Rez.: Dörte Hansen, Zur See. Roman. München 2022.
Ein Roman über eine Nordseeinsel, „irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ (S.10), über das schwer zu bändigende Meer, den alles beherrschenden Wind, die brütenden und schreienden Seevögel und die kuriose Familie Sander, Nachfahren von Walfängern und Grönlandfahrern. Ein Heimat- und Familienroman, ein wehmütiger Blick zurück auf das harte, gleichsam unverfälschte Inselleben früherer Zeiten, geprägt von Fischfang und monatelanger Seefahrt.
Unter der Hand der Autorin werden nahezu alle Leute friesischen Schlags zu Originalen, wenn nicht zu Sonderlingen, dann doch zu eigenwilligen und eigensinnigen Individuen mit den seltsamsten Schicksalen.
Hanne Sander, die Mutter der Familie, machte im Sommer ihr Haus zu einer Pension für Gäste, was die drei Kinder ins Abseits drängte und den Vater, Jens, für zwanzig Jahre ganz aus dem Haus vertrieb. Er wurde Vogelwart auf einem menschenleeren Inselchen und danach Tierpräparator. Ryckmer Sander ist der älteste Sohn, gelernter Schiffsmechaniker, Exkapitän, Decksmann auf der Fähre, Trinker, schließlich Seebestatter (S.106). Eske Sander ist Altenpflegerin, eine lesbische Frau mit Ganz-Körper-Tätowierung. Henrik, der jüngste Sohn, als Schüler ein Zappelphilipp, wird barfüßiger Lokalkünstler, der aus Strandgut Skulpturen ohne Titel herstellt, begehrte Andenken für Touristen. Inselpastor ist Matthias Lehmann, seine Frau hat ihn verlassen und er verliert seinen Glauben, wenn man das klägliche Christentum, das er amtlich vertritt, überhaupt einen religiösen Glauben nennen kann. Ein weiteres Original ist Klara Loof, eine Seemannswitwe, die ihren verfetteten Dackel im Babygurt mit sich trägt.
Die Autorin schildert recht anschaulich die alltäglichen Episoden und die Zustände des Insellebens in einer Kleinstadt während eines Jahres. Das große Ereignis des Romans ist ein gestrandeter Pottwal, ein Höhepunkt der Handlung. Eindringlich sind auch die Naturschilderungen, die Beschreibung der tagelangen Stürme und der Vogelwelt.
Dagegen fällt die Zeichnung des Inselpastors ein wenig zweideutig aus. Es ist von seinem „Seelen-Fast-Food“ für die Gäste die Rede (S.122) und davon, daß er seine alten Predigten „recycelt“ (S.130) – eine durchaus kritisch zu verstehende Beschreibung der geistlichen Tätigkeit. Über die Seetaufe einer Frau heißt es dann aber: „Es war für alle eine bewegendes Erlebnis, ein Moment der Gnade“ (S.220), was man wohl nur als frommen Kitsch bewerten kann. Schließlich wird von einer Romanperson „das ozeanische Gefühl“ als Religionsersatz angeboten (S.230), eine Schilderung, die wohl als sachliche Wiedergabe der zeitgenössischen pseudo-religiösen Sentimentalität zu verstehen ist.
Was nun die gegenwärtigen Verhältnisse auf der Insel angeht, so wird ihr unaufhaltsamer Wandel mit einem leisen Ton der Klage und der Kritik beschrieben: der Wandel der reetgedeckten Häuser zu wertvollen Immobilien für Fremde, der Wandel von der Fischerei zu Schaufahrten für Touristen, der Wandel der vertrauten Sommergäste zu nörgelnden Touristen: „Die Leute kleiden und benehmen sich nicht mehr wie Gäste, und sie werden auch nicht mehr behandelt wie die Gäste von früher, wie Verwandte oder gar wie Freunde. Eher so, als wären sie nur Nutzvieh.“ (S. 189)
Die Fischer, die ehedem nur in ölverschmierten Overalls zu sehen waren, „kleiden sich nun wie die Fischer in den Fernsehserien“ (S.241). Über dem ganzen Inselbetrieb liegt der Verdacht des Unechten, des Künstlichen und Gestellten im Dienst des billigen und bequemen Kommerzes: „Fischer, die sich für die Touristen Fischerhemde kaufen, Trachtenfrauen, die für die Fremden tanzen, Shanty-Männer, die wie Matrosen singen und noch nie in einem Sturm gesegelt sind. Hier stimmte nichts …“ (S.244).
