen dogmatischer Art sind. Wie Gilbert Ryle verwirft er die Rede von Willensakten, während etwa Habermas, Tugendhat und Popper den Begriff ohne Bedenken gebrauchen und obwohl er selbst dem Willen einen "zeitlichen Spannungsbogen" zuschreibt (56), ihn also zeitlich qualifiziert, was mit dem Begriff des Aktes durchaus verträglich wäre. Auch beruft er sich auf eine Arbeit, die vom Akt der Entscheidung spricht, was sich mit Willensakt im normalen Sprachgebrauch meist deckt.
3. Wenn er behauptet, der Wille sei "nicht ein separater Posten im seelischen Inventar" (39), setzt er seine eigene Definition des Willens voraus, denn einen handlungswirksamen Wunsch kann man kaum als seelisches Attribut oder seelische Fähigkeit bezeichnen. Insofern ist seine Behauptung begründet. Doch verneint er darüber hinaus auch die These, daß es, kantisch gesprochen, ein Begehrungsvermögen gibt, dem man in der philosophischen Tradition und auch umgangssprachlich den Willen zurechnet — in Analogie zu Verstand. Freilich haben wir es hier mit einem anderen Begriff des Willens zu tun. Und da ist es durchaus einleuchtend, daß man von ‚Wille' keinen Plural bilden kann; das gleiche gilt von ‚Verstand'.
4. Grundlegend für Bieris gesamte Argumentation ist das, was er über den Zusammenhang von Begriff und Erfahrung ausführt: Wenn es richtig ist, daß wir alle Begriffe, auch die philosophisch interessanten, erfunden haben, um Erfahrung möglich zu machen, dann gibt es einen Sinn, in dem man sagen kann: Es gibt das, wovon diese Begriffe handeln. Es wäre mehr als sonderbar, wenn sich von Begriffen, die wir gemacht haben, um uns in der erfahrbaren Welt gedanklich zurechtzufinden, herausstellen würde: Sie treffen auf nichts zu. Wenn wir also sagen müßten: So etwas gibt es nicht. (155) Wäre es nicht genauer zu sagen, wir haben die Begriffe erfunden, um die Erfahrung beschreiben zu können, oder, daß es keine Beschreibungen von Beobachtungen geben kann, die nicht Begriffe und Theorien enthalten? Ist Erfahrung als eine theoretische Konstruktion aufzufassen und müssen wir deshalb nicht auch das, was wir wirklich nennen, als theoretisches Konstrukt betrachten?
Jedenfalls steht für ihn fest, daß es innere Erlebnisse, psychische oder mentale Erfahrungen gibt, und daß es nur darauf ankommt, sie richtig zu verstehen, das heißt in angemessenen Begriffen wiederzugeben. Ideen aber, worunter er immer Vorstellungen und Begriffe versteht, oder Gedanken, die gehaltlos oder in sich nicht stimmig sind, sind nach seiner Lesart überhaupt keine Ideen und Gedanken. Das nimmt sich nach den Diskussionen, in denen er sich seitenlang mit diesen Ideen, die keine sind, beschäftigt hat, ein wenig seltsam aus. Denn um feststellen zu können, daß sie gehaltlos und inkohärent sind, muß er sie doch verstanden haben. Und verstehen kann man doch nur etwas, was Sinn hat. Plausibler wäre von falschen Gedanken oder Theorien zu sprechen. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einem Restbestand jener empiristischen Tradition der Philosophie zu tun, deren fundamentales Ziel die Bestimmung eines Sinnkriteriums war.
5. Man könnte Bieris Theorie der bedingten Willensfreiheit als psychischen Determinismus bezeichnen, und anerkennen, daß ihm der Nachweis gelungen ist, daß sich unsere innere Erfahrung mit den beschriebenen Bedingungsbeziehungen vereinbaren läßt. Eine ganz andere Frage ist aber, ob ihm auch der Nachweis gelungen ist, daß sich unsere Freiheitserfahrung ebenfalls mit dem physischen Determinismus vereinbaren läßt, wie er behauptet. Habermas hat diese Frage mit guten Gründen verneint. Bieri schreibt nämlich: Das Nachdenken über die Alternativen ist insgesamt ein Geschehen, das mich, zusammen mit meiner Geschichte, am Ende auf einen ganz bestimmten Willen festlegen wird. Das weiß ich, und es stört mich nicht […] (287). Dagegen wendet Habermas ein, daß einen dann der bedingte Charakter der Entscheidung nicht stören müsse, wenn man als Subjekt am Prozeß der Überlegung beteiligt ist, nicht jedoch dann, wenn die Entscheidung durch ein neuronales Geschehen determiniert würde, "an dem ich nicht mehr als Stellung nehmende Person beteiligt bin: Es wäre nicht mehr meine Entscheidung" (Habermas 162). Habermas' eigene Lösung des Problems soll hier nicht diskutiert werden; der zitierte Einwand ist jedenfalls stichhaltig.
