Josef Quack

Lyrik im Wartestand

Über: Peter Engel, In Erwartung der Zeichen. Neue Gedichte.
Edition Hammer + Veilchen 2020.



In „Faust II“ schließt der dritte Akt mit der seltsamsten Regieanweisung, die wohl jemals in einem Drama zu finden war. Es heißt da: „Phorkyas richtet sich riesenhaft auf, um, insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren“. Nach dieser Vorschrift sollte also der Schauspieler eine Haltung einnehmen, die wortlos zum Ausdruck bringt, daß er fähig wäre, noch etwas Wichtiges oder Abschließendes zu dem gerade Erlebten zu sagen. Dies ist fraglos eine der verschmitztesten Stellen bei Goethe und ich habe mich manchmal gefragt, wie denn die pantomimische Geste des Schauspielers aussehen müßte, die die Intention eines möglicherweise erforderlichen Kommentars anschaulich vorführen könnte. In grammatischer Hinsicht eine der stärksten und wunderlichsten Potentialis-Formen der mir bekannten Literatur.

An dieses merkwürdige dramaturgische Ansinnen wurde ich erinnert, als ich Peter Engels neue Gedichtsammlung in die Hand bekam. Der programmatische Titel verweist darauf, daß die Texte von etwas Unausgesprochenem handeln, sie haben vorbereitenden oder provisorischen Charakter, es sind dichterische Ankündigungen von zu schreibenden Gedichten, sie verraten offenkundig ein Bewußtsein der Bescheidenheit, die freilich auch ironisch zu verstehen ist. An diesen Formulierungen ersieht man, daß es nicht leicht ist zu paraphrasieren, was in den Gedichten ausgesagt wird. Es sind vielfach reflexive, metasprachliche Texte in Gedichtform, Überlegungen über eine mögliche oder ideale Poesie.

Was mit dem Titel der Sammlung gemeint ist, kommt am deutlichsten in einem Gedicht über den Wechsel des Wetters zur Sprache. Dabei wird der Naturvorgang allegorisch auf den poetischen Schreibvorgang bezogen. Im Klartext lassen sich dabei wohl zwei Gedanken namhaft machen. Es wird zunächst angedeutet, daß ein Autor auf Einfälle angewiesen ist, wenn er Gedichte schreiben will, d.h., daß er über ein Schreiben dieser Art letztlich nicht selbst bestimmen kann. Außerdem wird in dem Stadium des vorbereitenden Schreibens gewünscht, daß die Eingebung etwas Sinnvolles enthalten solle. Die Schlußstrophe von „Teils heiter, teils bedeckt“ lautet:

Warten auf Wind und auf Umbruch,
mitunter sogar tagelang,
dann leuchtet nur weißes Papier
und die Wolken sind düster,
schreiben sich hin wie Zeichen,
die etwas verkünden wollen.

Es dürfte klar sein, daß das Wort „Zeichen“ hier und im Titel der Sammlung zwei Bedeutungen hat. Es bezeichnet Mittel der Verständigung, verbale Zeichen, und natürliche Anzeichen, signifikante oder außerordentliche Naturerscheinungen, wie in der Redensart „Zeichen und Wunder“. Schließlich fällt auf, daß hier die Anzeichen mit verbalen Zeichen verglichen werden. Ein Zug der Variationsbreite der Bedeutung, der für viele Texte Engels charakteristisch ist.

Programmatisch ist sodann das Gedicht „Die Zeichen bleiben aus“, das eine Beobachtung, einen Imperativ und eine Vermutung enthält. Die Beobachtung besagt, daß kein unheilvolles oder übernatürliches Ereignis vorliegt, das uns Weisungen geben könnte, wir also auf uns selbst angewiesen sind: „Wir stehen uns selbst gegenüber“. Daraus aber ist zu folgern: „Kein Grund zur Verzweiflung, / sondern fürs Weitermachen“. Und das Gedicht schließt mit der Vermutung:

Die Zeichen bleiben aus,
oder wir erwarten sie
wieder mal an der falschen Stelle.

Die Verse sprechen zwar von Menschen im allgemeinen, doch ist evident, daß in erster Linie Dichter gemeint sind. Thematisch dürfte es sich wohl um einen der beredtesten Texte der Sammlung handeln. Es ist nämlich nicht zu viel gesagt, wenn man darauf aufmerksam macht, daß Engel mit dem Leitmotiv des Zeichens in der Poesie implizit einen ehrwürdigen Topos der Dichtung aufgreift, um ihn zu problematisieren oder gar in Frage zu stellen: der Dichter als Seher und die Dichtung als Weissagung.

Zur Kategorie der poetischen Reflexion über die Poesie gehören mehrere andere Gedichte. Das Thema ist ein durchgängiges Motiv bei Engel und auch ein Merkmal der gegenwärtigen Lyrik, wie denn überhaupt diese Gedichtsammlung thematisch und formal für die Situation der Lyrik heute symptomatisch ist. Sie verfährt bekanntlich oft metapoetisch, nähert sich im Verzicht auf Versmaß und Reim der Prosa an und ist sich bewußt, daß sie mit der großen Dichtung der klassischen Moderne, etwa eines Benn oder Brecht oder auch eines Celan, nicht zu vergleichen ist (cf. meine Gedanken über Die Rückschritte der Poesie dieser Zeit).