Es spricht für die Autorin, daß sie ihre Figuren so ernst nimmt, als wären sie echte Personen. Ihre Schwäche ist jedoch ihre Sprache und ihr Stil. Das Perfekt von „zurückwinken“ ist nicht „zurückgewunken“ (S.248), sondern „zurückgewinkt“. Wer vom Land ins Meer schwimmt, ist nicht „herausgeschwommen“ (S.246), sondern „hinausgeschwommen“. „Sich beim Anblick eines Pottwals erschrecken“ ist nicht nur falsch, sondern unsinnig, da man sich nicht selbst einen Schrecken einjagen kann (S.132).
Ein Lieblingsausdruck der Autorin ist „sich anfühlen“, was hinsichtlich der Haut eines Wals das passende Wort ist, nicht jedoch bei einem abstrakten Gegenstand wie der Einsamkeit, die sich nicht anfühlt, sondern gefühlt wird (S.120). Ebenso unsinnig ist der Vergleich „sich wie eine Minusrechnung fühlen“ (S.120). Rätselhaft bleibt die Metapher, daß der Wind ihn „zu einem Hochlandrind toupiert“ habe (S.116). Was man sich wohl unter der „Ruhe eines Drachenbändigers“ vorzustellen hat, hat uns die Autorin nicht verraten (S.68), was ein Märchendichter durchaus hätte erklären können. Die See ist allenfalls ein Lieferant, keine „Lieferantin“ (S.89), da sie kein natürliches, sondern nur ein grammatisches Geschlecht hat und nur in Mythen oder im feministischen Jargon ein Lebewesen mit natürlichem Geschlecht ist.
Unerklärt bleibt das Wort „Fluke“, das die waagerechte Schwanzflosse des Wals bezeichnet. Ich vermute, daß die Autorin das Wort und seine Bedeutung aus einem Lexikon erfahren hat; leider hat sie die Bedeutung den Lesern aber nicht mitgeteilt (S.135). Wie anders dagegen Melville, der ebenso offen wie stolz bekennt, "in der Weisheit der Bibliotheken" gebadet zu haben und in seinem enzyklopädischen Mobby Dick ein Kapitel, das 32., über die "Zoologie der Wale" eingefügt hat. Freilich ist hier nur von dem waagerechten Schwanz des Wals, als spezifisches Merkmal, die Rede.
Es fällt auf, daß in dem Roman ein paar völlig unbekannte Nordseesprachen erwähnt werden, aber praktisch keine plattdeutschen Wörter oder signifikante Redewendungen, statt dessen regelmäßig englische Schlagertexte und englische Gedichtverse.
Es entspricht jedoch nicht der feinen englischen Art, einen wörtlichen Satz von Franz Kafka als eigene Weisheit auszugeben. Von dem Geistlichen heißt es: „Dann braucht es gar nicht mehr die Axt für das gefrorene Meer in ihnen, dann reicht dem Inselpastor schon die Feile“ (S. 25). Kafka schrieb am 27. Januar 1904 an seinen Freund Oskar Pollak: „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Der Satz ist unter Literaturkennern berühmt, aber doch keine Wendung des allgemein bekannten Wortschatzes, sondern hier ein Plagiat oder, höflicher gesagt, ein verstecktes Zitat.
Nun, eine literarische Axt, will sagen: ein gewaltiges, existentiell ergreifendes, tiefschürfendes Opus, ist dieser Roman ganz sicher nicht geworden — wenn man von den weltanschaulichen Passagen absieht, aber ein menschenfreundlicher Unterhaltungsroman, zu lesen bei Gelegenheit eines Urlaubs in Jütland, Friesland oder Zeeland.