Josef Quack

Glosse zu Fritz Sterns Deutschlandbild





Die Wahrheit wird hilfreich sein.

S. Baron

Fritz Sterns Erinnerungen Fünf Deutschland und ein Leben (2007) wurden bei ihrem Erscheinen von seinen Fachkollegen, den Historikern, von Politikern und Journalisten verdientermaßen sehr gelobt und zur Lektüre empfohlen. Dem möchte ich ein paar Punkte hinzufügen, die mir beim Lesen aufgefallen sind, einiges, was hervorzuheben, und einiges, was zu korrigieren wäre.

Bekanntlich ist Sterns bedeutendste historische Arbeit seine große Monographie über Bismarck und Bleichröder, an der er sechzehn Jahre gearbeitet hat. Bleichröder war Bismarcks Bankier, sein Vertrauter und Ratgeber, der für ihn auch geheime politische Missionen ausführte, ein „patriotischer Parvenü“, der reichste Mann Deutschlands, und Stern machte sich Sorgen, daß dieses „abträgliche Bild“ eines deutsch-jüdischen Plutokraten den Antisemitismus fördern oder bestätigen könnte. Er beriet sich über diesen Punkt mit Salo Baron, einem Kenner der jüdischen Geschichte, der mit Worten, die der Wahrheit unter allen Umständen den Vorrang geben, sagte, „daß das Buch den Juden schaden könnte, aber ‚die Wahrheit wird hilfreich sein‘“ (S. 377).

Stern kommt das Verdienst zu, in einer weiteren Arbeit die Frage erörtert zu haben, wie der Nationalsozialismus überhaupt eine politische Versuchung sein konnte. Er gab seiner Meinung Ausdruck, „daß dem Triumph des Nationalsozialismus etwas Unerklärliches anhaftet … Wie war es möglich, daß Millionen Menschen einen Mann und eine Bewegung, deren Niedertracht und Bösartigkeit so unverkennbar waren, als Erlösung empfinden konnten — und Hitler als Abgesandten der Vorsehung? Ein großer Rest, der nicht zu klären ist, wird, denke ich, immer bleiben.“ (S.543) Stern bezieht sich auf die überzeugten Nationalsozialisten und hat natürlich völlig recht.

Eine andere Sache ist der anfängliche Erfolg des Regimes. Hier kann man gar nicht stark genug betonen, daß Hitler mit seiner Partei 1933 nur an die Macht kommen konnte, weil die demokratischen Parteien total versagt hatten. Sie haben alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Damit meine ich die tragenden Parteien der Weimarer Republik; sie waren nicht willens und nicht in der Lage, 1930 eine tragfähige Regierung zu bilden. Sie waren angesichts der Wirtschaftskrise völlig ratlos, Brünings rigorose Sparpolitik verstärkte die Krise, statt sie zu meistern. Nicht zu vergessen, daß der senile Hindenburg, der zwar verfassungstreu handelte, aber keineswegs republikanisch gesinnt war, der Präsidentschaftskandidat der demokratischen Parteien war. Nur durch ihr Versagen ist Hitler an die Macht gekommen.

Damit wird die Beobachtung von Sebastian Haffner bestätigt, daß Hitler sowohl seine innen- wie seine außenpolitischen Erfolge immer nur der Schwäche oder dem unterlassenen Widerstand seiner politischen Gegner verdankt habe. Daß er in den Anfangsjahren seines Regimes weithin Zustimmung fand, lag natürlich an den unbestreitbaren wirtschaftlichen und außenpolitischen Erfolgen. Überhaupt ist zu diesem Thema immer noch Haffners Buch Anmerkungen zu Hitler die beste Arbeit.

Was Stern später dagegen über die Zustände und Befindlichkeit in der DDR ausführt, ist keineswegs unanfechtbar. Er schreibt über die ostdeutschen Flüchtlinge: „Für die Freiheit und die Chance wirtschaftlicher Verbesserung opferte man sein Zuhause und alles, was damit zusammenhing“ (S. 412). Zwei Seiten weiter registriert er die Beschwerden der DDR-Bürger: „Über Mangel wurde des öfteren geklagt, doch kaum jemand äußerte Sehnsucht nach Freiheit: weder nach Gedankenfreiheit noch nach Freizügigkeit“ — was den vorher genannten Motiven der Flüchtlinge eklatant widerspricht (S. 414).