Von Engels Gedichten über den Schreibprozeß und von seinen Nachrichten „aus der Schreibwerkstatt“ will ich nur ein paar sprechende Zitate bringen. Die Parodie eines Sonettes betont den Abstand, den der Autor mit seinen Texten zu den traditionellen Formen der Poesie einhalten möchte. Deshalb die Nähe seiner Gedichte zur Prosa und es stellt sich die Kardinalfrage der regellosen Lyrik, worin sie sich denn noch von purer Prosa unterscheidet. Als Antwort lassen sich drei Momente nennen: ein sinnfälliger Zeilenumbruch, ein besonderer Rhythmus und eine ausdrucksstarke, betont metaphorische Sprache.

Viele Texte der Sammlung weisen diese Merkmale auf, doch kann man nicht verschweigen, daß es auch einige schwache Texte gibt, die sich von Prosa überhaupt nicht unterscheiden und der unpoetischen Alltagslyrik unseligen Angedenkens ziemlich nahekommen.

Von den geglückten Beispielen der reflexiven Kategorie fällt zunächst das Gedicht „Ich bin ein Indianer“ ins Auge. Es beschreibt mit der Metapher des Titels im einzelnen die Neugier, die Energie, die Aufmerksamkeit des glücklichen oder idealen Dichters und schließt mit den Worten:

Meine Gedanken sind Pfeile,
sie schnellen von meinem Herzen
und treffen genau ins Schwarze,
als Beute trage ich ganze
Sätze heim, voller Anschauung.

Dazu wäre zu bemerken, daß der philosophische Essayist E.M. Cioran, ein Meister der französischen Prosa, einmal schrieb, daß es in der modernen Literatur nichts Langweiligeres gebe als die pedantisch ausgeführte Metapher. Engels Gedicht ist eine ausgeführte Metapher, aber keineswegs langweilig, sondern amüsant, was heißt, daß man mit Geist und Witz in der Dichtung — d.h. in der Kunst und nur in der Kunst — eben jede Regel überwinden kann.

Das Schlußgedicht des Bändchens beschreibt die Stim­mung eines geglückten Tages, an dem die Gedanken des Dichters:

die Gestalt annehmen
von durchsichtigen Sätzen,
worin alles gesagt ist.

Die Verse erinnern an eine programmatische Aussage, die sich in der Sammlung Rückwärts voraus (2000) findet und lautet:

Gedichte sind Suche
nach einem Satz,
in den alle anderen
münden.

Die beiden Zitate belegen, daß Engel sich einem Ideal der lyrischen Dichtung verschrieben hat, das alles andere als bescheiden ist. Es deckt sich nahtlos mit dem Ideal der traditionellen Poesie: Dichtung als konzentrierte, bedeutungsvolle, aussagekräftige, inhaltsschwere, wohlgestaltete Redeform.

Soviel zu den Reflexionsgedichten oder wenn man will, zu den „abstrakten“ Gedichten der Sammlung. Sie enthält aber auch „gegenständliche“ Gedichte, die ihren eigenen Charme haben. So vor allem das „Blattballett“, neben der Sonette-Parodie das zweite Gedicht in Reimen, ein Naturgedicht, das in einem flüssig-tänzerischen Tonfall und in ungezwungenen, gleichsam natürlichen Reimen den herbstlichen Fall der Blätter eines Straßenbaums sinnfällig abbildet.

Daneben wäre „Augenspeise“ zu nennen, ein Lob der Freude, die Gemälde dem unersättlichen Betrachter bereiten, ein Text mit einem beschwingten Rhythmus, in formaler Hinsicht neben dem „Blattballett“ wohl das beachtlichste Gedicht der Sammlung, auch der persönlichste Text, die Erfahrung und Leidenschaft des Autors wiedergebend, eines Kunstkritikers und Kunstsammlers.

Davon zeugen auch die Texte über Künstler und ihre Bilder, so die geistreiche Beschreibung eines Bildes von „Magrittes Pfeife“ oder die biographischen Verse über Tischbein und Arno Schmidt, deren Namen aber nicht genannt werden. Es sind quizartige Texte, die die Mitarbeit des Lesers erwarten, dialogische oder gesellige Verse, die sich von den Monologen des Dichters durchaus angenehm abheben. Die stichwortartige Lebensbeschreibung des ungenannten Tischbein und ähnliche Stücke erinnern übrigens im Duktus an Benns bekanntes Gedicht über Chopin.

Schließlich wäre nicht zu vergessen, daß diese Samm­lung pünktlich zum 80. Geburtstag des Autors erschienen ist. Ad multos annos.

J.Q. —  8. Okt. 2020

©J. Quack


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