Als Fazit muß man also festhalten, daß es Bieri nicht gelungen ist, einsichtig zu begründen, daß Willensfreiheit und naturgesetzlicher Determinismus in irgendeinem einsichtigen Sinn miteinander verträglich seien. Was bei ihm fehlt, ist eine nähere Erklärung dessen, was man unter physischem oder physikalischem Determinismus zu verstehen hat. Und er beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob es eine Einwirkung der psychischen Welt auf die physikalische Welt geben kann. Letztlich kann er den Verdacht nicht ausräumen, daß unser Freiheitserlebnis angesichts des physischen Determinismus nur eine Selbsttäuschung ist.
6. Bieri hatte nicht die Absicht, das Leib-Seele-Problem zu erörtern. Dennoch gibt er gelegentlich klar zu erkennen, welche Position er in diesem philosophischen Streit einnimmt. Er spricht sich eindeutig gegen den Dualismus zweier Substanzen, Körper und Seele, aus und vertritt statt dessen einen Dualismus der Aspekte oder Hinsichten, wobei er offenbar diese Aspekte auf die Person oder den Menschen als psychophysisches Wesen bezieht. Er sagt nämlich, daß wir uns "in verschiedenen Hinsichten betrachten könnten, in einer physiologischen und einer psychologischen" (258). Diese Auffassung aber kommt der elementaren Denkfigur Spinozas nahe, wonach Geist und Materie, Denken und Ausdehnung, keine Substanzen, sondern Attribute oder Aspekte des Verstehens einer Substanz, der Natur, seien (Popper 114). Während für Spinoza der Bezugspunkt der Aspekte die Natur ist, bezieht Bieri sie auf die Person. Daß er ‚Person' in diesem Beziehungskomplex als Basisbegriff annimmt, ist eine Auffassung, die er mit Peter Strawson teilt.
7. In seiner Darstellung bemüht sich Bieri um eine ungewöhnliche Klarheit. Das heißt aber nicht, daß man ihm in allem zustimmen könnte. Aufmerken läßt in einigen Fällen, wie er die Pronomen der ersten Person verwendet, seine Ich-Terminologie, die bisweilen von dem normalen Sprachgebrauch abweicht. Sich als Urheber eines sinnvollen Tuns erfahren, heißt also, sich in seinem Verhalten als auf eine bestimmte Weise bedingt erfahren (165) — der Satz ist wenig einleuchtend, denn wenn ich es bin, der mein Verhalten bestimmt, wenn also von einer Selbstbestimmung die Rede ist, kann man schlecht sagen, durch die Selbstbestimmung würde ich bedingt. Auch wenn er die Gegenposition beschreibt, ist seine Syntax nicht immer überzeugend: Der freie Wille, der uns in Bewegung setzt, wird seinerseits von nichts bewegt und ist also ein unbewegter Beweger (222). Die Beschreibung der bestrittenen Theorie scheint mir nicht ganz fair und angemessen, denn nicht der freie Wille setzt uns in Bewegung, sondern wir wählen aufgrund gewisser Überlegungen frei, was wir tun wollen. Als unbewegten Beweger könnte man allenfalls die Person bezeichnen, nicht den Willen.
Erklärungsbedürftig ist des weiteren eine Aussage, die den Kern von Bieris Theorie der inneren Erfahrung betrifft: Das Entscheiden ist dasjenige Geschehen, in dem ich in der Rolle des Urteilenden auf mich in der Rolle des Wollenden Einfluß nehme. […] Ich mit meinem bedingt freien Willen bin dieses Geschehen. (260) Daß der Entscheidungsprozeß ein Geschehen ist, leuchtet unmittelbar ein, nicht jedoch, daß ich durch die Entscheidung auf mich als Wollenden Einfluß nehme; vielmehr wähle oder entscheide ich, was ich tun will; ich lege bei existentiellen Entscheidungen fest, wie mein Leben aussehen soll. Genau genommen, nehme ich nicht auf mich Einfluß, sondern auf mein weiteres Leben.