Es widerspricht übrigens auch den Forderungen der Streikenden und Aufständischen vom Juni 1953. Über diesen Tag hielt Stern 1987 im Bundestag eine Rede, in der er behauptete, es sei „kein Aufstand für die Wiedervereinigung gewesen“ (S. 563). Diese Behauptung wurde von vielen Politikern und Zeitungen scharf kritisiert. Merkwürdig ist nun, daß Stern, wie man es von einem Historiker hätte erwarten können, seine These nicht mit Dokumenten und Aussagen von Zeitzeugen begründet, sondern die sich an seine Rede anschließende geschichtspolitische Debatte beschreibt. Doch räumt er, als echter Wissenschaftler, der berechtigte Kritik anerkennt, später ein: „Ich hätte nur ein bißchen weiterdenken müssen: freie Wahlen, wie die Ostdeutschen sie 1953 forderten, hätten nahezu mit Sicherheit der stalinistischen Herrschaft ein Ende gemacht und zur Vereinigung in der einen oder anderen Form geführt.“ (S. 570).

Daß es den Aufständischen vom 17. Juni 1953 nicht nur um die politische Freiheit, sondern tatsächlich auch um die Wiedervereinigung ging, wird durch Egon Bahr bestätigt, der damals Chefredakteur des amerikanischen Senders Rias war und am Tag danach kommentierte, mit dem Aufstand habe das „Ausland einen unwiderlegbaren Beweis für den Willen zur deutschen Einheit“ bekommen (Zu meiner Zeit 1998, 59f.).

Korrigieren muß man auch Sterns Aussage, daß Honecker in der Weimarer Endphase in der Kommunistischen Partei aufgestiegen sei — was ja schon wegen Honeckers Alter kaum stimmen kann (S. 425). Honecker wurde 1912 geboren, er trat 1929 dem Kommunistischen Jugendverband bei und wurde erst um 1930 Mitglied der Partei; bis 1933 nahm er an etlichen Schulungen teil, was man allenfalls eine Vorbereitung für einen möglichen Aufstieg nennen könnte.

Von Helmut Schmidt, mit dem er befreundet war, überliefert Stern das denkwürdige Wort, das den Mann aufs genaueste charakterisiert: „Ich gebe gerne unerbetene Ratschläge“ (S. 373).

Stern gibt mehrfach seine Abneigung gegen „die Metaphysik“, die er wohl für unwissenschaftlich hält, zu erkennen, was die Grenze seines Denkens anzeigt. Seiner Geschichtsschreibung liegt der Gedanke zugrunde, daß die politische Freiheit das höchste Ideal sei. Dieser Gedanke beruht aber auf der Annahme, daß die Ereignisse nicht deterministisch festgelegt sind: daß es dem Menschen also möglich ist, durch sein Handeln den Lauf der Geschichte zu bestimmen. Dies aber ist eine metaphysische These und zwar eine starke metaphysische These, was Stern aber offensichtlich nicht erkannt zu haben scheint.

Mit Erstaunen liest man schließlich, daß der Spiegel 1986 den Wortlaut eines Interviews mit Stern an acht relevanten Stellen geändert oder regelrecht verfälscht hatte. Stern hatte erklärt, Reagan wolle „Stärke zeigen, ohne ein neues Vietnam zu riskieren“. Im Spiegel hieß es dann: Präsident Reagan wolle Stärke zeigen, selbst „mit dem Risiko eines neuen Vietnam“ (S. 556). Das Magazin druckte den Protestbrief Sterns mit dem richtigen Wortlaut des Interviews erst ab, als es gerichtlich dazu verurteilt worden war. Augstein selbst hatte Stern eine Korrektur der Spiegel-Redaktion angeboten, doch ließ sich Stern verständlicherweise nicht darauf ein, sondern bestand auf der Veröffentlichung seines Widerspruchs.

Ganz gewiß kein Ruhmesblatt für den Spiegel. Man hätte doch nicht gedacht, daß das Magazin, bei all seinen offensichtlichen Schwächen, schon damals die Wahrheit tendenziös manipulierte. Gibt es in Deutschland überhaupt noch ein renommiertes Blatt, das nicht von einem Skandal heimgesucht und damit grundsätzlich unglaubwürdig geworden ist? Und dann wundern sich die Biedermänner, wenn von der Lügenpresse die Rede ist. Ein paar weltfremde und zudem illiterate Germanisten, die weder die Pressekritik von Karl Kraus noch die von Heinrich Böll kannten, haben vor einiger Zeit dann "die Lügenpresse" sogar zum Unwort des Jahres erklärt — was in den Medien verständlicherweise unwidersprochen blieb. Selbstkritik ist nun mal nicht die Stärke der Medienleute.

J.Q. — 22. Sept. 2020

© J.Quack


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