8. Mit der bisweilen eigenwilligen Ich-Terminologie hängt wohl auch zusammen, daß Bieri bereitwillig den modischen Psycho-Jargon der Selbstverwirklichung und der Identifizierung übernimmt (cf. Die fragwürdige Identifikation). Er spricht gelegentlich davon, daß man sich mit seinem Willen oder seinem Wunsch identifiziere, doch weiß er, daß diese Redeweise nach einer näheren Erklärung verlangt. Aber warum gebraucht er überhaupt diese Wendung? Warum nicht einfach sagen, daß man einen spezifischen Wunsch oder etwa einen Herzenswunsch verwirklichen möchte? Und dann muß man lesen, was hochgradig gekünstelt und mißverständlich klingt: Ein Selbst zu haben, bedeutet mit sich selbst die Erfahrung einer Kontinuität zu haben (412). Was er unter dem 'Selbst' versteht, entspricht ungefähr dem, was man sonst die qualitative Identität einer Person nennt, bei der es um die elementare Frage geht, was für ein Mensch man sein will. Die Terminologie des substantivierten ‚Ich', als Synonym für den selbstbewußten Geist, ist problematisch genug, und Bieri macht von ihr auch keinen Gebrauch, weil er den Primat des Begriffs der Person annimmt. Statt dessen führt er den noch fragwürdigeren Terminus des substantivierten ‚Selbst' ein. Ich kann darin keinen vernünftigen Sinn erblicken, sondern nur eine unnötige Konzession an eine psychologische Modebewegung.
9. Eine bewundernswürdige Stärke des Buches besteht darin, daß die philosophische These durch breit ausgeführte Beispiele veranschaulicht wird. Allerdings muß man ein mißglücktes Beispiel deshalb erwähnen, weil es auf eine skandalöse Moralauffassung hinausläuft. Bieri beschreibt den Fall einer widerwilligen Entscheidung, den konstruierten Fall eines Chefs der Résistance, der seine Geliebte erschießt, damit sie den Besatzern keine Geheimnisse der Gruppe verraten kann. Das Beispiel entspricht nicht ganz dem sonstigen intellektuellen Niveau der Arbeit; selbst in mittelmäßigen Kriegsromanen wird dieses moralische Dilemma differenzierter, realitätsnäher und sachgemäßer beschrieben und beurteilt als in diesem philosophischen Traktat.
Zum Abschluß sei ein Gedanke Strawsons erwähnt: Die Metaphysik hat eine lange und berühmte Geschichte hinter sich, und es ist daher unwahrscheinlich, daß in der deskriptiven Metaphysik irgendwelche neuen Wahrheiten zu entdecken wären. […] Wenn es keine neuen Wahrheiten zu entdecken gibt, sind alte wiederzuentdecken. Dabei komme es für den Philosophen darauf an, daß, was seine Vorläufer gedacht haben, "in seinen eigenen zeitgebundenen Begriffen neu" zu denken (Strawson 11). Ich will nun aber nicht auf die lange Vorgeschichte des von Bieri behandelten Problems hinweisen, sondern mit Popper daran erinnern, daß die Thesen des Determinismus und des Indeterminismus metaphysische Thesen sind, über die man zwar rational diskutieren, die man jedoch nicht wie wissenschaftliche Theorien widerlegen kann. Diese Auffassung gleicht bis auf einen Unterschied der These Kants. Für ihn sind weder die Freiheit noch die Naturnotwendigkeit Erfahrungsbegriffe. Während aber die Freiheit "nur eine Idee der Vernunft ist, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist," glaubt er, daß es sich nachweisen läßt, daß die Naturnotwendigkeit die Realität bestimmt (Kant 92). Er hält aber, wie man hinzufügen muß, den naturgesetzlichen Determinismus deshalb für erwiesen, weil er von der Wahrheit der Newtonschen Physik überzeugt war. — Manche Diskussionen über Willensfreiheit versus Determinismus sind deshalb so verwirrend und unfruchtbar, weil sowohl Fachwissenschaftler, z.B. Neurologen, wie auch Philosophen dazu neigen, den logischen Status ihrer Behauptungen falsch einzuschätzen.
Und zuletzt sei noch an einen berühmten, als goldenes Buch verehrten Klassiker der Philosophie hingewiesen, der das Genre der philosophischen Lebenshilfe begründet und der Gattung den Namen gegeben hat. Auch in ihm geht es um den uralten Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit: De consolatione philosophiae, Trost der Philosophie, von Boethius.
Jürgen Habermas, Freiheit und Determinismus. In: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt 2005.
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werke IV, hg. W.Weischedel. Darmstadt 1966.
Karl R. Popper, John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn. Dt. W. Hochkeppel. München 1989. (Das Motto von Epikur stammt aus diesem Buch.)
Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens. Werke III, hg. W.Löhneysen. Darmstadt 1980.
Peter Frederick Strawson, Einzelding und logisches Subjekt (Individuals). Dt. F. Scholz. Stuttgart 1972.